Dr. Phil. Monika Eichenauer

Zulassung zur Abschaffung - Die heillose Kultur - Band 2


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nämlich den gesellschaftlich vorgeschrieben und favorisierten biomedizinischen Weg. Heilung beginnt, wenn dieser Weg zu Ende gegangen worden ist und ein neuer Weg eingeschlagen wird: „Heilung beginnt nach dem Verzicht auf die unzähligen Male wiederholten, bekannten Versuche, die uns jedesmal eine Verstärkung der Störung beschert haben. ‚Mehr vom Gleichen.’ (P. Watzlawick) bringt ein Mehr an Krankheit. Es fällt schwer, das ‚Gleiche’ loszulassen, weil wir mit diesen vertrauten therapeutischen Alibiübungen unsere Angst vor dem Unbekannten eindämmen wollen. Doch Heilung ohne ‚Sich-Lassen’ (Meister Eckhart), ohne Loslassen des Vertrauten ist Augenwischerei. Bevor wir ‚uns lassen’, quält uns Angst vor einem Sturz ins Ganze, wie sich eine Frau ausdrückte, das heißt vor Ichverlust und Psychose, auch wenn wir es nicht so nennen. Sobald wir aber losgelassen haben, ist es, als würde uns eine sichere Hand ergreifen und in der zu uns passenden Gangart Schritt um Schritt auf einen Weg führen, dessen subtile Weisheit und differenzierte Gestaltung wir uns mit aller Klugheit nie hätten ausdenken können.“ (Schellenbaum, 1992, S. 49)

      Ohne mich nun in einer unvorstellbar langen Liste von differenzierenden Ansätzen für Forschungen zu ergehen, die sich nicht der biomedizinischen Körpervorstellung der klassischen Medizin ergeben haben, soll dennoch auf indivi-duumsspezifische Forschungszweige hingewiesen werden:

      Heilung ist in dem Sinne jeweils auf das Individuum bezogen, an und in dem sich ein Heilungsprozess vollzieht. In der gegenwärtigen medizinisch-naturwissenschaftlichen Forschung werden alte, durch statistische Standardnormen geprägte und als Grundlage zur Beurteilung individueller biologischer Werte dienende biomedizinisch-dualistische Paradigmen vereinzelt durch alternative ersetzt. Biologische Parameter werden intraindividuell verglichen: Verwiesen wird in diesem Zusammenhang auf Gerok (1990), der Gesundheit als Ordnung und Chaos und Krankheit als entweder erstarrte Ordnung oder als ungesteuertes Chaos beschreibt. Physiologische Werte werden in diesem System individuumzentriert bewertet und verglichen und nicht mit standardisierten Normen. An der Heiden (1991, S. 127ff.) beschreibt diese individuelle medizinische Diagnostik aus systemischer Sicht „als sich selbstherstellendes dynamisches System“ (An der Heiden, 1991, S. 127).

      Diese Auffassung vom Leben spiegelt inhaltlich, global gesehen, die Sichtweise psychotherapeutischer Verfahren, die gestalt- und körperorientiert analytisch arbeiten oder auch psychotherapeutisch systemische Methoden anwenden, wider: Eine medizinische Symptomatik wird als mit dem jeweiligen Menschen (Patienten/Klienten) verbunden, ihm zugehörig hypostasiert, mit dem Ziel der emotionalen und mentalen Integration durch den Menschen (Patienten/Klienten) mit Hilfe entsprechender Methoden im psychotherapeutischen Prozess. Dies bedeutet, dass durch Psychotherapie bereits die Auflösung des alten Paradigmas in der Praxis grundsätzlich existiert und im Einklang mit einem von Jüttemann (1991) formulierten Gesichtspunkt für wissenschaftliche Forschung steht, der in der Chaosforschung (Gerok, 1990) verwirklicht ist:

      „Ereignis- und individuumzentriert forschen, vorausgehende Verallgemeinerungen vor allem anthropologischer Art, konsequent unterlassen, um die Entstehung von Systemimmanenz zu vermeiden.“ (Jüttemann, 1991, S. 355)

      Groddeck (1984) zeigt eine integrative Bedeutung von „Krankheit“ auf, die auf ein tieferes Verständnis von „Krankheit“ verweist:

      „Kranksein ist nichts anders als leben, als der Versuch des Lebens, sich veränderten Bedingungen anzupassen, es ist nicht ein Kampf des Körpers mit der Krankheit, sondern eine ordnende Tätigkeit, etwa der zu vergleichen, die wir stündlich und tausendfach mit Überlegung ausführen, um unser Tagwerk zu vollbringen.“(Groddeck, 1984, S. 253)

      Menschen mussten in den vergangenen Jahren lernen, dass ihre „normale Tätigkeit“ als Mensch, sich nämlich jeden Tag aufs Neue zu motivieren, dasjenige jeden Tag zu tun, was sie tun, immer größeren Umfang annahm und zusätzlich den Unsicherheitsfaktor, ob ihr Leben so noch zu bewältigen sei, wie es bisher ging, zu bewältigen hatten. Sie verloren und verlieren ihr Gleichgewicht.

      Im Januar 2008 werden Zahlen von 1,4 Millionen missbrauchten und geschlagenen Kindern in einem Zeitungsartikel über ein Buch von Christine Birkhoff, die eigene Erfahrungen in „Ein falscher Traum von Liebe“ (Bastei-Lübbe 2007) verarbeitet, vom Bundesfamilienministerium aus dem Jahr 2000 mitgeteilt. (Ruhr-Nachrichten: Hinsehen? Wohin? 2.1.2008). Diese nun acht Jahre alten Zahlen dürften angewachsen sein: Wer soll diesen Menschen fachkompetent helfen, sie behandeln? Hinzuzusetzen ist: Wird eines dieser 1,4 Millionen missbrauchten Kindern behandelt, wird in der Regel mindestens ein Elternteil ebenfalls eine Psychotherapie machen müssen – und wenn es hoch kommt, alle Familienmitglieder, also auch die Geschwister. Dies als ein Beispiel in diesem Einschub, dass die Medizin mit ihrer herkömmlichen Sichtweise diesbezüglich nicht für Aufklärung sorgen konnte – und auch nicht regelhaft reagierte, wenn Kinder mit nicht eindeutigen Verletzungen ins Krankenhaus gebracht wurden.

      Aber auch andere Berufsgruppen tragen dazu bei, dass Kinderschänder auf freien Fuß kommen: „Justiz-Pannen: Akten weg.“ (Ruhr-Nachrichten, 24. Juli 2009) Es heißt in dem Artikel, dass bei der Justiz in Mönchengladbach Akten von Kinderschändern verschwunden und ihre Fälle jahrelang verschleppt worden sind. Von derartigen Fällen wird inzwischen des Öfteren berichtet. Im Falle eines solchen Berufsverständnisses ist von einer Weg-Seh-Kultur zu sprechen.

      Die Empfehlung der Bundeskanzlerin zur Hinseh-Kultur wirft darüber hinaus Fragen auf: Auf blaue Flecken oder tiefer, zu den Ursachen sehen? Zum Beispiel eben grundsätzlich auch auf das Medizin-Verständnis und im Gegenzug auf die Fachkompetenz von Psychologischen Psychotherapeuten, die Welt und Mensch etwas, um nicht sagen, entschieden anders sehen und begreifen: Medizin müsste inhaltlich etwas sein, das den Menschen in einem Land hilft, mit Krisen, Problemen und Krankheiten fertig werden zu können – dann könnte von einer hoch stehenden oder zivilisierten Kultur gesprochen werden. Aber in Deutschland gibt es fast niemanden mehr, der sich selbstständig und frei, mit einem Gefühl, sich in Kultur und Mensch auszukennen, bewegen kann. Für jeden Schritt muss ein Rechtsanwalt gefragt werden, die Steuerberaterin angerufen und der Arzt oder der Psychologische Psychotherapeut konsultiert und bezahlt werden. Menschen werden ständig durch die Polizei oder städtische Angestellte bezüglich Parken und zu schnellem Fahren kontrolliert und zur Kasse gebeten. Menschen werden zur Unselbstständigkeit und zum Nichtwissen und zu „Heile dich nicht selbst“ erzogen. Menschen werden in jeder Hinsicht bewusst in die Abhängigkeit gebracht, ob durch politische Gesetze und Verordnungen, ob durch die Art und Weise der Zwangsläufigkeit, wie Menschen ihr Leben zu leben und zu fristen haben, wie sie sich als Arbeitnehmer zu verkaufen haben und sich dann in ihrem Leid an Mediziner zu wenden haben, die sich selbst durch eine völlig indiskutable Berufspraxis verdrehen, sprich, anpassen müssen und Hippokrates getrost in der Ecke stehen lassen können.

      Die alte medizinische Sichtweise ist bis heute so erhalten geblieben: Diese Ärzte sprechen kaum mit ihren Patienten, und Patienten haben den Diagnosen der Ärzte zu lauschen und zu tun, was sie an Behandlung vorschlagen. Wenn Patienten etwas dazu sagen möchten, hat der Arzt generell keine Zeit. Sagt der Patient trotzdem etwas, gilt er als unbequem und aufmüpfig, und der Arzt wird unwirsch. Tut der Patient nicht, was der Arzt sagt und verordnet, gefährdet er damit den vermeintlichen medizinischen Heilungserfolg. Tun dem Patienten also bestimmte Behandlungen und Medikamente nicht gut, ist letztlich der Patient trotzdem selbst schuld. Obwohl er brav geschwiegen hatte, und der Arzt habe ja auch gar nicht absehen können, dass seine Behandlung nicht zum Erfolg führen würde, schließlich habe es bestimmte Parameter gegeben, die bei dieser Krankheit untypisch seien – oder es war schlicht ein ungewöhnlicher Behandlungsverlauf. Die enttäuschten Patienten wandten und wenden sich irgendwann schweigend von diesen Ärzten ab und konsultier(t)en einen anderen, in der Hoffnung, dass sich der Gott in Weiß doch noch als unfehlbar in der Behandlung erweisen möge. Das nennt man dann Ärzteshopping: Der Patient geht von einem Arzt zum anderen. Davon halten die ärztlichen Standesorganisationen gar nichts, da eine solche Patientenreaktion darauf hinweist, dass in der Behandlung etwas schief gelaufen ist. Auch den in Praxen und Kliniken tätigen Ärzten sind denkende und vor allen Dingen handelnde Patienten nicht geheuer. Aber auch die Krankenkassen haben etwas gegen Ärzteshopping, weil es die Kosten für Behandlungen ausdehnt. Schließlich müssen sie zahlen, was diese Ärzte nicht leisten konnten oder, was sie