»Ein Schwurgericht seiner Landsleute hat ihn verurteilt«, erwiderte Mr. Coldwell vorsichtig, »und Schwurgerichte haben im allgemeinen recht. Nach allem, was ich weiß, brauchte er das Geld. Sein Vater war ein alter Geizhals, und man kann nicht auf großem Fuß leben und hübsche junge Damen nach New York begleiten, wenn man nur zweihundertfünfzig Pfund im Jahr verdient. Er hat die Sache auch zu dumm angestellt. Wenn er nicht ausgerechnet damals drei Monate Urlaub genommen hätte, wäre der Betrug nie entdeckt worden.«
»Wer war sie denn?« fragte Leslie.
»Ich weiß es nicht. Die Polizei hat vergeblich versucht, die Frau ausfindig zu machen. Peter hat ausgesagt, daß sie eine Statistin von der Pariser Oper gewesen sei. Er war gerade nicht sehr stolz darüber.«
Leslie seufzte.
»Alles Böse kommt von den Frauen«, sagte sie.
»Je nachdem«, meinte Mr. Coldwell und drehte an seinem grauen Schnurrbart.
In der Nähe des düsteren Eingangs von Scotland Yard blieb er stehen und stellte sich breit vor sie hin.
»Vielleicht werden Sie jetzt nicht mehr so geheimnisvoll tun und mir sagen, warum Sie sich so außerordentlich für Peter Dawlish interessieren, daß Sie in den letzten drei Tagen nur von ihm gesprochen haben?«
Sie schaute ihm fest in die Augen.
»Weil ich weiß, warum Peter Dawlish morden und wen er umbringen will.«
»Selbstverständlich Druze, das kann das kleinste Kind vermuten. Und er wird ihn ermorden, weil er davon überzeugt ist, daß Druzes Zeugenaussage ihn ins Gefängnis gebracht hat.«
In Leslies Lächeln lag selbstbewußte Überlegenheit.
»Sie irren – Druze wird sterben, weil er Kinder nicht liebt!«
Mr. Coldwell starrte sie nur verwundert an.
4
Ich möchte diese Sache richtig verstehen«, sagte er dann langsam. »Wenn Druze getötet wird, so sollte es aus dem Grund sein, weil er keine Kinder liebt?«
Leslie Maughan nickte.
»Ich weiß, daß Sie Geheimnisse nicht leiden mögen – kein Mensch in Scotland Yard liebt Unklarheiten. Eines Tages werde ich Ihnen erklären, was ich damit sagen will. Können Sie sich daran erinnern, daß Sie mir im vorigen Sommer Urlaub gaben?«
Mr. Coldwell besann sich sehr gut darauf.
»Ich bin damals nach Cumberland gegangen, um ein wenig umherzustreifen. Um keinen Preis wollte ich daran erinnert werden, daß es eine Stelle in der Welt gibt, die Scotland Yard heißt, aber ich habe nun einmal diese Veranlagung, alles zu durchstöbern und zu erforschen. Eines Tages kam ich durch ein kleines Dorf und fand dort etwas, woraus ich schloß, daß Druze Kinder nicht leiden mag. Und eines Tages wird Peter Dawlish, wenn er es entdecken sollte, ihn deshalb umbringen!«
»Die Sache wird immer geheimnisvoller und rätselhafter«, brummte Coldwell. »Ich fürchte, Sie jagen einem Phantom nach. Das ist nun einmal das Missgeschick aller begeisterten jungen Beamten – womit ich nicht behaupten will, daß Sie schon den Charakter eines Beamten haben.«
Leslie Maughan hatte ihre Karriere bei der Polizei als junge Stenotypistin begonnen. Ihr Vater war der bekannte und berühmte Vizepräsident Maughan, durch dessen Tatkraft und Scharfsinn viele dunkle Verbrechen aufgeklärt werden konnten. Bei seinem Tod hinterließ er seiner Tochter ein großes Vermögen, so daß sie sich nicht um ihren Lebensunterhalt zu kümmern brauchte. Aber sie hatte von ihrem Vater die Begabung und den Hang zum Detektivberuf ererbt und war von Stufe zu Stufe emporgestiegen, bis ihre Vorgesetzten, die einer Frau keine leitende Stellung im Polizeipräsidium Londons einräumen wollten, sie zur Assistentin eines der vier höchsten Beamten machten.
»Sie ist ganz ausgezeichnet, ich finde keine anderen Worte für sie«, sagte ihr Chef zu dem Polizeipräsidenten. »Und obgleich ich nicht der Ansicht bin, daß dies ein Frauenberuf ist, muß ich doch zugeben, daß ich niemals eine Dame kennengelernt habe, die sich besser für einen hervorragenden Posten in Scotland Yard eignete.«
»Welche besondere Fähigkeiten besitzt sie denn?« fragte der Polizeipräsident.
»Sie denkt schnell, und sie hat Glück«, war die Antwort.
Als Leslie am Abend zu ihrer Wohnung in Charing Cross Road zurückkehrte, mußte sie auch darüber nachdenken, daß sie eigentlich viel Glück hatte. Schon die Tatsache, daß sie ein so schönes Heim besaß, sprach dafür. Sie hatte einen langjährigen Mietvertrag für eine Wohnung über einem Kino zu einer Zeit abgeschlossen, als die Mietpreise noch sehr niedrig waren. Bei einer Weitervermietung hätte sie die doppelte Summe ihrer Miete als Abstand dafür bekommen können. Da ihre Wohnung aber wegen der zentralen Lage sehr günstig war, widerstand Leslie allen Versuchungen, umzuziehen, um dadurch einen pekuniären Vorteil zu erlangen.
Eine Seitentür führte zu ihren Wohnräumen. Kaum hatte sie die Haustür geschlossen, als sie von oben angerufen wurde.
»Sind Sie es, Miss Maughan?«
»Ja.«
Leslie hängte ihren Mantel in dem kleinen Flur unten auf und ging dann nach oben zu dem Mädchen, das sie auf dem Treppenabsatz erwartete. Lucretia Brown, ihr einziger Dienstbote, war groß und breitschulterig und hatte ein glattes, rundes, nicht unangenehmes Gesicht. Sie hatte die Hände in die Hüften gestemmt und betrachtete ihre Herrin vorwurfsvoll.
»Ich dachte schon, Sie wären –«, begann sie.
»Sie haben natürlich wieder gedacht, ich wäre ermordet und in den Fluß geworfen worden«, erwiderte Leslie in guter Laune. »Das denken Sie ja immer, wenn ich nicht mit dem Glockenschlag heimkomme.«
»Ich traue dieser großen Stadt London nicht.«
Lucretia war wirklich ihr Name. Ihr Vater, ein Landarbeiter, hatte einmal in der Gemeindehalle einen Vortrag über die Borgias gehört. Er hatte zwar nicht viel davon verstanden, aber doch einen allgemeinen Eindruck bekommen, daß dieser historische Name irgendwie sehr wertvoll und schön sei.
»Ich habe London nie getraut, und ich werde es auch nicht tun. Haben Sie schon zu Abend gespeist, gnädiges Fräulein?«
»Ja, ich habe schon gegessen.« Leslie schaute rasch auf ihre Uhr.
»Ich erwarte einen Besuch – um halb elf wird ein Herr kommen. Wenn Sie ihm die Tür öffnen, sagen Sie also bitte nicht, daß ich fort sei und erst in drei Wochen wiederkäme.«
Lucretia schnitt ein Gesicht.
»Halb elf des Abends ist ein wenig spät für Herrenbesuch, Miss Maughan. Ist er denn ein Freund von Ihnen?«
Leslie hatte ihr die persönliche Teilnahme an ihren Angelegenheiten nicht abgewöhnen können, denn Lucretia nahm immerhin eine Vertrauensstellung bei ihr ein und hatte im Laufe der Zeit gewisse Vorrechte erlangt. Leslie war von ihrer frühesten Kindheit an von ihr betreut worden.
»Ist es jemand, den wir kennen? Vielleicht Mr. Coldwell?«
»Nein, es ist ein Mann, der eben aus dem Gefängnis entlassen wurde.«
Lucretia schloß die Augen und wurde fast ohnmächtig.
»Großer Gott!« stieß sie heiser vor. »Ich hätte niemals gedacht, daß ich das erleben würde, daß ein früherer Sträfling Sie nachts um halb elf besuchen darf. Ich glaube, es wäre gut, wenn ich einen Polizisten holte, damit er draußen vor der Tür aufpaßt und zu Hilfe kommt, wenn Ihnen der Kerl etwas tun will.«
»Ach, Lucretia, Sie sind viel zu ängstlich und brauchen immer gleich die Polizei«, erwiderte Leslie ernst. Lucretia schwieg, obgleich sie innerlich noch tief entrüstet war.
Es schlug halb elf von der Kirche St. Martins-in-the-Fields, als unten die Hausglocke ertönte. Lucretia kam ins Wohnzimmer, ihre Augen leuchteten vor Erregung.
»Das