Thomas Riedel

Panoptikum des Grauens


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die es nicht gibt, Roger.«

      Entweder träume ich, oder ich bin in einem Irrenhaus gelandet, dachte Whitemoore, während Lady Sarah nach dem Butler klingelte, um ihm einen Tee anzubieten.

      Als der der Bedienstete im Livree eintrat, schoss Whitemoore hoch, lief auf ihn zu und rief: »John, Sie kennen mich, und Sie kennen diese beiden Herrschaften ... Kennen Sie auch eine Miss Kayleen Coleman?«

      John war ein hagerer Mann mit einem bleichen Gesicht und von unbestimmbarem Alter. Sein Haar lichtete sich bereits auf dem Hinterkopf. Er zögerte mit der Antwort. »Ich muss gestehen, … den Namen höre ich heute zum ersten Mal, Sir«, erklärte er mit würdevoller Steifheit.

      Whitemoore war sich sicher, dass John sich niemals einen Spaß mit einem der Gäste des Hauses erlauben würde. Entsprechend verzweifelt fuhr er mit einer Hand durch sein kurz geschnittenes blondes Haar. Seine vom Aufenthalt in die Vereinigten Arabischen Emiraten war sichtlich eine Spur blasser geworden.

      »Sie wollten doch mit dem Unsinn aufhören«, mischte sich Lady Sarah schneidend und vorwurfsvoll ein, nur um gleich darauf deutlich sanfter hinzuzufügen: »Nun setzen Sie sich endlich zu mir, und seien Sie endlich ein braver Junge, Roger.«

      »Nun, dann helfen offensichtlich nur noch Beweise«, stöhnte Whitemoore verzweifelt. »Würden Sie mir bitte folgen?«

      »Wozu? Und wohin überhaupt?«, erkundigte sich Sir Winston gereizt.

      »Wir sollten ihm den Gefallen tun, Vater«, entschied Lady Sarah großmütig. »Der junge Mann regt sich sonst unnötig auf. Wir wollen doch nicht, dass er noch einen Herzanfall bekommt, nicht wahr?«

      »Nein, natürlich nicht, mein Kind.«

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      Roger Whitemoore stürmte die Treppe in den ersten Stock der Villa hinauf, rannte den Korridor entlang und riss die Tür zu Kayleens Zimmer auf. Er sah auf den ersten Blick, dass sich hier nichts verändert hatte.

      Nur ihr Schrank war leer. Da war nichts mehr, dass an Kayleen Coleman erinnerte. Es war, als habe sie nie existiert. Auch die zahlreichen Urkunden der Tennissiege, auf die sie immer so stolz gewesen war, hingen nicht mehr an der Wand.

      »Das ist unser Gästezimmer«, meinte seine Lordschaft ruhig, nachdem er zu ihnen aufgeschlossen hatte. »Was ist damit?« Er zuckte fragend die Achseln. »Was sollte das schon beweisen?«

      »John soll das Familienalbum bringen«, bat Whitemoore verstört. »Es muss doch irgendeine Spur von Ihrer Urenkelin geben, Sir Winston.«

      »Jetzt hören Sie doch endlich damit auf, uns eine Enkelin aufschwatzen zu wollen«, protestierte Lady Sarah.

      Whitemoore klingelte nach dem Hausangestellten.

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      Zehn Minuten später erschien der Butler mit dem gewünschten Album und legte es vor, ohne eine Miene zu verziehen.

      Whitemoore schlug Seite auf Seite um, aber nirgends gab es eine Aufnahme von Kayleen. »Dieses Bild, dies und das hier ebenfalls, sind erst kürzlich durch Landschaftsaufnahmen ersetzt worden«, stieß der Architekt aufgebracht hervor. Er deutete auf die entsprechenden Stellen. »Ich kann Ihnen auch genau sagen, was sich vorher dort befunden hat.« Er deutete mit dem Zeigefinger auf eine Stelle rechts oben. »Hier zum Beispiel konnte man Kayleen als Dreizehnjährige sehen mit ihrem ersten Pony. Und hier unten …«, er hatte eine Seite umgeschlagen, »Kayleen mit ihrem ›English Pointer‹.« Whitemoore stutzte. »Die Hündin! Natürlich!«, rief er. »Joyce lag vorhin neben der Küchentür.«

      »Das ist doch nicht ungewöhnlich, Roger. Das tut er immer«, meinte Lady Sarah. Sie sah ihn ratlos an.

      »Er gehört Kayleen.«

      »Nein, er gehört mir«, bestritt Sir Winstons Tochter energisch.

      Whitemoore war nahe daran, seine Hände um den faltigen Hals der Mittsiebzigerin zu legen und fest zuzudrücken. »Jetzt kommen Sie«, bat er, sich mühsam beherrschend. »Geben Sie mir noch eine Chance.«

      »Roger«, sagte Sir Winston gelassen, »Sie wissen, ich habe eine Menge für Sie übrig. Aber Sie sollten meine Geduld nicht über Gebühr in Anspruch nehmen.«

      »Nun las ihn doch, Vater«, tadelte ihn seine Tochter. »Du siehst doch, wie wichtig das alles für ihn ist und wie es ihn mitnimmt. Der Junge ist ja völlig durcheinander.« Beschwichtigend legte sie ihre Hand auf den Arm ihres Vaters.

      Unterdessen stürmte Whitemoore bereits wieder in das Erdgeschoss und lockte die Hündin. »Na, komm schon! … Joyce! Na, altes Mädchen?«

      Schweifwedelnd kam die ›English Pointer‹-Dame auf ihn zu und begrüßte ihn herzlich. Sie hatte ihn und Kayleen auf manch einem ausgedehntem Spaziergang begleitet und war von ihnen verwöhnt worden.

      Seine Lordschaft betrachtete den jungen Architekten mit Misstrauen. »Wie wollen Sie mir eigentlich mit Hilfe eines Hundes beweisen, dass ich in eine Irrenanstalt gehöre? … Ich mag ja inzwischen geistig nicht mehr so leistungsfähig sein, und in meinem gesegneten Alter ist das sicher gestattet, junger Mann, aber ich bin keineswegs verwirrt«, bemerkte er spöttisch. »Wenn ich eine Urenkelin hätte, wäre ich der erste, der sich darüber freuen würde. Ich mag Kinder.«

      Whitemoore wusste sich das rätselhafte Verhalten nicht zu erklären, aber ahnte, dass er ganz ungeheuren Sache auf der Spur war, und sein kriminalistischer Spürsinn fühlte sich herausgefordert. Auf diesem Gebiet war Whitemoore wohl auch ein wenig vorbelastet. Ein Onkel mütterlicherseits war Chef Inspector beim ›New Scotland Yard‹ und hatte ihm seit frühester Jugend als eine Art Superdetektiv imponiert. »Kayleen und ich haben mit Joyce oft stundenlang gespielt«, erläuterte er. »Einer von uns hat sich versteckt, und der andere musste ihn mit ihrer Hilfe aufspüren.«

      »Wie interessant«, murmelte seine Lordschaft, wenig überzeugt, wechselte einen Blick geheimen Einverständnisses mit seiner Tochter und versenkte beide Hände in den Taschen seines Hausmantels.

      »Hören mir jetzt gut zu«, beschwor Whitemoore die Hundedame und nahm den Kopf des Tieres zwischen beide Hände. »Geh‘ und such‘ Frauchen, Joyce … Such‘!«

      Der Hündin stutzte, rannte dann los und kratzte an der Haupttür.

      Whitemoore schaute Sir Winston triumphierend an.

      Seine Lordschaft schickte einen verzweifelten Blick an die Zimmerdecke.

      Whitemoore öffnete dem jaulenden Tier. Joyce schoss in den Park und er lief hinterdrein.

      »Vermutlich hat sie draußen einen Knochen vergraben«, höhnte Lord Coleman, der mit seinem Gehstock unter der Tür stehengeblieben war.

      Der ›English Pointer‹ rannte zielstrebig den Kiesweg hinunter. Gleich darauf kratzte die Hundedame an der Verbindungspforte zum Nachbargrundstück.

      Als Whitemoore atemlos aufschloss, zögerte er für den Bruchteil einer Sekunde, ehe er entschlossen den Türgriff nach unten drückte.

      Doch das Tor war versperrt.

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      Gespannt spähte Whitemoore durch das wuchernde Grün hinüber. Dabei bemerkte er den Fremden, der auf dem Balkon stand, den Rauch einer Zigarette aus einer elfenbeinernen Spitze inhalierte und ihn, wie ein lästiges Insekt, mit unverhohlenem Hohn betrachtete.

      »Haben Sie den Schlüssel?«, rief Whitemoore ihm zu.

      Der Orientale schüttelte stumm den Kopf.

      »Kennen Sie eine gewisse Kayleen Coleman?«, setzte er verzweifelt nach.

      »Ich kümmere mich nicht um meine Nachbarn«, antwortete Kianoush Shabistari gelassen. »Aber soviel ich weiß, gibt es in der Familie seiner