Losgehen zu der Aussage: „Ich habe das Gefühl, die Hälfte vergessen zu haben, wenn ich deinen Rucksack sehe.“
Während dieses Vorwort einen Rückblick auf die Startgegebenheiten darstellt, werde ich die folgende Reisebeschreibung so formulieren, wie ich die Geschehnisse gerade erlebe, also in der Gegenwartsform. Einerseits spiegele ich damit mein originales Reisetagebuch wider. Zum anderen ergibt sich für den Leser der Eindruck des unmittelbaren Miterlebens, quasi als „LiveShow“.
¡Ven conmigo !
Tag 1: 12.19.16.10.1 13 Imix 19 Xul
Trotz des ewig langen gestrigen Ankunftstages, der in einer Bar mit Live-Musik seinen würdigen Abschluss fand, werde ich irgendwann, viel zu zeitig, wach. Da es erst knapp nach 4 Uhr ist, bleibe ich liegen und lasse meinen Blick über die schwach erkennbare Umgebung schweifen. Dieses Zimmer wird eindeutig von Bücherregalen dominiert. Ich mache das Licht an, um mehr zu erkennen. Wow, Mayabücher ohne Ende! Unter anderem Nikolai Grubes Standardwerk „Maya - Gottkönige im Regenwald“ gleich dreifach: deutsch, englisch und spanisch. Ich greife mir eins der wenigen deutschsprachigen Bücher zum Thema Reise und finde einen tollen Spruch von Adolf Freiherr v. Knigge: “Zum Reisen gehört Geduld, Mut, guter Humor, Vergessenheit aller häuslichen Sorgen, und dass man sich durch widrige Zufälle, Schwierigkeiten, böses Wetter, schlechte Kost und dergleichen nicht niederschlagen lässt.“ Das passt.
Beschwingt gehe ich daran, meinen Rucksack zu packen. Letzteres ist keine ganze Tagesaufgabe, weil es ja nicht so viel zu packen gibt. Im Bewusstsein, dass die nächsten Tage die Morgentoilette nicht mehr so ausführlich und komfortabel ablaufen wird, dusche ich besonders ausgiebig und bekämpfe beim Rasieren jedes widerspenstige Barthaar mit besonderer Aufmerksamkeit. Auf diese Weise in einen körperhygienischen Idealzustand gelangt, dränge ich Jens, gleichermaßen in Startposition zu kommen: „Das Mayaland ruft!“
Unser klimatisierter Bus bringt uns unter anderem an dem weit bekannten Freizeitpark Xcaret vorbei nach Tulum, der ersten von uns anvisierten Mayastadt. Herrlich, erstmalig stehe ich in einer solchen. Ich weiß gar nicht, was ich zuerst anschauen soll. Aber wir haben ja auch die Koordinaten der umgebenden Mauer zu messen, um die umstrittene Länge genau zu bestimmen. Zunächst stelle ich fest, dass man nicht ohne Weiteres an die Ecken herankommt. Außen muss man sich durchs Gebüsch schlagen, im Innern des Geländes gibt es Absperrungen. Wir bewegen uns auf der Westseite der Anlage an der Mauer entlang und haben von dort einen wunderbaren Überblick über das Arrangement der Gebäude. Auf der Wiese an der Mauer sitzend, nehmen wir uns die Zeit, über die Motivation der Maya zu plaudern, gerade hier eine Stadt zu errichten.
Für diesen Standort sprach besonders die Möglichkeit des Handels über den Seeweg. „Was haben denn die Maya auf dem Seeweg transportiert?“, will ich wissen. „Zum Beispiel Feuerstein und Jade“, bekomme ich als Antwort. Weiter südlich etwa bis Chetumal gab’s nur Sumpfland, also ungeeignetes Terrain für den Bau einer größeren Mayastadt. Hier in Tulum konnte man einen erhöht stehenden Tempel bauen. Und man hatte hier sogar die Möglichkeit, ein Leuchtfeuer zu betreiben. Dass sich neben dem Haupttempel eine kleine Bucht zum Schutz der Boote befindet, komplettiert die günstigen Bedingungen.
Wir begeben uns zur Südwest-Ecke, wo genau wie im Nordwesten ein kleiner Wachturm steht. Während ich meine GPS-Daten notiere, inspiziert Jens das Türmchen. Dann passiert das Unfassbare: „j A ver ... sus boletos !“, waren seine ersten noch harmlos klingenden Worte, bevor uns der übereifrige Herr vom Sicherheitsdienst wegen Spionage des Geländes verweist. Dabei gönnt er sich einen intensiven Blick in unser aus seiner Sicht höchstwahrscheinlich mit frisch geklauten historischen Schätzen gefüllten Rucksäcke. Er wirkt ziemlich enttäuscht, weil wir ihm nur unsere spärliche Expeditionsausrüstung zeigen können. Hängematte, Badehose und Notproviant halten ihn aber nicht von seinem fest gefassten Rausschmissentschluss ab.
„Na gut, dann ab in die Karibikfluten!“, trösten wir uns und legen wenige Minuten Fußmarsch später unsere Sachen auf einem am Strand liegenden Boot ab. Ich staune darüber, wie warm das Wasser ist, eine echte Abkühlung bleibt also aus. Aber das Ambiente ist großartig. Im intensiven Sonnenlicht geht das Weiß des Sandes wenige Meter entfernt über zum Türkisblau des Wassers, während der Himmel sich am Horizont aufgrund einer heranziehenden Wolkenfront bedrohlich verdunkelt.
Wir entscheiden uns, zur Suche nach einem geeigneten Schlafplatz aufzubrechen. Allerdings erweist sich das hier übliche Buschland als eher ungeeignet. Gerade ich, der HängemattenCamping-Neuling, bin sehr skeptisch. Ich beanspruche für mich die aus einem anderen Bereich gültige Anforderung „Die erste Nacht soll eine besonders schöne sein, um auch weiter daran Spaß zu haben.“
Die Suche weitet sich aus zu einem abenteuerlichen Marsch, wovon wir ein Stück auf einem Pickup mitfahren und eine von mir wegen der Temperatur auf Jens' Thermometer „Area 51“ getaufte Straße entlang pilgern. Schließlich fahren wir wieder abkühlenderweise mit einem klimatisierten Taxi in die Stadt Tulum. Auf dem Weg in ein Restaurant treffen wir eine traditionell gekleidete Frau mit ebenso verpacktem niedlichen Baby. Das gute mexikanische Essen lässt uns den Stress und die Umwege vergessen. Vergessen hätte uns fast auch der gebuchte Bus nach Chetumal, weil er entgegen den Erfahrungen pünktlich abfahren will, während ich noch Wasser kaufe. So verlegen wir das Übernachtungsproblem nach Chetumal, wohin wir nun noch drei Stunden mit dem Bus fahren. Unterwegs resümiere ich, dass wir bisher einen tollen ersten Tourtag verbracht haben. Nur die Mayastadt Tulum kam etwas zu kurz weg. Schade. „Dann erzähle ich dir noch etwas Interessantes“, schlägt Jens vor. „Okay, Herr Reiseführer, diesen Vorschlag begrüße ich sehr.“
Der Name „Tulum“ stammt aus dem 16. Jahrhundert und bedeutet soviel wie „Befestigung“ oder „Mauer“. Ich bin verblüfft, dass es eine Tulum-Stele mit dem Inschriftendatum 9.6.10.0.0 geben soll. Das entspricht dem gregorianischen Datum 29.1.564. Das ist tiefste klassische Mayazeit! Da hat sich doch fast alles in Peten und Chiapas abgespielt. Chichen Itza & Co. waren erst viel später von Bedeutung. Jetzt bin ich richtig sauer: „Sch... (ein verschärft ausgerufenes „Schade!“), dass wir diese Stele nicht gesehen haben!“ „Die kannst du hier nicht sehen, die wurde geklaut.“ Jens erklärt, sie wurde vor ca. 100 Jahren von dem britischen Amateurarchäologen Thomas Gann erst am Strand verbuddelt und dann später nach London gebracht. Obwohl ich vor einem halben Jahr im British Museum war, fiel mir eine solche Stele dort nicht auf. Ich konzentrierte mich zu sehr auf die Lintel von Yaxchilan.
„Was aber in Tulum besonders sehenswert ist, sind die Räume mit den Wandmalereien im Haupttempel.“ Noch bevor ich sagen konnte „Sch.!“ ergänzt Jens, dass dieser Bereich gesperrt ist. Hier wie auch im „Tempel der Wandmalerei“ findet man den Regengott Chaak. Auch der Himmelsgott Itzamna und die Mondgöttin wurden in Tulum abgebildet. Umstritten ist der „herabstürzende Gott“, bei dem es sich laut Jens um den Sonnengott handeln könnte.
Beim Hinaussehen aus dem Busfenster werde ich erstmals mit den an mitteleuropäischen Standards gemessen sehr ärmlich anmutenden Hütten der hiesigen Landbevölkerung konfrontiert. Diese Leute leben wie die Maya vor 1000 Jahren, wenn man mal von der Anbindung an das Stromnetz sowie die Straße und zugehörige Fahrzeuge absieht, denke ich zuerst. Nein, doch nicht, wird mir später klar, als ich Satellitenschüsseln, Handys usw. wahrnehme. Die Überlegung, dass Tulum damals etwa 600 bis 800 Einwohner hatte und von einigen Dörfern umgeben war, die für die Versorgung zuständig waren und dass dies bis nach 1517 so funktionierte, schließt unsere nachträglichen Überlegungen zum ersten Ruinenstattbesuch ab.
Wir erreichen die große Busstation von Chetumal gegen 22 Uhr. Unsere letzte Tagesaufgabe besteht im Auffinden einer geeigneten Stelle für unsere Hängematten. Es ist dunkel und wir sind müde. Unweit der Busstation beginnt sowas wie Wald oder besser gesagt Busch. Mich stört hier vieles, am meisten aber der Müll und die Dunkelheit. Jens möchte nicht, dass uns jemand sieht, weshalb die Lampen nur mit äußerster Vorsicht eingesetzt werden. Beim Aufhängen der Hängematte muss mir Jens helfen. Ich bin hauptsächlich damit beschäftigt, vor kriechendem Getier Angst zu haben. Endlich in der Hängematte liegend, versuche ich zur Ruhe zu kommen.
Von