Emmi Ruprecht

Ein Ort in Italien


Скачать книгу

zerrte das ein bisschen an ihren Nerven, jedoch fährt Sabrina selbst nur ungern fremde Autos. Deshalb war sie eifrig bemüht, einen Fahrerwechsel zu vermeiden und lehnte zu Beginn der Fahrt ein entsprechendes Angebot dankend ab. Petra quittierte das mit einem Achselzucken und fing nicht mehr davon an. Sabrina revanchierte sich stattdessen damit, während der Fahrt für Unterhaltung zu sorgen und die Fahrerin bei Laune zu halten.

      Und bis jetzt gelingt ihr das in ihren Augen recht gut! Denn wenn Sabrina in einer Sache wirklich unschlagbar ist, dann darin, andere zu bespaßen. Sie kann unzählige Anekdoten aus ihrem reichhaltigen Erfahrungsschatz zum Besten geben. Auch ihre Schlagfertigkeit kennt keine Grenzen – zu allem und jedem fällt ihr sofort ein passender Kommentar ein. "So hat doch jeder in dieser Fahrgemeinschaft seine Aufgabe", denkt Sabrina. Besser so als andersrum, denn Petra scheint in ihren Augen zwar ganz nett zu sein, aber auch ein wenig verkrampft und vor allem gar kein bisschen schlagfertig. Aber da kann sie ja von Sabrina noch etwas lernen!

      Mit dieser Arbeitsteilung gelingt es den beiden, den ersten Teil ihrer Reise über Basel und dann durch die Schweizer Alpen in angenehm klimatisierter Umgebung zügig hinter sich zu bringen. Kurz vor der italienischen Grenze ist Petra bereits bestens über das aufregende Leben einer Friseurin mit eigenem Studio informiert. Sie weiß, dass die einundvierzigjährige Sabrina neben dem Aufbau ihres Friseurgeschäfts eine Tochter ganz allein großgezogen hat, die jetzt siebzehn ist. Anastasia, so heißt sie, hätte ihre Mutter zu diesem Urlaub überredet, weil sie so viel gearbeitet hätte und sich unbedingt einmal etwas gönnen sollte. Ein Musikurlaub sei da genau das Richtige, fanden beide. Schließlich gibt es kaum eine Feier im Freundes- und Bekanntenkreis, wo Sabrina nicht inständig gebeten wird, ihre Gitarre mitzubringen und die Gesellschaft mit ihrer Kunst zu unterhalten. Die Stimmung sei immer bombig, wenn sie loslege, berichtet sie stolz, und außerdem gäbe es kaum einen Song, den sie nicht kenne.

      Wenn Petra ihre Beifahrerin so ansieht, dann kann sie sich deren Alleinunterhaltungsqualitäten auch bestens vorstellen. Sabrina ist eine sehr auffällige Gestalt, allein schon durch ihre körperlichen Merkmale: Sie ist groß, verfügt über üppige Rundungen und weiß diese durch auffällige Kleidung in Szene zu setzen. Ihre schulterlangen, blonden Haare mit schwarzen und roten Strähnen und ihre sorgfältig lackierten und mit Strasssteinchen besetzten Fingernägel tun ein Übriges, ihr imposantes Äußeres zu unterstreichen.

      Petra ist dankbar, mit ihrer Begleiterin eine Stimmungskanone erwischt zu haben, mit der sie sich auch noch gut versteht. Sie weiß von sich selbst, wie schwer es ihr fällt, aus sich heraus und vor allem auf andere zuzugehen, und in Gesellschaft lebhafter Menschen fühlt sie sich oft noch gehemmter. Aber nun hat sie mit Sabrina eine sehr extrovertierte Persönlichkeit an ihrer Seite, die sich schnell in ihrer italienischen Urlaubsstätte zurechtfinden wird. Wenn sie sich also an Sabrina hält, dann ist sie in dieser Woche in bester Begleitung und kann ihr die Führung überlassen, ohne den Anschluss an die Gruppe zu verlieren.

      Auch wenn Petra es als Führungskraft gewohnt ist, sich in einem oft unwirtlichen Umfeld durchzusetzen, sich Gehör zu verschaffen und schon seit vielen Jahren auf ihrem Posten zu überleben, so ist die Woche in Italien doch eine komplett andere Herausforderung als ihr Beruf. Es gilt, in völlig unbekannter Umgebung und ohne sich auf einen hierarchischen Status verlassen zu können, zu bestehen. Außerdem geht es dort, in diesem Musikkurs, nicht um Zahlen, Daten und Fakten, sondern sie wird ein eher fremdes Terrain betreten, wo sie nicht versiert mit ihren beruflichen Kompetenzen glänzen kann. Dort wird sie nicht mehr vorzuweisen haben als ein paar Stunden Gitarrenunterricht, die bereits einige Jahre zurückliegen, und ein paar Übungseinheiten zur Entspannung nach einem langen Arbeitstag. Das verunsichert sie sehr! Schließlich lebt sie in einem Umfeld, in dem es fast ausschließlich darum geht, „wer den längsten hat“, um mal den Kollegen aus dem Vertrieb zu zitieren, der ihr damit bei einem Führungskräftetreffen nach einigen Gläsern Wein seine Philosophie des Karrieremachens offenbarte. Für eine Frau ist es nicht immer einfach, bei diesem Wettbewerb mit männerspezifischen Regeln mitzumachen. Doch Petra wusste stets ihre fachliche Kompetenz, ihre Anpassungsfähigkeit und kräftige Ellbogen einzusetzen, um ein gutes Plätzchen in der Hierarchie zu ergattern. An ihrem Urlaubsort werden diese Qualifikationen jedoch kaum eine Bedeutung haben. Umso besser, wenn sie mit Sabrina, der im musikalischen Bereich nichts fremd zu sein scheint, jemanden an ihrer Seite hat, der dafür sorgt, dass sie nicht untergehen wird!

      Nachdem Sabrina bis kurz vor der italienischen Grenze über ihr Leben berichtet hat, braucht Petra anschließend nur bis Como gleich hinter der Grenze, um alles ihrer Meinung nach Wesentliche über sich preiszugeben. Sie ist auch gar nicht daran gewöhnt, viel über sich zu sprechen, und hält eine kurze Zusammenfassung der wichtigsten Daten für ausreichend. Sie erzählt, dass sie für die Finanzen des Unternehmens zuständig ist, bei dem sie eigentlich schon immer angestellt ist und wo sie sich von der Pieke auf hochgearbeitet hat. Ihr Beruf fordere sie sehr und für ein Privatleben reiche die Zeit nicht. Darüber hinaus müsse sie sich auch um ihre Eltern kümmern, die zwar noch in ihrem Haus am Stadtrand von Köln wohnten, wo Petra jedoch regelmäßig nach dem Rechten sehen müsse. In früheren Jahren hätte sie häufiger in Clubs Urlaub gemacht, doch die ständige Aufforderung der Animateure, irgendwo mitzumachen, sei sehr anstrengend gewesen und außerdem wäre sie nun mal nicht so vergnügungssüchtig. Stattdessen hätte sie dann im letzten Jahr eine Bildungsreise ausprobiert, wo sie sich jedoch selbst mit einundfünfzig noch wie ein junger Hüpfer vorgekommen sei. Deshalb habe sie beschlossen, es in diesem Jahr mit etwas anderem zu versuchen, und so habe sie den Urlaub in Italien gebucht.

      Nachdem Petra mit ihrem kurzen Bericht nicht viel zur Ausgestaltung des Unterhaltungsprogramms beisteuern kann, beginnt Sabrina nun Vermutungen über ihren Urlaubsort, den Kurs und die sonstigen Teilnehmer anzustellen. Beide Frauen wissen nicht mehr, als ein paar Fotos im Internet an Informationen hergeben, und kennen auch keinen der anderen Gäste. Deshalb werden unter der Leitung von Sabrina immer wildere Spekulationen über ihre noch unbekannten Urlaubsgefährten angestellt, in deren Verlauf die hoffentlich vorhandenen Männer – buchen Männer Musikkurse in Italien? – immer attraktiver und interessanter und den teilnehmenden Frauen immer mehr optische und musikalische Fähigkeiten abgesprochen werden.

      Für Sabrina ist klar, dass sie beide unbedingt eine Bereicherung für den Kurs darstellen werden. Dabei ist sie natürlich heimlich so ehrlich, das nur für sich selbst anzunehmen. Schließlich weiß Sabrina, was sie kann! Und jeder, der mehr zu bieten hätte, würde sicherlich mit Musik sein Geld verdienen und wäre nicht zur Inspiration oder Perfektionierung seines Könnens auf einen Kurs ohne qualitative Eignungsvoraussetzungen angewiesen. Petra hingegen mag zwar eine erfolgreiche Managerin sein, aber ein ausgesprochenes musikalisches Talent ist sie nach eigenen Angaben nicht, und Sabrina hat keinen Grund zu vermuten, dass sich ihre Chauffeurin übermäßig bescheiden bei der Beschreibung ihres Könnens gibt.

      Das zeigt sich dann auch kurze Zeit später, als den beiden am frühen Nachmittag der Gesprächsstoff ausgeht. Da sind sie bereits kurz vor Bologna. Kurzerhand beschließt Sabrina zu singen. Schließlich sind sie ja auf dem Weg zu einem Musikurlaub und da kann es nicht schaden, schon mal die Stimmbänder zu trainieren. Wenn es der Platz auf dem Beifahrersitz zugelassen hätte, dann hätte sie auch gerne noch mit ihrer Gitarre eine Begleitung angestimmt. Aber diesen Raum bietet nicht einmal der komfortable Schlitten, in dem sie unterwegs sind, wie sie Petra ein bisschen hämisch wissen lässt. Doch auch ohne Gitarre und Liederbuch ist Sabrina eine schier unerschöpfliche Quelle von Songs, die sie zum Besten gibt. Als dann Petra bei einem ihr bekannten Stück für ihre Verhältnisse fast übermütig mit einsteigt, bestätigt sich Sabrinas Vermutung, dass ihre Mitfahrgelegenheit bei der Beschreibung ihres musikalischen Könnens nicht untertrieben hat – zumindest was den Gesang betrifft.

      Trotz einiger schräger Töne vergeht die Zeit wie im Fluge, bis sie von der Autobahn abfahren. Bald folgen sie einer schmaleren Straße und finden sich schließlich recht unvermittelt auf Serpentinen wieder, die sich unermüdlich die Berge hinauf und manchmal auch wieder hinunter schlängeln. Nachdem sie die ersten Kurven der schmalen Straße genommen hat, macht Petra eine amüsierte Bemerkung: „Huch, sind das jetzt die berühmten italienischen Serpentinen? Großartig! Ich bin noch nie Serpentinen gefahren!“

      Doch spätestens als ihr das erste Auto mit großer Geschwindigkeit unvermutet in einer unübersichtlichen