Rengin Agaslan

Linden Fiction 2050 - Utopien zur Stadtteilentwicklung


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Platz neben Ida blieb den ganzen Tag leer. Während Frau Clemens vollbepackt in den Klassenraum hetzte, hievte Achim sein Breakfast2Go auf Serhats Tisch. Immer wenn er es nicht schaffte sich Zuhause was zu schmieren, Mama machte das schon seit Jahren nicht mehr für ihn, holte er sich was bei der Breakfast-Factory am Schwarzen Bären. Sobald Achim damit in der Klasse aufkreuzte, machte Serge große Augen. Serge war dauerhungrig. Haruki auch, aber der trieb zumindest Sport. Die Jungs, gemeinhin blieb dies allerdings an Achim oder Alessandro hängen, tischten deshalb meistens das XXL-Delüxfrühstück auf. Irgendwer schnorrte immer. Der Karton war so groß, dass eine Sahnetorte reingepasst hätte. Achim aber war der Appetit vergangen. Er spürte, dass Nori nicht mehr auftauchen würde. Lustlos tunkte Achim ein Stäbchen Löffelbiskuit in seine Zitronenlimo. Eigentlich zelebrierte er das: das Sprudeln beim Eintauchen, den richtigen Zeitpunkt abzupassen, bevor die Keksspitze ins Glas fiel, um sie dann vollgesaugt im Mund zu versenken. Das schmeckte ein bisschen wie die Zitronen-Erfrischungsstäbchen bei Oma und Opa, nur viel fresher. Er aß die Zuckerstäbchen, um überhaupt was in den Magen zu bekommen. Zur hellen Begeisterung von Hulki, Serhat und Alessandro, die sich gierig über die Blauschimmelkäsestullen, Blaubeerpancakes, den Artischockenbörek und Pflaumensmoothie hermachten. »Alter, Ahmed, was ist denn los mit dir?«, schmatzte Haruki. »Du brauchst doch dein Kraftfutter, sonst gibt’s Ärger von Dr. Lee.« Nur Pablo hatte sofort gecheckt was Sache war und nickte unauffällig rüber zu Idas verwaistem Nachbarstuhl. Nori war weg.

      »Habt ihr Fragen zu 1984?«, eröffnete Frau Clemens den Unterricht.

      Keiner meldete sich.

      »Ich finde das Buch doof«, brach Mirli das Schweigen.

      »Kannst du auch erklären weshalb?«

      »Bei denen gibt’s keine richtige Schokolade. Und die wollen den Orgasmus abschaffen.«

      Die Klasse kicherte. Frau Clemens setzte ihren Böse- Lehrerin-Blick auf. »Ein bisschen ernsthafter, bitte. Ja, Pavel?«

      »Solange es mich gibt, Mädels«, Pablo schaute verführerisch in die Runde, »ist das völlig ausgeschlossen.«

      Wieder Klassenkichern.

      »Und diese Parteivögel«, schob Serge hinterher, »wollten bis 2050 dieses komische Neusprech einführen. Doppelplusungut. «

      »Meine Herrschaften, wenn ihr keine ernsthaften Fragen oder Anmerkungen habt«, setzte die Clemens nach und schaute dabei Pablo und Serge streng an, »können wir ja gleich mal einen Test schreiben und anschließend mit dem Projekt anfangen.«

      Serge fühlte sich angesprochen und wurde plötzlich kleinlaut: »Dieses Doppeldenk habe ich ehrlich gesagt nicht ganz verstanden.«

      »Das ist auch nicht so einfach, Serhat. Kann das jemand erklären? Oder ein Beispiel geben vielleicht?«

      »Ist das Aussichtslos nicht ein Doppeldenk ?« warf Sonny in den Raum.

      »Das musst du näher erläutern«, forderte die Clemens.

      »Na, als damals das Aussichtslos oben auf dem Ihme-Zentrum aufmachte, bezog sich das auf den desolaten Zustand des Gebäudes, quasi auf den Blick nach unten. Vor der Verschickerung war das ja eine einzige Ruine. Die Aussicht war jedenfalls nicht gemeint. In fast hundert Metern Höhe ist die alles andere als aussichtslos. Das Café so zu benennen, war typische Lindener Selbstironie. Wenn da heute Touristen im Aussichtslos ihren Kaffee trinken, verstehen die den doppeldeutigen Namen überhaupt nicht mehr.«

      »Und das ist Doppeldenk ?« Frau Clemens' Frage galt als Appell an die ganze Klasse.

      » Doppeldenk wäre doch eher«, meldete sich Ida zu Wort, »wenn der Big Brother das Aussichtslos in Aussichtsreich umbenannt und das Ihme-Zentrum als Bausünde nie existiert hätte, weil alle Dokumente, die das belegen, zerstört oder manipuliert wurden.«

      »Sehr gut, Ida. Die Vergangenheit besitzt laut der Partei keine objektive Existenz. Deshalb ist die Vergangenheit veränderbar. Gleichzeitig ist die Vergangenheit nie verändert worden. Das ist Doppeldenk in Kurzform.«

      »Aber was ist mit der Erinnerung der Menschen?« hakte Serge nach.

      Ida aktivierte ihr E-Book und zitierte: » Wie sollte man denn die offenkundigste Tatsache beweisen können, wenn außerhalb der eigenen Erinnerung keine andere Aufzeichnung mehr darüber existierte? «

      Achim schreckte hoch. Hatte er wirklich Noris Hand gehalten?

      In den nächsten Wochen drehte sich alles um das Projekt. Der Platz neben Ida war noch immer leer. Das einzige Lebenszeichen von Nori war eine Postkarte. So eine aus Papier, wie sie bei Onkel Wolfgang in Reih und Glied über der Küchenkommode angepinnt waren. Nur nicht so speckig und vergilbt. Nori hatte sogar eine gezähnte Briefmarke draufgeklebt: Als Motiv Pippi Langstrumpf in lässiger Gewichtheberpose, den gar nicht Kleinen Onkel in die Höhe stemmend. Vorne Hälsningar från Sverige - Grüße aus Schweden - auf einem goldgelben Kreuz, ringsherum mittelblaue Seenlandschaften, ein karminrotes Holzhaus und ein fröhlich winkender Elch mit Zahnlücke. Auf der Rückseite in Krakelschrift: Wir treffen uns dort, wo keine Dunkelheit herrscht. Nori. Ihre Geheimniskrämerei war tagelang das Klassenthema Nummer eins. Keiner wusste ihre Botschaft zu entschlüsseln. Warum war sich Achim nur so sicher, sie würde ausdrücklich ihn damit ansprechen? Auch wenn er keinen blassen Schimmer hatte, was sie ihm bedeuten wollte. Während Achim seinen Gedanken nachhing, erläuterte Frau Clemens noch einmal das Projekt: »1984 ist ein sehr düsteres, dystopisches Buch. Für unser Projekt 2084 müsst ihr es nicht wie George Orwell machen. Wir suchen positive Utopien, Zielvorstellungen, die dem Stadtteil und der Stadtpolitik eine Richtung geben können. Neue Ideen, Wünsche, kleine Stücke eines lebenswerten Alltags der Zukunft. Sucht euch euch ein Thema aus oder schreibt darüber, was euch umtreibt, was euch im Stadtteil wichtig ist.«

      »Ich glaube nicht, dass sich viel ändern wird«, bemerkte Achim gleichgültig.

      »Findest du das nicht ein bisschen naiv?«, spöttelte Sonny.

      Die Retourkutsche folgte prompt: »Wieso, Orwell schreibt das doch im Prinzip auch. Moment...« Achim kramte sein E-Book hervor und scrollte auf Seite 244. » Daraufhin entstand eine Schule von Denkern, die die Geschichte als einen zyklischen Prozeß interpretierten und damit zeigen wollten, daß Ungleichheit das unabänderliche Gesetz des menschlichen Lebens sei. «

      »Einen Schwarzseher wie dich hätten die doch längst vaporisiert «, mischte sich Hulki ein.

      Es klingelte zur Pause. Alle sprangen auf.

      »Ein Sekündchen noch!«, rief Frau Clemens. »Denkt bei dem Projekt daran: Die Welt ist nie so gut, wie es sich die Optimisten wünschen, aber auch nicht so schlecht, wie es die Pessimisten sehen. Ich möchte, dass ihr Optimisten seid.«

      Achim versuchte optimistisch zu sein. Hoffte, Nori bald wiederzusehen. Die Sommerferien klopften an die Tür. Und sonst musste er eben auf sie warten. Was sollte ihm diese mysteriöse Postkarte bloß mitteilen? Wir treffen uns dort, wo keine Dunkelheit herrscht. Nori. Gedankenverloren lief Achim durch Linden-Nord. Seine Jungs kamen in letzter Zeit ein wenig zu kurz. »Du mutierst langsam zur Einmannminderheit «, scherzte Pablo kürzlich. Es war die Sorte Scherz, die mindestens ein Fünkchen Wahrheit enthielt. Beim Ravers , gegenüber vom schmucken Hans-A-Platz, war das Schaufenster voll mit den neuesten Neonpullis. Achim hätte am liebsten einen in Neonschwarz gekauft, das entsprach so ziemlich seiner Gemütslage. An die Außenwand der neuen Printer's Paradise -Filiale am Kötnerholzweg hatte jemand »Sorry about you’re wall« gesprüht. Ist schon hart, eine Wand zu sein, dachte sich Achim und konnte zum ersten Mal an diesem Tag schmunzeln. An der Ecke Fössestraße teilte sich ein lavendelblauer Bucklebus in drei Richtungen. Wie reibungslos das Modellprojekt Autofreier Stadtteil 2050 ablief, erstaunte ihn immer wieder. Obwohl ‚autofrei’ nicht ganz stimmte, autoreduziert traf es eher. Am Lindener Hafen stand eines der großen Pendler-Parkhäuser, von dort fuhren im Minutentakt + 24/7 die solarbetriebenen Shuttles Richtung Linden-Mitte und -Nord. Die wenigen Autos mit Kurzzeitberechtigung durften nicht schneller als Schritttempo fahren, und konnten es auch nicht, denn die Straßen Lindens waren längst in Beschlag genommen