Wilhelm Koch-Bode

Tonstörungen


Скачать книгу

„Marten“ - so heißen die Flurnachbarn gegenüber. Der Name hört sich nicht so peinlich an wie Schuhbord. Vielleicht bleiben ihm damit doofe Neckereien erspart? Oh nee … nicht das auch noch: Niemand hat ihn verstanden, und jetzt muss er den falschen Namen sogar wiederholen! Einer der forschen Jungen, der das Wort erfasst hat, kräht die Lüge, Rudi Marten … Maarten … Maarten … Rudi Maaarten, laut in den Raum.

      In den nächsten Tagen lastete die Angst, als Lügner entlarvt zu werden, schwer auf Rudi. Und das schlechte Gewissen über den falschen Namen machte ihm schwer zu schaffen. Wenn das rauskam - würde er dann bestraft? Womit? Von wem? Hatte er nicht geleugnet, dass es die Schuberts gibt - seine Eltern? Käme dafür als Strafe, dass sie nun auch in Wirklichkeit verschwänden? Dass er ein Waisenkind würde und zu den Großeltern müsste? Oh nein, bloß nicht in die Heide! Dann lieber ins Alte Land. Nun, die Lüge ging im Trubel des ersten Schultages unter; niemand nagelte ihn später auf den Namen Rudi Marten fest. Und entgegen seiner Erwartung regte er als Rudi Schubert auch niemanden zu Wortspielen an. Trotzdem war ihm dieser Ort, wo Gewusel und Gekreisch ihn binnen kurzem fertigmachten, vom ersten Moment an verleidet. Die Angst, ausgelacht zu werden, hatte sofort Wurzeln getrieben und er blieb in Habachtstellung, ob man sich aus irgendeinem Grund über ihn lustig machen könnte.

      Jahre später, auf dem Gymnasium, trat dieser Fall ein, - als er nämlich aufgerufen wurde, einen Text aus Latein zu übersetzen. Die Sätze im Buch sagten ihm nicht viel, folglich konnte die Translation auch nicht wirklich gelingen. Dennoch, irgendetwas musste er ja von sich geben. Hektisch begann er, Satzfetzen aneinanderzureihen, die mehr auf Raten als auf Wissen beruhten. Ihm war klar, dass das Ergebnis nicht allzu viel mit dem Inhalt zu tun hatte. Rudis Radebrechen schien aber den Stundenhalter, einen Herrn Seidel - jemand, der von sich selbst gern als Magister Seidelius sprach -, derart zu belustigen, dass er erst zu kichern, dann lauthals zu lachen anfing - ein hämisch meckerndes Gelächter, das noch anhielt, als es längst geklingelt hatte und er am Stock aus dem Klassenraum humpelte - auch ein Kriegsinvalide. Rudi schämte sich enorm. Nun ja, selber schuld. - Viel, viel mehr nagte an ihm, es so weit gekommen lassen zu haben, dass sich jemand derart lustig über ihn machen konnte. Von so einem Fiesling … Widerling … Mistkerl ausgelacht zu werden - richtig gemein, richtig höhnisch -, dass alle es mitkriegten, fand er schlimm, ganz schlimm.

      Ein paar Tage später, in einer Deutschstunde, soll mit verteilten Rollen Der zerbrochne Krug rezitiert werden. Das heißt, man sitzt auf seinem Platz und liest den zugeteilten Part aus dem Lektüreheft ab. Rudolf ist Licht, Schreiber. Sein Auftritt. Er hat den Satz erfasst … Ei, was zum Henker, sagt, Gevatter Adam! Er öffnet den Mund, des Gerichtsschreibers Worte müssen raus, ein kurzes a knackt in Rudolfs Hals, sein Atem stockt. Um den Kehlkopf legt sich ein Gurt, wird stramm zugezurrt. Um den Brustkorb legt sich ein Korsett, wird fest zugeschnürt. Die Luft ist knapp. Reicht nicht, um die Brocken, die Kleist dem Schreiber in den Mund legte, durch den Schlund zu treiben. Ein Schnapper … noch ein Schnapper … endlich - der Motor kommt in Gang … ahi … haucht es aus ihm … wasshum henka, sacht, hevatta hadam! Der Satz ist raus, die Luft aus, der Motor abgestorben. Soll er aufgeben? Den Apparat nicht weiter strapazieren? Schreiber Licht einfach verstummen lassen? Nur - wie soll er die Panne erklären? Noch ein Versuch. Hauchzart springt der Motor an, nimmt langsam Fahrt auf, fängt an rundzulaufen, bleibt aber ohne Ton. Kein Klang, sondern nur ein Flüstern, das Rudolf nun - zwar gehetzt, aber flüssig - von sich gibt: Was ist mit Euch geschehen? Wie seht Ihr aus? Kurze Verschnaufpause. Adam, der Dorfrichter, spricht. Jetzt geht es weiter: Nein, sagt mir, Freund! Den Stein trüg jeglicher -? „Stopp, Schubert“, unterbricht der Schulmeister, „Kleist hat bestimmt nicht gewollt, dass Licht flüstert. Was denkst du dir bei dieser eigenwilligen Interpretation, Schubert?“ „Äh, eigentlich nichts - kann grad nicht anders?“ antwortet Rudolf, diesmal mit Stimme. „Wieso, versteh‘ ich nicht. Nimmst du das hier etwa nicht ernst? Mündlich sechs!“ erregt sich der Mann. „Neumann, du übernimmst den Schreiber.“

      Von dem Moment an konnte Rudolf in der Schule nur noch flüstern. Jedenfalls dann, wenn das zu Sagende länger als ein Satz war, der sich mit einem einzigen Atemstoß zu Ende bringen lässt. Ging es nicht ohne neues Einatmen weiter, weil etwas zu schildern, zu kommentieren oder vorzutragen war, sprach er nach dem ersten Luftschnappen zwar weiter, aber nicht laut, sondern wie mit abgedrehtem Ton. Nur noch Geflüstertes kam aus seinem Mund, was beim Publikum anfangs zu lautem Gelächter geführt hatte, später dann zu Kichern, Kopfschütteln, Stirnrunzeln, Tuscheln und Vogel zeigen. Anfangs forderte die eine oder andere Lehrkraft ihn noch auf, normal zu reden. Je nach Temperament oder Laune tat sie dies mit barschen Worten, gereiztem Meckern oder freundlichem Zuspruch. Versuchte er dann, das in Worte zu Kleidende mit Klang hervorzubringen, wurde der Kehlkopf steif, die Atembewegungen erstarrten. Je mehr er dagegen anpresste, desto stärker wurde der Widerstand. Ja, wenn dabei wenigstens ein Raunen zustande gekommen wäre, mit immerhin einem Hauch von Resonanz! Es gab ja Leute, die ständig so sprachen. Auch im Kino hörte man solche Stimmen, sogar von kernigen Cowboys, gefährlichen Gangstern oder von plaudernden Personen in einer Bar. Aber anstatt des lässigen Raunens kam aus seinem Schlund dann nur ein gequältes Krächzen - so, als bewirkte die Anstrengung genau das Gegenteil von kräftigem, sattem Sprachklang. Schon nach ein paar Augenblicken fiel er wieder in den Flüstermodus zurück; das war quasi der Schongang, der ihm Laufruhe und genug Puste gab, um die anstehenden Wortketten wenigstens ohne Ton von sich geben zu können. Na ja, wohl immer noch besser als gar nicht.

      Es spielte sich nun ein, dass Rudolf bei allem, was irgendwie einen Hauch von Darbietung hatte, auch wenn es um ganz Banales ging, von vornherein flüsterte. Die Lehrkräfte gewöhnten sich daran, dass einer dazwischen saß, bei dem es irgendwie mit dem Sprechen haperte. Putzige Störung, dachten sie wohl - einer, der seine Stimme nicht im Griff hat. Rudolf, Ton an! Schubert, ein bisschen mehr Druck auf die Tube! Fortissimo, bitte! So oder mit ähnlichen Worten wurde er manchmal zurechtgewiesen. Zum Glück ließen ihn die meisten bald ganz in Ruhe. Warum sollten sie sich den Unterrichtsfluss durch solch einen akustischen Blödsinn stören lassen? So jemand gehört doch dahin, wo Behinderte sind, oder? Ein Sprachkranker halt. Na ja, mündlich fünf oder - gerechterweise - gleich sechs, schriftlich zwei oder drei; das macht vier. Solch einen kann man mitlaufen lassen oder - noch besser - jemand macht ihm klar, dass er hier fehl am Platz ist.

      Ganz schlimm fand Rudi, wenn Fräulein Hartmann singen ließ. Danach, fröhlich Volkslieder von sich zu geben, war ihm nun wirklich nie zumute. Auf Kommando aufzuspringen und lauthals das Wandern, die Berge und den Mond preisen zu müssen, waren furchtbare Momente. Wegen Zensuren musste jedes Kind manchmal ein Lied allein vorsingen, was für ihn eine Hürde war, die er von vornherein gar nicht erst zu nehmen versuchte. Nein, vor Publikum zu singen - sowas war noch ein paar Nummern größer als Sprechen. Zwar verweigerte Rudi sich dem Ansinnen Fräulein Hartmanns nicht - nein, dazu war er zu folgsam. Aber er half sich, indem er den Text einfach aufsagte, so wie ein Gedicht. Die anderen fanden das immer lustig, Fräulein Hartmann schüttelte jedes Mal ärgerlich den Kopf und schrieb eine Vier auf. Schlechtere Noten wurden in Musik eigentlich nicht gegeben. Einmal hatte sie sich wohl mit einem musikbewanderten Kollegen beraten, denn der ließ Rudi und drei andere Jungen, die raue Stimmen hatten, eine Mundharmonika anschaffen. Damit werde wunderbar ihr Empfinden für die richtigen Töne geweckt, später kämen sie dann für die Singenden als instrumentale Begleitung zum Einsatz, erklärte er den Eltern. Parallel zu Fräulein Hartmanns Singstunden bekämen diese unmusikalischen Vier von ihm qualifizierten Instrumentalunterricht. Nach seiner Erfahrung sei dieser Ansatz durchaus vielversprechend. Nun, die Melodien blieben kläglich. Nach kurzer Zeit stellte der Mann seine Anstrengungen wieder ein. Mit denen habe es keinen Zweck, hieß es.

      Zwar hatte Rudolf immer schon ein mulmiges Gefühl gehabt, wenn er irgendwo was sagen sollte und Leute ihn anguckten, aber das war irgendwie nur Befangenheit gewesen. Die überwand er einigermaßen; was nötig war, hatte er eigentlich immer geschafft. Kam nur als verschlossener Typ rüber, der nicht viel von sich gibt. Jemand von stiller, zurückhaltender Art, wohl ein bisschen verschüchtert, verklemmt oder sowas oder nur ’n wortkarger, ungeselliger Typ. Da, wo es drauf ankommt, sich lautstark zur Geltung zu bringen, war er damit natürlich nicht präsent. So einer kriegt, wenn überhaupt jemand mal Notiz von ihm nimmt, Bemerkungen zu hören wie: Stille Wasser