eingestellt, aber so kann ich noch ein paar Eindrücke mehr gewinnen.
Das Essen ist heute angeblich schlicht. Reis, frischer grüner Salat, Hühnerbein, zum Nachtisch Joghurt. Abgesehen vom Joghurt, den ich bereits als Kind nicht mochte, ist es aus meiner Sicht ein Festessen.
»Wir haben nur Reste aufgewärmt«, meint Irmtraud, »weil wir ja nur unter uns sind.«
Christian, ein kräftiger blonder Mann mit rundem Gesicht, rennt in den Keller und holt für mich ein Vanilleeis aus dem Gefrierraum. Beyer hat mir erzählt, dass »Gastfreundschaft« eines ihrer Leitbilder ist. Zumindest diese Truppe hier scheint es auch mit Leben zu füllen.
Ich frage meine Tischnachbarn, wie sie Weihnachten feiern. Ich erfahre, dass sie über die Weihnachtstage gar nicht hier sind. Sie werden in ihren Familien feiern.
»Am dritten Adventwochenende wird das Haus noch einmal voll,« erzählt Christian, »da ist FKT.«
»Freundeskreistreffen der Ehemaligen aus der Hausgemeinde!«, erklärt Anna Lena. »Christian, du musst deutsch reden und ohne Abkürzungen, wenn jemand Fremdes da ist!«
Na, das gefällt mir. Man erzieht sich hier gegenseitig.
»Wir ziehen dann unser Weihnachtsfest ein bisschen vor. Zwar gibt es keine Geschenke, aber extrem viel Spaß und einen tollen Gottesdienst. Immerhin feiern wir ja den größten Geburtstag aller Zeiten! Na ja, zum Schluss wird noch einmal alles geputzt und dann fahren wir in die Weihnachtsferien!«
Nun muss ich rechnen. Das bedeutet, ich habe für meine Recherchen nur zwei Wochen Zeit. Danach ist dieses Haus geschlossen. Okay, dann fange ich gleich an. Christian hat mir ja gerade eine Vorlage geliefert.
»Was meinst du mit größtem Geburtstag aller Zeiten?«
»Na, ich meine den von Jesus.«
Er tut so, als sei das selbstverständlich. Für unsere Leser ist das alles andere als klar.
»Christian, wenn du unseren Lesern in zwei Sätzen sagen sollst, was dieser Geburtstag für dich bedeutet – was sagst du?«
Nun ist mein junger Gesprächspartner etwas verunsichert. Anna Lena springt ein. »Ich sage: Weil Jesus geboren ist, haben wir eine Vorstellung von Gott und wissen, wie er ist.«
»Aber dann musst du auch sagen, wie.«
Andreas mischt sich ein. Er ist ein schlanker, smarter Typ mit dem Versuch eines Dreitagebartes. Vermutlich mögen ihn die Mädels.
»Klar. Durch Jesus weiß ich, dass Gott eine Person ist, unser Vater. Jesus hat gezeigt, was Gott wichtig ist und wie wir zusammen leben sollen und können.«
Selbst durch die Brille hindurch erkenne ich das Funkeln ihrer Augen, als Anna Lena von Jesus schwärmt. Oder funkelt sie Andreas an? Könnte auch sein. Immerhin leben hier ja Jungs und Mädchen zusammen, und das in genau jenem Alter, wo man sich gegenseitig sucht und findet.
Andreas geht auf Anna Lena ein: »Das sehe ich genauso. Allerdings ist Weihnachten für mich noch mehr. Gott wird Mensch. Gott ist an meiner und unserer Seite. Das finde ich echt cool. Nicht irgendwo oben im Himmel, sondern hier unten ist er zu finden!«
Christian lacht. »Genau, Gott bleibt nicht im Himmel, sondern er geht ins Tal. Ins Himmelstal eben!«
Sein Wortspiel finden alle gut. Wir lachen. Ich spüre, hier sind Leute, für die Weihnachten nicht ein Konsumfest ist, sondern die sich mit der wahren Bedeutung auseinandersetzen.
»Hoffentlich. Schön wär’s ja«.
Das kommt von Magda. Sie ist eine hübsche, schlanke Frau, ein Model-Typ. Allerdings versteckt sie das unter eher lässigen Klamotten. Ihre langen dunklen Haare hat sie hochgebunden. Ein Ökoschal verdeckt Hals und Schultern. Ihren freien Tag verbringt sie offensichtlich hier im Tagungshaus.
»Magda. Schon wieder Zweifel?« Es klingt ein bisschen ironisch, so als ob Anna Lena ihre Kollegin bereits gut kennt.
»Ja. Was vor zweitausend Jahren passiert sein soll – wieso sollen wir das heute feiern? Ein Kind wird geboren. Gut. Das passiert jeden Tag. Aber die Geschichten darum herum, wer kann denn so etwas glauben!«
»Meinst du die Jungfrauengeburt? Da steht doch einfach ›junge Frau‹ in der Bibel. Vermutlich wurde die Jungfräulichkeit Marias später von der Kirche als angeblicher Beweis der Bedeutung Jesu verbreitet. Meinungsmache damals!«
Anna Lena schaut mich an. So als wäre ich für die Meinungsmache heute zuständig – was ja irgendwie auch stimmt.
»Ja, ich meine aber auch das ganze Drumherum. Die Hirten, die Engel, die Typen aus dem Morgenland mit ihren Geschenken, der hinterhältige König Herodes, der Stall, die Krippe als Kinderbett, der Stern über Bethlehem ... das riecht doch alles nach Legendenbildung und Märchenbuch.«
Eben noch dachte ich, vor mir sitzt eine einheitlich fromme und gläubige Gruppe junger Leute, engagiert für ihren Glauben und ihren Gott – jetzt merke ich, dass es in dieser recht intensiven christlichen Gemeinschaft große Unterschiede gibt. Was ich gut finde: Sie reden drüber. Sie haben selbst hier am Tisch vor einem Journalisten keine Angst, ihre Zweifel zu artikulieren. Alle Achtung.
Das Gespräch geht weiter. Auch Andy mischt noch mit. Theo Beyer sitzt am Nachbartisch. Als er mitkriegt, worum es geht, bietet er an, das Thema Weihnachten im nächsten Bibeltreffen mit der Hausgemeinde mal biblisch-theologisch zu bearbeiten. Ich frage, ob ich da mal mitmachen kann. Er schaut in die Runde. Als kein Widerspruch kommt, meint er:
»Normalerweise ist das vierzehntägige Treffen intern. Da das Team jedoch einverstanden ist, habe auch ich nichts dagegen. Allerdings mit einer Auflage: Sie berichten nichts davon in Ihrer Zeitung, jedenfalls nichts von dem was wir persönlich von uns preisgeben.«
Ich bin einverstanden.
*
Als ich satt und ein bisschen mittagsmüde in meinem Golf sitze, überlege ich, ob ich Maren Bender besuchen soll. Ich beschließe, es jetzt nicht zu tun. Vermutlich ist sie ohnehin in Lüneburg. Dort arbeitet sie im Krankenhaus. Vielleicht fahre ich morgen Abend mal vorbei, bevor ich die Andacht in Himmelstal besuche ... wenn ich mich traue.
Den Nachmittag verbringe ich am Schreibtisch in der Redaktion. Jeder von uns hat mehrere Aufgaben. So kann auch ich mich in diesen intensiven Dezemberwochen nicht nur dem Thema »Jesu Geburtstag« widmen, sondern muss auch zur Jahresversammlung des Kleingartenvereins, zu zwei Märchenaufführungen ins Theater, in einen Schützenverein und als Vertreter eines kranken Kollegen zu zwei Gerichtsverhandlungen.
All das will vorbereitet sein. Wie gut, dass wir das Internet haben! So bekomme ich die meisten, früher mühsam erfragten Informationen schon vorab und kann gezielt Fragen stellen. Auch die Fehlerquote bei Zusammenhängen, Namen und Hintergründen verringert sich spürbar. Jedenfalls, wenn man seinen Job als Journalist ernst nimmt. Selbstverständlich ist das leider nicht.
Mittwoch, 4.12.
Im Sitzungssaal II wird gegen einen Kleinkriminellen verhandelt, der in der Kreisstadt mehrfach Einbrüche verübt und als nächtlicher Störenfried mit Gewaltpotenzial in und vor einschlägigen Lokalen aufgefallen ist. Dem Richter platzt angesichts der belastenden Vorwürfe gegen Werner S. der Kragen:
»Es reicht! Sammeln Sie in den nächsten Monaten statt der Anzeigen gegen Sie erst einmal zwei bis drei Gedanken darüber, wie Sie Ihr Leben in den Griff bekommen. Ich gebe Ihnen dafür ein kleines Zimmer und vier Wochen in der JVA bei freier Verpflegung. Damit derweil die Bürger unserer Stadt ein ruhiges Weihnachtsfest verbringen können, treten Sie Ihre Auszeit gleich von hier aus an. Die vier Tage in Polizeigewahrsam werden ihnen angerechnet.«
Ein Richter greift durch. Ich bin gewiss, dass sich während der Partys und Trinkgelage der Adventswochenenden andere Chaoten finden, die Werner S. würdig vertreten. Unserem KB wird der Stoff jedenfalls nicht ausgehen. Der Kollege, den ich vertrete, wird nach seiner Genesung die Gerichtsberichte allerdings wieder selbst schreiben