im Altarraum. Für sie ist dieses Gotteshaus vermutlich inzwischen so etwas wie ein zweites Wohnzimmer. Ich sage Anna Lena, dass ich ihre Predigt gut fand. Sie freut sich riesig. Christian klopft ihr auf die Schulter und meint:
»Anna Lena ist ja auch die Beste von uns. Sie wird bestimmt mal Pastorin!«
»Blödmann, auch ihr anderen macht das gut mit den Auslegungen. Aber danke. Mir macht das echt Spaß und ich gebe gerne etwas von meinem Glauben an die Konfis weiter!«
Ich vermute, dass an Christians indirekter Einschränkung, was die Predigten der anderen angeht, etwas dran ist. Die Gaben sind ja wirklich verschieden. Vielleicht muss ich auch noch einmal wiederkommen, wenn Magda dran ist. Ob sie auch Zweifler zu Wort kommen lassen? Das wäre gewagt – aber sympathisch.
Beim Hinausgehen frage ich Christian: »Sag mal, macht ihr alle die Auslegungen zu Bibeltexten? Oder nur wer will?«
»Nee, wir alle machen das. So wie Putzen und Abwaschen gehört es zu unseren Aufgaben.«
»Und wenn jemand mit dem Glauben Probleme hat?«
Christian schaut mich an als habe ich bereits ziemlich viel in seiner Welt durchschaut.
»So wie Magda? Oder auch ich manchmal? Oder Yvonne? Oder Andreas? Oder Anna Lena? Herr Jahnke, wer von uns hätte denn keine Zweifel?«
Es verschlägt mir fast die Sprache. Das heißt schon was bei einem alten Reporter. Welch Weisheit aus jungem Munde!
*
Jede und jeder rennt so schnell es geht ins Trockene. Für mich ist das mein Golf. Es schüttet jetzt. Soll ich wirklich noch Maren Bender besuchen? Unangemeldet, einfach so?
Ich starte den Golf. Wieso er in Richtung Neubausiedlung fährt, kann ich nur vermuten. Jedenfalls stoppe ich ihn vor dem Haus der Witwe, an die ich so oft denken muss. Das Außenlicht geht sofort an. Seit einer Einbruchserie sind hier alle Häuser mit Bewegungsmeldern ausgestattet. Ich zögere.
Dann stehe ich vor der Haustür, die Hand am Klingelknopf. Es läutet. Im Flur brennt Licht. Eine Frau kommt zur Tür. Es ist nicht Maren Bender.
Ich bin irritiert und höre mich leicht stottern.
»Entschuldigung, dass ich so spät hier auftauche. Ist Frau Bender zu Hause?«
Schnell schiebe ich noch nach, dass ich Jens Jahnke heiße und nur ganz kurz vorbeischaue, da ich gerade zufällig in Himmelstal bin.
Die junge Frau hat lange, dunkelbraune Haare, sieht irgendwie südländisch aus und ist ausgesprochen hübsch.
»Kommen Sie doch herein. Aber bitte sprechen Sie leise! Ich habe gerade meinen kleinen Jeschu ins Bett gebracht.«
Sie zeigt die Treppe hinauf. Jeschu? So hieß doch das Kind im Tagungshaus. Ob dies die Mutter ist?
Maren Bender kommt aus dem Keller, einen Korb mit Wäsche unter dem Arm. Ihr Gesicht verrät mehr als Erstaunen oder Überraschung. Sie strahlt mich freudig an, stellt den Korb weg und reicht mir die Hand.
»Herr Jahnke! Na, das ist aber eine Freude! Kommen Sie herein.«
Und an die junge Frau gewandt: »Miriam, das ist der Journalist, von dem ich dir schon so viel erzählt habe. Holst du uns etwas zu trinken? Wenn der Kleine schläft und du möchtest, kannst du dich auch gerne zu uns setzen.«
Miriam geht in die Küche.
Ich ziehe meine Regenjacke aus und gebe sie Maren, die sie in einen Garderobenschrank hängt. Vorsichtig entledige ich mich auch noch meiner schmutzigen Schuhe. Wie gut, dass ich mir heute die Socken ohne Loch gegriffen habe.
Ich folge der Hausherrin ins Wohnzimmer. Es ist stilvoll eingerichtet. Alte Eichenmöbel und moderne Sitzmöbel ergänzen einander. In einem weißen Kamin mit großem Sichtfenster und schwarzem Sims flackert es gemütlich. Ich setze mich in den Sessel neben der Feuerstelle. Schon nach kurzer Zeit durchzieht mich eine wohlige Wärme. Erst jetzt merke ich, dass es in der Kirche sehr kühl war.
Maren Bender freut sich, dass ich komme. Sie hat von mir erzählt, mich folglich nicht abgehakt und vergessen. Allerdings will sie nicht mit mir allein sein. Okay, das akzeptiere ich.
Von der ersten Minute an fehlt es uns nicht an Gesprächsstoff. Sie fragt mich nach meinem Eindruck vom Tagungshaus und der Andacht. Die neue Hausgemeinde hat sie persönlich noch nicht kennengelernt, allerdings über Miriam manches von den jungen Leuten drüben gehört. Miriam arbeitet als Praktikantin der Hauswirtschaft im Tagungshaus. Wie ich Theo Beyer finde, will Maren wissen und ob ich auch Andy und Petra getroffen habe.
Ich frage nach ihren Kindern. Ihr Sohn Benni hat jetzt eine Freundin, erzählt sie. Er arbeitet bei Porsche Stuttgart seit Anfang Oktober in einer anderen Abteilung. Caren lebt nach wie vor mit Sohn und Mann in Berlin. Mehrfach hat sie aber schon gesagt, dass sie am liebsten wieder zurück aufs Dorf ziehen würde. Typisch, kaum werden sie achtzehn, wollen fast alle Dorfkinder unbedingt in die Stadt - wenig später zieht es die Meisten zurück aufs Land.
Die junge Frau kommt und stellt einen mit Flaschen gefüllten Korb neben den Tisch. »Was trinken Sie? Bier, Saft, Wasser oder Wein?«
Welche Frage? Ich trinke prinzipiell alles.
»Ein Bier am liebsten. Ich muss ja noch fahren.«
Maren und Miriam trinken einen Rotwein. Die beiden Frauen ähneln sich. Beide haben leicht gelockte braune Haare, eine gerade Nase und braune Augen. Maren trägt eine weiße Hose und einen blassrosa Pullover, Miriam Jeans und ein hellblaue Strickjacke. Ich schätze Miriam auf Mitte zwanzig. Sie könnte Marens Tochter sein.
Ich frage Maren, wie es ihr seit unserer letzten Begegnung ergangen ist. Sie weicht aus. Stattdessen kommt sie auf Miriam zu sprechen.
»Dass Miriam hier ist, macht mich richtig glücklich!« Maren legt den Arm um die junge Frau. »Anfang Oktober ist sie mit ihrem kleinen Sohn völlig überraschend hier aufgetaucht. Sie hat sich um die Stelle der Hauswirtschaftspraktikantin im Tagungshaus beworben. Aber erzähl doch selbst, Miriam.«
Zu Beginn zögernd, dann etwas offener erzählt Miriam von sich. Sie hat zuletzt in Hamburg gelebt und ist alleinerziehende Mutter von Jeschu. Sie habe in der Stadt nicht mehr leben wollen und sich deshalb auf diese Stelle hier beworben. Da es im Tagungshaus für Mutter mit Kind keinen Wohnraum gab, hat der Geschäftsführer Andy Maren Bender gefragt.
»Und ich bin nun endlich nicht mehr allein im Haus!« ergänzt Maren. »Wir wechseln uns mit der Betreuung des Babys ab und versuchen, gegenläufige Arbeitszeiten zu kriegen. Wenn das nicht klappt, nimmt Miriam den Kleinen mit ins Tagungshaus. Dort findet sich meistens jemand von den jungen Leuten, die oder der sich um das Baby kümmert.«
Ich bin nicht nur neugierig, weil ich Journalist bin. Nein, es liegt vermutlich in meiner Natur.
»Sie heißen Miriam und Ihr Sohn Jeschu. Maria und Jesus – das klingt wie die Weihnachtsgeschichte. Schöne Namen!«
»Danke, ja. Wir sind allerdings keine Christen, sondern Juden! Unser Nachname lässt da keinen Zweifel: Goldstein.«
»Aber Sie arbeiten in einer christlichen Einrichtung.«
An Miriams Stelle antwortet Maren:
»Kein Problem! Jesus war ja auch Jude. Christen und Juden sind folglich Brüder und Schwestern. Den Mitarbeitenden im Tagungshaus war immer wichtig, Toleranz nicht nur zu predigen, sondern auch zu leben.«
»Und was haben Sie vorher in Hamburg gemacht?«
Ich wundere mich, dass meine ehr als Konversation eingestreute Frage Miriam so aus dem Konzept bringt. Sie stottert beinahe.
»Äh, ich habe dort gelebt. Ich meine von Hartz IV. Ich musste ja für Jeschu da sein und konnte nicht arbeiten.«
»Und Jeschus Vater?«
Vielleicht war ich jetzt doch zu forsch, zu privat. Miriam zögert wieder. Maren nickt ihr ermutigend zu. »Jens Jahnke kannst du trauen«, sagt ihr Blick