Brendan Erler

Digitale Evolution, Revolution, Devolution?


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von Kräfteverhältnissen, die ein Gebiet bevölkern und organisieren“ (Foucault zit. nach Moebius 2009, 94). Die „Mikrophysik der Macht“ nach Foucault durchdringt alle Bereiche der Gesellschaft inklusive der Subjekte, „die im Prozess des Unterworfenwerdens durch die Dispositive zum Subjekt und gleichsam ins Leben gerufen werden“ (Moebius 2009, 95). Macht ist ein Konglomerat an „anonymen Strategien“ (Pundt 2008, 44), die gekoppelt an Institutionen von den Subjekten internalisiert werden und somit bestimmte (Macht-)Effekte erzielen. Macht wird hier umgedeutet von einem repressiven zu einem produktiven Begriff und „das Individuum und seine Erkenntnisse sind Ergebnisse dieser Produktion“ (Foucault zit. nach Thomas 2009, 65). Macht kann man nicht besitzen, sie ist kein handelbares Gut und sie ballt sich auch nicht in sogenannten Schaltzentralen zusammen, sie wirkt im Kleinen, im Alltag, im Subjekt.

      Indem er von der Immanenz der Macht ausgeht, stellt er sich gegen ein linkes wie bürgerliches „ökonomisches“ Machtverständnis, welches Macht in Strukturen oder Individuen verortet und vornehmlich als Unterdrückungsinstrument „von oben“ wahrnimmt. Er habe versucht zu zeigen, „dass die Mechanismen, die in diesen Machtformationen wirksam sind, etwas ganz anderes als Unterdrückung, jedenfalls sehr viel mehr als Unterdrückung sind“ (Foucault, 1978, 74). Der Staat spielt in seiner Logik für den Prozess der Machtausübung nur eine sekundäre Rolle und Utopien (etwa einer „machtfreien“ Gesellschaft) sind nicht nur unrealistisch, sondern in ihren Grundannahmen von Staat und Gesellschaft fehlerhaft[29] (vgl. Thomas 2009, 64ff.). Foucault verortet den Machtkampf im Sinne der „Mikrophysik der Macht“ im Lokalen. „Der Grund dafür, dass die Macht herrscht, dass man sie akzeptiert, liegt ganz einfach darin, dass sie nicht nur als neinsagende Gewalt auf uns lastet, sondern in Wirklichkeit die Körper durchdringt, Dinge produziert, Lust verursacht, Wissen hervorbringt, Diskurse produziert; man muss sie als ein produktives Netz auffassen, das den ganzen sozialen Körper überzieht und nicht so sehr als negative Instanz, deren Funktion in der Unterdrückung besteht“ (Foucault 1978, 34). [30]

      Ein derartiges Machtverständnis negiert zwar nicht die Existenz von Unterdrückungsverhältnissen, erschwert jedoch die Kritik an „den Verhältnissen“, was jedoch nicht mit Macht- oder Aussichtslosigkeit verwechselt werden darf, „[v]ielmehr ist der relationale Charakter der Machtverhältnisse hervorzuheben: Jede Macht erzeugt eine Gegenmacht in Gestalt von Widerstand“ (Lavagno 2006, 48). Im Angesicht des „befremdlichen Überlebens des Neoliberalismus“ (Crouch 2011) hat die moderne Kapitalismuskritik diese Mikrophysik und Immanenz der Macht als Erklärungsansatz aufgegriffen (siehe 7).

      Die Formation von Diskursen und Dispositiven verweist insofern auf diesen „relationalen Charakter der Machtverhältnisse“, als sie gleichzeitig die Deformation ihrer Vorläufer erfordert. Ein Vorgang, der auf die Dynamik der diskursiven Praxis verweist im Kontrast zur starren Diskursordnung im klassischen Strukturalismus und zum Frühwerk Foucaults (Archäologie). Diese Praxis bedingt dabei Brüche im System, durch die (diskursiver) Wandel sich vollziehen kann. „Dispositive lassen sich nicht restlos und widerspruchsfrei totalisieren; so existieren in der sozialen Praxis immer >Risse< und damit unterschiedliche Aneignungs- wie Umdeutungsmöglichkeiten“ (Bührmann 2008, 53). Diese Risse an den Rändern des Diskurses lösen Unruhe aus „angesichts dessen, was der Diskurs in seiner materiellen Wirklichkeit als gesprochenes oder geschriebenes Ding ist“ (Foucault 1974, 10). Aufgabe der Diskurse und Dispositive ist es, mittels der Prozesse diskursiver Inklusion / Exklusion „die Kräfte und Gefahren des Diskurses zu bändigen, sein unberechenbares Ereignishaftes zu bannen, seine schwere und bedrohliche Materialität zu umgehen“ (ebd., 11).

      Foucault registrierte dieses Wuchern an den Rändern des Diskurses mit Interesse, ohne es zum eigentlichen Gegenstand seiner Analysen zu machen. Laclau / Mouffe (2000) weisen im Anschluss an Foucault dem darin zum Ausdruck kommenden Widerspruch eine konstitutionelle Funktion zu. Der Antagonismus, die strukturelle Exklusion eines konstitutiven Außen, ist notwendige Bedingung für die schiere Existenz der Diskursstruktur, gleichzeitig ist es ihre immerwährende, jedoch sich nie erfüllende Bestimmung, an der (unmöglichen) Beseitigung dieses Widerspruchs zu arbeiten. Das Außen ist als Existenzgrundlage konstitutiv und gleichzeitig als Bedrohung des Systems Quell seiner auf kurz oder lang unweigerlichen Transformation oder Zerstörung: „Dem Ausgeschlossenen kommt dabei eine paradoxe Doppelfunktion zu: Zum einen wird es ausgeschlossen, weil seine Zugehörigkeit zum System dieses in Frage stellen würde, weil es die Identität des Systems konterkariert und beseitigt werden muss; zum anderen aber wird eben dieses System erst durch das Ausgeschlossene konstituiert (qua Abgrenzung)“ (Nonnhoff 2007, 10).

       Diese Widersprüchlichkeit tritt in der Unübersichtlichkeit, Schnelligkeit und Interdependenz der modernen, globalisierten Welt als „Krise der Identität“ [31] besonders deutlich zum Vorschein und provoziert fortlaufend vergebliche Versuche der Homogenisierung nach innen und Abgrenzung nach außen. Klassisches Beispiel ist das Konzept der Nation im Angesicht ansteigender Flüchtlingsströme.[32] Rushkoff erkennt in den Konzepten der Tea Party und Occupy Wall Street Bewegungen zwei fundamental oppositionelle Antworten auf die um sich greifende Unübersichtlichkeit. „Während sich die Tea Party nach Entschiedenheit und Endgültigkeit sehnt, hat sich Occupy Wall Street die Aufrechterhaltung der Unbestimmtheit auf die Fahnen geschrieben […] Während die Tea-Party-Aktivisten das Chaos unserer geschichtenlosen Gegenwart beseitigen wollen, sieht die Occupy-Bewegung es als Chance, neue politische Formen und Möglichkeiten zu erproben“ (Rushkoff 2014, 63).

      Um trotz der Mikrophysik der Macht und der vielfältigen Konfrontationslinien die Makroperspektive nicht aus dem Blick zu verlieren und die Diskurstheorie für Ansätze des Postmarxismus und der Cultural Studies (siehe unten) zu öffnen, wurde Foucaults Diskursbegriff häufig um Konzepte von Ideologie [33] oder Hegemonie[34] erweitert, die den Aspekt gesellschaftlicher Ausbeutung und Manipulation stärker in den Blick nehmen sollten. Der Begriff der Ideologie stellt auch einen Kernbegriff und eine Brücke zur Wissenssoziologie dar.

      2.4.2 Exkurs: Wissen, Ideologie, Wissenssoziologie

      Das omnipräsente Schlagwort von der Wissens-oder Informationsgesellschaft offenbart die zentrale Bedeutung des Wissens im 21. Jahrhundert und rückt damit Fragen der Konstruktion und Konstitution von Wissen ins Zentrum (auch) wissenschaftlichen Interesses. In diesem Kontext spielt die Ideologie im Beziehungsgeflecht aus Wahrheit, Lüge und Wissenschaft den fehlenden vierten Mann als vermeintlicher Gegenspieler rationaler Erkenntnis. Die Frage nach dem Zusammenhang von Wissen und Wahrheit ist so alt wie die Geschichte der Philosophie, der neuzeitliche Begriff der Ideologie geht jedoch auf die Idolenlehre von Francis Bacon zurück. Bacons Traktat für eine induktive, empirische Wissenschaft jenseits scholastischer Debatten sah in den sogenannten Idolen, „Vorurteile des Geistes“, „jene Hindernisse, die das Erkennen behindern oder entstellen“ (Knoblauch 2005, 28) und somit die Wahrheit zugunsten herrschender Autoritäten verstellen. Im Zuge der Aufklärung wurde dieses Konzept unter Rückgriff auf das Ideal reiner Vernunft in Opposition zur Metaphysik und Religion fortentwickelt, wobei man nun aber im Gegensatz zu Bacons „sozial, psychologisch und anthropologisch bedingten Formen der Selbsttäuschung“ von „mehr oder weniger bewusste[r] Täuschung“ (ebd., 32.) ausging (Priestertrugstheorie vgl. ebd.). Besonders das Versprechen ewigen Lebens im Paradies galt als Besänftigung diesseitigen Leids und dementsprechend als Mittel des Machterhalts (Schützeichel 2007, 14f.). Während also bis dato die Kirche als letzte Glaubensinstanz über die Einhaltung der verbindlichen Dogmen wachte und somit Sinn und Stabilität stiftete, aber auch Herrschaft ausübte, fiel diese Funktion nun der Wissenschaft zu und „mit solcher Einsetzung des ‘Wahrheit‘ über die Welt erkennenden Subjekts als vernunftbegabtes Erkenntnissubjekt geht eine sich neu formierende gesellschaftliche Kontrolle der nun ‘subjekt-begründeten‘ Ideen-, Erkenntnis- und Wahrheitsproduktion“ einher. Die „‘Geburt der Ideologie‘ als einem ‘Kind der Neuzeit‘“ fußt dabei auf „einer grundlegenden Trennlinie zwischen ‘Ideologie‘ und ‘Wissenschaft‘“ (Hirseland 2001, 375f.). Diese frühe Form der Ideologiekritik war auch der Ursprung der modernen Wissenssoziologie.

      Der für die hermeneutische Wissenssoziologie in der Tradition Berger Luckmanns charakteristische Sozialkonstruktivismus, der in Verbund mit Foucaults Diskurstheorie die theoretische Grundlegung der Wissenssoziologischen Diskursanalyse bildet, fußt wesentlich