Frank Hille

Lebenswege - Eine ostpreußische Familiengeschichte


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er die Erfolge seines Sohnes weder kommentierte, noch in irgendeiner Form würdigte.

      Hanna Becker rauchte eine zweite Zigarette. Sie schwatzte mit den Krankenschwestern, die sich auch in die einzige schattige Ecke am Eingang zurückgezogen hatten. Die Frauen klagten über die Hitze und eine sagte, dass bei so einem Wetter und in dieser Jahreszeit regelmäßig viele Patienten versterben würden, das wäre so wie jedes Jahr davor. Ohne Eile rauchte Hanna Becker zu Ende, die letzten Jahre hatte sie nach ihrer Wahrnehmung unendlich viel Zeit damit verbracht den kranken Vater zu betreuen und es schien ihr im Moment unerheblich, ob sie in diesem Minuten bei ihm war, oder nicht. Im Haus war es erträglicher und beim Eintreten in das Zimmer sah sie das schweißnasse Hemd ihres Bruders der besonders unter der Hitze litt. Er erhob sich, sagte „ich muss mal auf Toilette“ und verließ das Zimmer mit einem eigenartigen Gang. Hanna sah ihm nach. Bei einem Sturz im Winter vor etlichen Jahren war er so unglücklich gefallen, dass das rechte Kniegelenk stark zertrümmert wurde, von da an hatte er ein steifes Bein und konnte sich noch schlechter bewegen, eine Operation war wegen seinem schwachen Herz nicht möglich gewesen. Ihr schien, als ob sich der Vater jetzt geregt hätte. Seine Arme erhoben sich mühsam zentimeterweise und der Atem ging auf einmal röchelnd, panisch drückte sie die Klingel und wenig später stand die Schwester im Zimmer. Nach einem Blick auf den Mann ging sie schnell heraus um den Arzt zu holen. Der Kopf des alten Mannes zuckte auf dem Kissen hin und her, die blicklosen Augen irrlichterten umher und die Hände verkrampften sich, mit einem letzten mühsamen Luftholen sank er zusammen und erschlaffte. Als der Arzt eintrat nickte Hanna Becker ihm nur zu, es gab nichts weiter zu sagen, und ob der Mann sie für gefühllos hielt, weil sie keine Tränen produzieren konnte, war ihr egal. Dieter Becker hatte den Arzt in das Zimmer gehen sehen und war schnell gefolgt.

      Peter Becker war am 17. Juni 2009 um 12 Uhr 52 mit 79 Jahren gestorben. Er hatte seinem Sohn ein letztes Mal gezeigt, dass er für ihn in seinem Leben nicht sonderlich wichtig gewesen war, schließlich war er wieder einmal unpünktlich gewesen und hatte sich undiszipliniert gezeigt.

      Der russische Jagdflieger flog die Kolonne zum zweiten Mal an, er wurde von einer weiteren MIG gedeckt, eine andere lauerte im Hintergrund. Seine Kameraden beobachteten den Luftraum, eigentlich war es nicht notwendig, denn die deutsche Luftwaffe war nur noch ein Schatten ihrer selbst und die wenigen Maschinen die sich sehen ließen wurden von den Russen schnell vom Himmel geholt. Das Flugzeug kurvte ein, und als der Pilot die Marschsäule des Flüchtlingstrecks überflog feuerten die Maschinengewehre ununterbrochen. Er sah, wie Trümmerstücke von den Wagen wegflogen, Pferde von den Garben zerrissen wurden und Menschen von den Geschossen durchsiebt umfielen, dann zog er die Maschine wieder hoch. Viele der Leute unter ihm hatten Zuflucht in den Straßengräben gesucht und die zweite Maschine machte sich daran, genau diese Stellen unter Beschuss zu nehmen. Die Kugeln mähten über die Leiber hinweg und schlugen in die Körper der Schutz suchenden ein. Wenn man in diesen Momenten von Trost sprechen konnte war es nur der, dass die großkalibrigen Geschosse viele der Getroffenen sofort töteten, andere jedoch wurden schwer verletzt und der Wundschock gab ihnen für einige Momente noch Ruhe vor dem bald einsetzenden furchtbaren Schmerz. Unter den Tragflächen der dritten Maschine hingen noch Bomben, die der Pilot in das Chaos unter ihm hinab warf und im ab Kurven sah er, dass die Explosionen genau in der Mitte der Kolonne lagen. Die Russen drehten ab und entfernten sich, über der Straße stiegen Rauchwolken auf und war das Gebrüll der Verwundeten zu hören.

      Der fünfzehnjährige Peter Becker kroch unter dem Wagen hervor, der ihm etwas Schutz geboten hatte. Die Geschosse der Flugzeugmaschinengewehre hatten ihre Spur links neben dem Gefährt in den Straßenbelag gegraben, und alles, was sich in dieser Spur befunden hatte, war der Wirkung des Maschinengewehrfeuers ausgesetzt gewesen. Er wusste wie das Ergebnis aussah. Bereits vor drei Tagen waren sie in so einen Angriff geraten, bei dem wenigstens zwei auf LKW montierte 2 cm Flak Vierlinge der Wehrmacht, die den Treck begleiteten, versucht hatten die Flugzeuge abzuwehren. Für die Russen war das kein ernstzunehmender Gegner gewesen. Die erfahrenen Piloten hatten sich getrennt und die leichten Geschütze aus verschiedenen Richtungen angeflogen und unter verheerendes Feuer genommen. Bald verstummte die erste Flak und er hörte die Schreie der Getroffenen, als auch die zweite Kanone ausgeschaltet war griffen die Maschinen unbehelligt die Flüchtenden an, viel Schaden konnten sie allerdings nicht mehr anrichten, da sie sich fast vollständig verschossen hatten. Peter Becker hatte bisher nur einen Toten gesehen, seinen Onkel, der vor zwei Jahren gestorben war, und als er einen letzten Blick auf ihn in dem offenen Sarg der in der Kirche seines Dorfes aufgebahrt war warf schienen ihm die Gesichtszüge des alten Mannes friedlich, so als wäre seine Seele jetzt im Himmel angekommen. Sein Sterben hatte er nicht miterlebt, aber seine Eltern sagten ihm, er wäre sanft eingeschlafen.

      Als die russischen Flugzeuge weg waren lief er zusammen mit seinem Freund Martin zu den Flakgeschützen in der Erwartung, etwas Interessantes zu sehen. Seine fehlende Phantasie hätte ihn besser davon abgehalten, denn als sie zu dem LKW kamen hing der Mann an der Kanone ohne Kopf in seinem Sitz und das Blut pulste noch aus seinem Hals. Ein anderer lag auf der Plattform des Fahrzeuges und wälzte sich schreiend hin und her, verzweifelt versuchte er die aus seinem aufgerissenen Bauch hervorquellenden Eingeweide mit den Händen in seinem Leib zu halten. Zwei weitere Soldaten lagen auf dem Rücken, die Geschosse hatten ihre Körper an vielen Stellen durchschlagen. Sie waren bereits tot und starrten mit blicklosen Augen in den Himmel. Peter Becker fühlte Übelkeit aufsteigen und erbrach sich heftig, Martin hielt sich die Ohren zu, um die furchtbaren Schreie des verwundeten Soldaten nicht hören zu müssen. Beide verließen den Ort schnellstens und flüchteten zu ihren Eltern.

      „Mama, wir müssen dem Soldaten helfen, er stirbt“ sagte Peter Becker atemlos.

      Seine Mutter sah ihn ausdruckslos an. Ihr Kleid war schmutzig. Wie die anderen hatte sie im Straßengraben Schutz gesucht und der Schock über das soeben erlebte hatte sie verstummen lassen. Nach den durchdringenden Geräuschen des Angriffs war es still um sie herum, nur das Knistern der brennenden Pferdewagen und die Hilferufe der Verwundeten waren zu hören, und die aufsteigenden Rauchwolken erschwerten die Sicht, so dass sie noch nicht sehen konnten welches Ausmaß an Zerstörung es gegeben hatte. Die zierliche Frau zitterte am ganzen Körper und setzte sich an den Rand der Fahrbahn, ein Mann näherte sich ihr und nahm sie in den Arm. Er sprach leise mit ihr, und dann schaute er die Jungen mit einem leeren Blick an. Der verwundete Soldat schrie jetzt nicht mehr, auch er war tot.

      Irgendwo sang ein Vogel.

      Die Landschaft war sanft. Flache Hügel rahmten eine Vielzahl von Seen ein, die sich weitflächig durch die Gegend zogen und auf denen die Fischer ihre Reusen absteckten oder hinter ihren Booten Netze durch das Wasser schleppten. Die Gründe waren ergiebig und die Männer hatten mit der Fischerei ein gutes Auskommen, der Räucherfisch war weit in das Land hinein begehrt und zu den Wochenmärkten herrschte im Dorf Trubel. Der Menschenschlag hier war ausgleichend. Die Natur und deren Reichtum strahlte auf das Naturell der Menschen aus, doch gerade die jungen Burschen waren auch einer zünftigen Schlägerei nicht abgeneigt und der gute Kornschnaps tat das seinige dazu. Die Bauern des Dorfes bauten auf den fruchtbaren Böden Getreide und Mais an und in den Ställen drängte sich das Vieh, schwere Rinder, kräftige Schweine und jegliche Art von Geflügel. Das Dorf selbst bestand aus gut 25 Häusern und nicht mehr als 150 Menschen hatten hier ihre Heimat gefunden. Die Häuser standen seit Generationen am Ort und die Alten nahmen im Sommer, der hier oft drückend sein konnte, wie selbstverständlich die Plätze auf den Bänken vor den Zäunen ein, oft mit einem Krug leichten Weins dabei, um den Tag beschaulich vergehen zu lassen, sie saßen auf dem Altenteil. Ihre Kinder und Kindeskinder indes waren seit der Frühe auf den Beinen um auf den Feldern oder auf den Seen ihrer Arbeit nachzugehen.

      Es war üblich, dass die Jungs und Mädchen von Kindesbeinen an in den Wirtschaften helfen mussten, der Gang in die Dorfschule wurde als notwendiges Übel angesehen, was brauchte ein Bauer oder Fischer mehr als Lesen zu können und sich mit Gewichten auszukennen, um beim Handel nicht übervorteilt zu werden. Nur wenige hatten dem Dorf den Rücken gekehrt um sich besser bilden zu können, oder der nie endenden Arbeit zu entkommen. Die Ansässigen