Mario Ziltener

Flucht von der Hudson Bay


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und ein Getränk zu erstehen. In diesem Laden ging alles wort­los und arrogant über die Bühne, Tammy aber schien dies nicht im Geringsten zu stören, denn sonst hätte sie sich bemüht, mit der Kassiererin ins Gespräch zu kommen, oder wenigstens freundlich zu sein. Es war ihr aber mehr als nur recht, nicht sprechen zu müssen. Sie glaubte, das gehöre zum Spiel, welches sie spielen wollte - arrogant und eingebildet zu sein. Tammy schien zu vergessen, dass nicht alle wichtigen Perso­nen wirklich hochnäsig und arrogant, geschweige denn frech und verachtend waren. Aus dem Geschäft für Reisezu­behör direkt auf den Bahnsteig und von dort auf den Zug - die sonst übliche Reiselektüre vergessend. Tammy war, wie immer, sehr gut angezogen - für ihren Job eher zu gut. Für ihr Spiel allerdings gerade gut genug.

      Sie bestieg den Zug durch einen Wagen der ersten Klasse, schlich sich dann aber von da aus in die zwei­te Klasse, hoffte, dass sie nicht entdeckt werden wür­de, denn die gewählte Klasse entsprach nicht ihrer Kleidung und das wäre ihr mehr als peinlich gewesen.

      Verständlich. Gleich im ersten Waggon der zweiten Klasse liess sie sich ein wenig versteckt in einer Ecke nieder und streckte ihren Kopf sofort in das Magazin, welches in einem Halter aus Acrylglas auf einen Leser oder eine Leserin gewartet hatte. Mit diesem geschickten Schachzug sicherte sich Tammy auch die Gewissheit, dass sie von niemanden in ein Gespräch verwickelt werden würde. Der Zug setzte sich mit einem leisen, beinahe unmerk­lichen Ruck in Bewegung. Pünktlich wie immer. Noch immer strömten Leute durch den Waggon mit Sack und Pack nach einem Platz suchend, welcher gross genug war, um mindestens einen Koffer und seinen Besitzer aufzunehmen. Noch war Tammy die einzige in ihrem Abteil und sie hoffte inbrünstig, dass dies auch so bleiben würde. Nach einigen wenigen Seiten schon bemerkte Tammy, wie langweilig das Hochglanzmagazin eigentlich war und so legte sie es beiseite, nicht aber in den dafür vorgesehenen Halter, sie warf es auf die ihr gegenüberliegende Sitzbank. Noch dauerte die Fahrt zwanzig Minuten, zwanzig lange, öde und monoton rumpelnde Bahnminuten. Sie presste ihre Nase an die Fensterscheibe, welche übel roch, sich schmierig anfühlte, mit einem dünnen Film menschlicher Ausdünstungen behaftet war und stetig leise vibrierte. An ihr vorbei flogen die ersten Vororte Londons, Strassen, Parks und Reihenhäuser. Die typi­schen Reihenhäuser aus Englands Zeit der Industriali­sierung. Backsteine und die gängige grau-schwarze Färbung derselben. Nicht im Geringsten aufregend hätte Tammy die Szenerie in einem Aufsatz beschrie­ben.

      »Tickets vorweisen, bitte!«, durchdrang die tiefe und klare Stimme des Schaffners ihre Gedanken und kaum war das Wort ‘Tickets’ verklungen, hob sich der Ge­räuschpegel im Waggon merklich an. Von allen Seiten her raschelte es, einige stritten sich darüber, wer jetzt wohl im Besitze der Tickets war, wieder andere schauten sich fragend an - weil sie, vermutlich, gar kein Ticket hatten oder aber nichts verstanden hatten.

      »Nächster und einziger Halt: London Heathrow!«, schmetterte die Bass-Stimme des Schaffners die letzten Informationen den Mittelgang des Waggons hinunter. Als ob sich jetzt noch jemand zum Aussteigen hätte entscheiden können. Vorstellbar aber auch, dass diese Informationen jenen Fahrgästen galt, welche über ein sehr kleines und sehr schlechtes Kurzzeitgedächtnis verfügten.

      So gesehen konnte man dieser wohl etwas verspäteten Information dennoch etwas Gutes abgewinnen. Ein weiterer Blick zur Uhr. Noch einmal zehn Minuten. Durch das Fenster waren bereits die grossen Werfthallen zu sehen, hin und wieder die Heckflosse eines Flugzeuges, manchmal aber auch lediglich die Scheinwerfer, welche eine lustige Lichterkette bildeten. Wie eine Treppe, aus der letzten Flughöhe langsam auf die Landepiste absinkend. Wie der Zug, stetig und unaufhaltsam. Ein Knacken in den Lautsprechern des Zuges kündigte die Ankunft in Heathrow an. Über ein unpersönliches Tonband be­dankte sich die Besatzung des Zuges für das Vertrau­en und die Wahl der Bahngesellschaft für die Reisen zum Flughafen. Bei der vierten Version hörte Tammy auf mitzuzählen. Die Bremsen heulten stählern auf und mit einem Holpern begann der Zug abzubremsen, erst sanft, dann brüsk und ruckartig. Bereits standen alle Mitreisenden im Mittelgang, die Abteile mit schweren Hartschalenkoffern verstellt. Tammy musste also warten oder frech und rücksichtslos sein und sich vordrängen. Für einmal entschied sie sich, den Weg des geringsten Widerstandes zu gehen und zu warten, bis sie ohne Probleme das Abteil und den Waggon verlassen konnte. Schliesslich hatte sie ja Zeit, hatte keinen Flug zu erwischen und, das war das Beste an der ganzen Sache, ihre Zeit wurde bezahlt. Nicht, dass sie arbeitsscheu gewesen wäre, aber so etwas einmal im Monat zu machen passte ihr schon. Was sie allerdings nie getan hätte, wäre für ihren Boss Kaffee zu kochen, dies liess ihr Stolz nicht zu. Sie war gelernte Sekretärin und nicht Kellnerin. Eddie hatte dies gleich am ersten Tag begriffen, als es zum ersten kleinen Eklat gekommen war. Er hatte sich furchtbar darüber aufgeregt, sich dann aber auch sehr schnell wieder erholt und die ganze Geschichte gleich schnell wieder vergessen, wie er sich darüber enerviert hatte. Die erste sich bildende Lücke in der Schlange nutzte Tammy um sich aus dem Waggon zu zwängen. Mit einem kleinen Slalomlauf gelang es ihr sich vorzudrängen, allerdings ohne böses Blut und hitzige Wortgefechte hervorzurufen. Das nachmittägliche Gedränge im Terminalgebäude hielt sich noch in Grenzen.

      Als mühsam empfand Tammy nur die kleinen Staus vor den Rolltreppen. Vorbei an den Sicherheitsbeam­ten, welche überall standen, und dann mit den Augen das Terminal nach Leuchtschriften von Reisebüros scannend. Ein solches zu finden war an und für sich gar nicht schwierig, bloss eines zu finden, welches neben Flugreisen auch Kreuzfahrten anbot, gestaltete sich ungleich schwieriger.

      »Guten Tag, die Damen. Ich suche Unterlagen über Kreuzfahrten«, meldete Tammy ihr Bedürfnis an und wartete gespannt auf die Reaktion der anwesenden Reiseberaterinnen.

      »Kreuzfahrten? An einem Flughafen? Das ist ja beinahe, wie wenn Sie bei einem Metzger Früchte verlangen!«, kam es zurück. Die Reiseberaterinnen lachten schallend, kurz nur, wandten sich sofort wieder der Arbeit zu und verstummten. Tastengeklimper und nervös auf dem Fussboden scharrende Füsse.

      »Ihrem Verhalten nach nehme ich zur Kenntnis, dass sie mich nicht bedienen wollen. Dann könnten sie dies zumindest sagen. Ich werde sicher die nötigen Empfehlungen betreffend ihres Reisebüros bei den wichtigen Stellen bei Palmer Clothing Incorporated abgeben. Dann können sie sicher sein, dass wir sie in Zukunft nicht mehr mit Arbeit belästigen werden!«

      Mehr brauchte Tammy gar nicht zu sagen, um die Stimmung unter den auf Provision arbeitenden Damen um mindestens neunzig Grad zu drehen. Doch noch bevor diese auf die Tränendüsen drücken konnten, hatte Tammy das Büro wieder verlassen. So etwas war ihr nun wirklich noch nie widerfahren, obwohl sie in den letzten Jahren, bei anderen Arbeitgebern, sehr oft mit Reisebüros zu tun gehabt hatte. Sie wandelte ganz gemächlich weiter, die grossen Hallen hinunter und wieder herauf, rein und raus aus den Reisebüros. Der Nachmittag verging immer schneller und gegen vier Uhr hatte sie einen ganzen Packen Unterlagen zusammen. Dünne und dickere Prospekte waren da dabei, besser und weniger gut bebilderte Exemplare ebenfalls. Sie machte sich wieder auf den Weg in das Bahnterminal um zurück in die Stadt zu fahren, wo sie noch vor Feierabend die besorgten Unterlagen abzu­liefern hatte. Stolz auf ihre Leistung bestieg sie den Zug und spürte die Müdigkeit in den Knochen, schliesslich war sie es nicht gewohnt solch weite Distanzen wie heute zurückzulegen. Sonst sass sie ja auf dem bequemen Sessel in Eddies Vorzimmer und mit jenem konnte man an jede nur erdenkliche Position hin rollen. Ganz ohne Kraft und ohne sich erheben zu müssen.

      Eddie war unruhig. Er hätte am liebsten gleich jetzt schon alle seine Kaderleute über seinen geplanten Urlaub informiert, wusste aber, dass der Zeitpunkt noch nicht der Richtige war. Er würde warten müssen, bis erstens Shannon ihre Zustimmung zum Projekt „Kreuzfahrt“ gegeben hatte, (denn ohne diese wäre eine Durchführung hoffnungslos) und zweitens dar­auf, dass Tammy wirklich die richtigen Unterlagen besorgt hatte. Nach deren Studium würde er sich ent­scheiden, ob, wohin die Reise führen würde und vor allem wann die Urlaubswochen stattfinden würden. Er sass wie auf Nadeln. Dies war sonst gar nicht seine Art, aus der Ruhe zu kommen. Es klopfte an die Tür.

      »Eintreten, wenn Sie in guter Absicht gekommen sind!«, rief er und legte die Akte, welche er gerade studiert hatte, beiseite.

      Die Türe öffnete sich und Tammy trat ein, mit dem Stapel der besorgten Unter­lagen unter dem Arm.

      »Hallo Tammy, schön Sie zurück zu wissen. Jetzt kann ich beruhigt den Überzeugungsversuch