Wilhelm Koch-Bode

Tonstörungen


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Gesprächsfetzen aufgeschnappt. Die Pohlsche und die Sauerkraut - so nannte die Mutter Frau Pohl und Frau Sauer - hielten im Schwatzen inne und grienten ihn an, als er die Treppe heraufkam, aber er hatte gerade noch gehört, dass sie die Schubert für schwermütig und hüsterisch hielten. Verlegen drückte er sich an den fülligen Matronen vorbei. Nun ja, hüsterig kam hin und schwermüdig hörte sich irgendwie nach einer Last an, die sie trug, und nach Müdigkeit. Wurde sie etwa nur schwer müde? Das war ihm noch nicht aufgefallen. Die Pohlsche und die Sauerkraut so über seine Mutter tratschen zu hören, hatte ihn doch sehr geärgert.

      Die seltsamen Anfälle, die Frau Schubert bekam, überhaupt ihre Gesundheit, besser: ihr Kränkeln, schienen eine Herausforderung für Spezialisten zu sein. Jedenfalls verbrachte Rudi im Schlepptau der Mutter viel Zeit in Wartezimmern verschiedener Arztpraxen. Sie konnte ihn ja noch nicht sich selbst überlassen. Und im Kindergarten war er nicht, was in den 1950er-Jahren normal war, denn Frauen, die nicht arbeiten gingen, behielten die Kinder meistens zu Hause. Einmal bekam er mit, wie sie dem Vater vom letzten Arztbesuch erzählte. Das Nervenkostüm ist zu dünn, habe der Doktor gesagt und Fege dat tiefe Düster nie. Klar, dass vegetative Dystonie damals noch nicht zu Rudis Sprachschatz gehörte. Dat Düster - war damit das Düstere gemeint? Eigentlich sprach sie nicht so - also dat für das, wie manche Leute. Düster war ja so ähnlich wie dunkel. Konnte man Düsteres wegfegen? Klar - mit Licht. Aber warum sollte man das nicht tun? Und ein Nervenkostüm? Nerven hatten irgendwie mit dem Kopf zu tun. Ein Kostüm zog sie manchmal auch an - blau, dicker Stoff. Hieß das, dass ein Hut ein Nervenkostüm ist? Ach so, dann brauchte sie einfach nur etwas Wärmeres zum Aufsetzen.

      Irgendwas machte Frau Schubert zu schaffen. Rudi kriegte manchmal Krach mit … nein, so schlimm war es nicht … lautes Reden vielleicht … wie Katzen jaulen und Hunde bellen. Warum dann so schlechte Laune war, kapierte er nicht. Erst als Jungendlicher, als er genug gelesen und im Kino gesehen hatte, reimte er sich die eine oder andere Erklärung zusammen. Natürlich spekulierte er nur herum, aber konnte es nicht sein, dass sie sich irgendwie eingepfercht fühlte? Dass das übereilt zustande gekommene Ehebündnis sich als Joch erwies? Dass sie bereute, dem Drängen Schuberts, der zwischen fünfzig und fünfundsiebzig Prozent mit dem Kriegstod rechnete und deshalb Lebensziele wie Ehe, Kinder und sowas unbedingt noch schnell abgehakt haben wollte, nachgegeben hatte? Ohne das Gegenüber wenigstens ein bisschen mit seinen Ecken und Kanten kennengelernt zu haben? Na ja, jedenfalls fühlte sie sich wohl nicht wie auf Rosen gebettet. Freude hatte sie an gar nichts und außerhalb des Hauses traute sie sich so gut wie nichts zu. Und dann auch noch auf jemanden angewiesen, der selber unzufrieden war und für Spaß nicht viel übrig hatte?

      Herr Schubert wirkte selten gut gelaunt. Eigentlich war er ja noch jung, schien aber verbittert wie ein um Haus und Hof gebrachter Gutsherr. Ein Verlierer, der allerdings sorgsam darauf bedacht war, körperlich in Bestform zu bleiben. Stundenschwimmen - er hatte das Totenkopfabzeichen in Gold für zwei Stunden -, 10.000-Meter-Lauf, Riegenturnen gehörten selbstverständlich zum Wochenprogramm. Aber er haderte wohl heftig mit seinem Los als subalterner Büromensch, dem bräsige Amtsschimmel ohne Fronterfahrung Weisungen erteilen konnten. Rudi hatte einmal ein Gespräch zwischen Großmutter und Großvater, denen von Mutters Seite, mitgekriegt. „Die Ehe unserer Kleinen“, seufzte der Opa, „steht nicht unter einem guten Stern. Sie - so ‘ne zarte Elfe - verbandelt sich ausgerechnet mit so ‘nem kantigen Zinnsoldaten“. „Ja“, pflichtete die Oma ihm bei, „wäre sie bloß nicht zum Maitanz in Jork gegangen oder hätte wenigstens Schubert seinen Fronturlaub anders genutzt, statt sich zur selben Zeit da rumzutreiben - dann wär‘ sie jetzt mit Oskar Oostermann, dem guten Jungen, zusammen. Säße auf ’nem schönen, großen Obsthof. Und wenn wir sie dann besuchten, gingen wir durch die prächtige Prunkpforte!“ Ja, Oskar hätte sie geheiratet, auch wenn das den alten Oostermanns enorm gegen den Strich ging, für die nur die Tochter eines Obsthofes mit ordentlicher Mitgift als Bäuerin in Frage kam. Um das Gezeter der Alten ein für allemal abzuwürgen, hatte der junge Oostermann schließlich klare Kante gezeigt und seine Mutter daran erinnert, dass sie aus einer Elbfischerkate stammte, der Opa ein Stintfänger mit drei Reusen und die Oma Obstpflückerin, und dass sie als Dienstmagd auf dem Oostermann-Hof angefangen hatte. Aber dagegen sei damals ja wohl nichts einzuwenden gewesen, oder? Woraus habe denn ihr Brautschatz bestanden, bitte? Oskar hatte sowieso Oberwasser; ohne ihn lief auf dem Hof nichts. Er musste nicht einmal mehr in den Krieg, denn schon 1941 war er als Invalide aus Russland zurückgekehrt. An Kopf und Rumpf Bombensplitter abbekommen, die Fleischwunden vernarbt, das rechte Auge aus Glas, was für ihn, der einen scharfen Blick auf sein Obst brauchte, ziemlich fatal war.

      Nun, die Rechnung, dass die als Jungbäuerin in Betracht gezogene Elfe ihn demnächst beim Beäugen des Reifezustands von Äpfeln und Birnen unterstützen würde, ging nicht auf. Herr Schubert kam ins Spiel. Ein forscher Typ mit geschliffenen Manieren, dazu von schnellem Entschluss: Feldpostbriefe - im nächsten Urlaub Verlobung - im übernächsten Hochzeit. Die junge Frau folgte ihm aus der Idylle des Alten Landes in die Steinwüste Hamburgs, wo er eine Wohnung genommen hatte. Nach ein paar Tagen fuhr er zurück an die Westfront; Frau Schubert arbeitete, wie es sich gehörte, in einer Munitionsfabrik. Jedenfalls solange, bis Rudolf auf die Welt kam. Nachdem Herr Schubert aus diesem Anlass eine Woche Heimaturlaub bei Mutter und Kind verbracht hatte, entschwand er wieder - Mutter und Kind waren allein. Manchmal sonntags, wenn auf dem Hof die Arbeit ruhte, setzte Oskar Oostermann sich in den Zug nach Hamburg, um die Soldatenfrau mit Obst, Trockenfrüchten, Marmelade und selbst gekeltertem Most im Gepäck zu besuchen. Deren Entscheidung für das zackige Mannsbild hatte ihn zwar gekränkt und, ja, traurig gemacht, klar, aber seine Zuneigung nicht gelöscht. Kann sein, dass er insgeheim damit rechnete, dass Schubert aus dem Krieg nicht zurückkäme - so, wie es ihm ja beinahe ergangen wäre. Auf jeden Fall setzte er alles daran, ihr freundschaftlich verbunden zu bleiben. Und so brach der Kontakt auch nicht ab, als der Krieg längst vorbei war und Oskar die von seinen Eltern gut gelittene Tochter vom Hof drei Häuser weiter geheiratet hatte. Natürlich gab es später nicht mehr viele Begegnungen, jedenfalls keine geplanten, - nein, das wäre unschicklich gewesen, aber wenn Frau Schubert mal mit Rudi bei ihren Eltern im Alten Land war, kam es über die Jahre doch zu einigen Zufallstreffen auf der Straße oder in irgendeinem Laden. Später wagte er sogar, sie ab und zu mal anzurufen und zu hören, wie es im Leben so läuft. Und weil er bei ihrem Vater ab und zu etwas nähen, ändern oder ausbessern ließ, wurde die Schneiderstube zur Relaisstation für den Hin-und Her-Transport von Grüßen und Infos über Erwähnenswertes aus dem Alltag hüben wie drüben.

      Von ihren neuen Verwandten wurde die junge Mutter nicht sehr geschätzt, denn sie kam, wie die alten Schuberts stichelten, aus einfachen Verhältnissen - in Stade Büro gelernt und sich als Stenotypistin verdingt. Der alter Herr Schubert war immerhin Hauptsekretär bei der Bahn und amtierte auf einem Haltepunkt in der Lüneburger Heide als Stationsvorsteher. Auf diese Stellung bildete sich die alte Frau Schubert eine Menge ein. Sie kam aus einer Altonaer Schusterfamilie mit sieben Kindern und war Verkäuferin in einem Hamburger Juweliergeschäft gewesen. Nun ja, zumindest stellte sie ihre frühere Stellung so dar und erwähnte gern nebenbei, dass der eine oder andere wohlhabende Kunde ihr seinerzeit den Hof gemacht habe. Okay, in Wahrheit war sie in dem Juwelierhaushalt Dienstmädchen gewesen und hatte neidisch das Ladenmädchen beäugt. Das stand adrett angezogen im Geschäft und gaffte durchs Schaufenster, wenn sie Hundedreck vom Trottoir kratzte oder Schnee in die Gosse schob. Da kam ihr der aufstrebende Jungeisenbahner natürlich gerade recht. Der erwies sich ja auch als gute Partie - das Bahnwärterhaus in der Heide, das er ihr bot, quasi ein eigenes Reich; später die Vorsteherwohnung im Bahnhof, in dem die Familie residierte, fast eine herrschaftliche Bleibe. Und dann auch noch Beamtengattin … fast eine Gnä‘ Frau … wie die Gnädigste, die in der Etage über dem Schmuckladen thronte.

      Stolz trug sie auf dem Mantel einen Fuchskragen und gab mit ihren Gläsern aus Bleikristall an. Sowas kannte sie aus dem Juwelierhaushalt. Schuberts Schwester Mechthild, Mecki genannt, hatte eine Banklehre gemacht und einen Eiermann geheiratet. Okay, zugegebenermaßen war der nicht als fliegender Händler mit Eierkartons hausieren gegangen, sondern hatte einen Großhandel betrieben und andere für sich laufen lassen. In den letzten Kriegstagen war er gefallen; nach einer kurzen Anstandsfrist verheiratete Mecki sich mit dessen bestem Freund, einem Molkereibesitzer.