Rengin Agaslan

Linden Fiction 2050 - Utopien zur Stadtteilentwicklung


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tummelten sich Drahtesel, Rollbretter und Tretroller aller Arten auf dem Asphalt, mittendrin einige schneidige Rollis, Rollatoren und Kinderwagen.

      In der Rampenstraße, kurz vorm Küchengartenplatz, der seinem Namen wieder gerecht wurde, fiel Achims Blick auf eine digitale Litfaßsäule. Der Teleschirm bestand aus lauter Nullen und Einsen, die ständig ihre Farben wechselten, bevor sie eins wurden mit dem Hintergrund und sich dieser komplett verfinsterte: »Dort wo keine Dunkelheit herrscht« , war auf einmal zu lesen. Tagträumte er etwa? Darunter, in kleineren Buchstaben, las er: »Eine algorithmische Lichtinstallation«. Bevor er einen klaren Gedanken fassen konnte, lösten sich die Buchstaben in Nullen und Einsen auf, um sich wieder zu neuen Buchstaben zusammenzusetzen: »TONIGHT, Lex Ex Machina, Ihmeplatz 4«. Achim schaute zum Campus-Hochhaus. Spähte um sich. Er war allein. Und mit seinem Latein am Ende. War das eben real? Dort, wo keine Dunkelheit herrscht. Hatte er das tatsächlich gelesen? Was hatte Nori damit zu tun? Wie passte das alles zusammen? Achim sammelte sich. Von Lex Ex Machina hatte er schon gehört. Das war ein Kollektiv schräger Kunstaktivisten, die unter ständig wechselnden Projekt-namen in Erscheinung traten. Zuletzt hatten Lex Ex Machina Quelltextlesungen von Suchmaschinen und Dating-Plattformen als politisches Spektakel inszeniert. Wenige Sekunden später blinkte es erneut auf: »Dort wo keine Dunkelheit herrscht – Eine algorithmische Lichtinstal-lation«. Er musste da hin. Sofort.

      Auf dem Ihmeplatz versammelten sich bereits die ersten Besucher. Überall waren Scheinwerfer und Laser installiert und projizierten lauter hüpfende Nullen und Einsen, die zwischen Campus- und Spinnerei-Hochhaus munter in der Luft tanzten und weiter oben in der Abenddämmerung wieder verschwanden. Wie aus einem zeitverkehrten Strudel wurden 0, 1, 0, 1, 0, 1, 0, 1 vertikal in die Häuserschlucht gespült. Erst als es dunkler wurde war zu erkennen, dass die Nullen und Einsen beständig ihre Farbe veränderten. Und es war zu erkennen, wohin sie wanderten: Auf den Türmen links und rechts vom Ihmeplatz 4 sammelten sich die Zahlen und bildeten verschiedene, ständig mutierende Länderflaggen. Die Projektion links war akkurat und rechtwinklig, den echten Fahnen täuschend ähnlich, rechts hingegen war sie unproportioniert und verwaschen. Dort wurden aus Strichen Wellen, aus Sternen Blätter, aus Kronen Kappen, aus Sonnen Sombreros, aus Halbmonden Bananen, aus Hammer und Sichel Messer und Gabel.

      Das Lichtspektakel in dieser tiefblauen, sternenklaren Nacht lockte immer mehr Leute an. Aus allen Richtungen eilten die Menschenmassen herbei: von der Limmer- und Deisterstraße, vom Lindener Markt und Berg, aus der Stadt und selbst vom Land. Je mehr Menschen sich auf den Platz drängten, desto mehr Nullen und Einsen erfüllten den Nachthimmel. Die Flagge Schwedens erschien als eine der letzten. Rechts formte sich eine goldgelbe Lanze. Und bohrte sich in Achims Herz. Wo steckte Nori bloß? War sie noch in Schweden? Oder irgendwo in der Nähe? Konnte sie ihm kein Zeichen geben?

      Das Ihme-Zentrum war mittlerweile erfüllt von Farben, nur weit und breit kein Kupferrot. Achim schaute in der Menge umher, alle sahen gebannt nach oben. Hilflos lief Achim von links nach rechts und wieder zurück. Nichts. Allmählich verschmolzen die unzähligen Nullen und Einsen miteinander, wurden zu einem schwarzen Etwas, das nach und nach jede Farbnuance aus den Türmen verdrängte, und erst den Turm rechts, dann links erfinstern ließ.

      Wir treffen uns dort, wo keine Dunkelheit herrscht . Das hatte Nori geschrieben. Nur wo sollte das sein? Wie konnte er sie finden? Während das Publikum zu seinen Wohnungen und den Ausgängen des Ihme-Zentrums strömte, begab sich Achim zum eben noch illuminierten Campus-Hochhaus. Intuitiv nahm er die Treppe. Wie ein hängengebliebener Schrittzähler zählte Achim Schritt für Schritt. 0, 1, 0, 1, rechter Fuß, linker Fuß, rechter Fuß, linker Fuß. Erster Stock. 0, 1, 0, 1, rechter Fuß, linker Fuß, rechter Fuß, linker Fuß. Zweiter Stock. 0, 1, rechts, links. 0, 1, rechts, links. Etage um Etage, 0, 1, der Trance schon nahe, rechts, links, bis nach oben. Aussichtslos . Und das war es. Buchstäblich. Eine frische Brise ließ ihn erschaudern. Zwei Minuten hasste er die Welt. Er blickte in die Tiefe. Klammerte sich ans Geländer. Der Ihmeplatz glich einem Ameisenhaufen, die dunklen Punkte bewegten sich wie ferngesteuert, nach einem System, das er nicht durchschaute. 0, 1. Sein Blick wanderte zur Ihme. Links, rechts. Von der Ohnesorg-Brücke nach Süden. Zum Stadion und Schützenplatz. Das Riesenrad drehte und drehte und drehte sich. Immerzu grell blinkend. Der Hai-Tower -Hai zwinkerte unermüdlich herüber. Die drei warmen Brüder grüßten nicht zurück. Achim überfiel eine tiefe Müdigkeit. Versank immer tiefer in dem Wirrwarr seiner Gedanken. 0, 1, rechts, links. Von hinten vernahm er eine Stimme. Wie die einer Nymphe. Sie sang eine liebliche Melodie: » Just wait until it's over / Just wait until it's through« . Seine Hand löste sich vom Geländer. Sie schwitzte gar nicht. Da war noch eine andere Hand. Rau und warm. Zart erfasste ihn ein sommerlicher Luftzug. Verführerisch der Vanilleduft, der ihn umwehte.

      Text von Stefan Thoben

      Ein Schultag

      Die Tür klemmte. Wie immer. Same procedure as every day! „Kacke, verdammt!”, stieß sie hervor und fügt dann ein entschuldigendes „Astaghfirullah” hinzu. Fluchen war befreiend, aber zunächst mal ziemlich unislamisch, zumindest gemäß Schema F. „Scheiß drauf“, dachte sie in solchen Fällen. Wenn die Menscheit zu sündigen aufhörte, würde Allah eine andere erschaffen! hieß es außerdem in einer authentischen islamischen Überlieferung. Nicht jedem leuchtete diese Logik sofort ein. Herrn Lizba jedenfalls nicht, dessen Gehör angesichts seiner 85 Jahre wirklich in imposantem Zustand war. Soeben lugte er missbilligend hinter der vergilbten Spitzengardine hervor. Es gab nichts, was man vor seinen Augen oder Ohren verbergen konnte, sogar Streitereien verfolgte er irgendwie über zwei Stockwerke hinweg, indem er seine Ohren an die metallene Therme presste.

      Sie tat so als hätte sie nichts bemerkt und versetzte der frisch gestrichenen Tür einen Extra-Tritt, weil sie wusste, dass Herr Lizba sich darüber noch mehr aufregen würde. Im Prinzip mochte sie alte Leute aber manche Stasitypen nervten einfach, ungeachtet ihres Alters. Dann holte sie das Fahrrad unter der Plane hervor. Das Schmuckstück konnte auch mal wieder eine Überholung gebrauchen. Heute war ja Mittwoch, fiel ihr ein. Ab fünf hatte die Stadtteil-Werkstatt geöffnet. Das mit den kostenlosen Fahrrädern war eine tolle Idee gewesen. Eine Aktion der linken Spirituellen, die seit letztem Jahr im Landtag die Mehrheit bildeten. Die Schrippen waren strunzhässlich und primitivst, klauen tat sie daher keiner, aber sie rollten! Seitdem Hannover noch grüner und außerdem autofreie Zone war, machte das Radfahren sogar im Winter Spaß. Naja, fast. Jedenfalls tat es wirklich gut. Sie schluckte den Rest Avocadobrötchen runter, schwang sich auf die rostige Möhre und trat kräftig in die Pedale. Es war noch kühl und ein selten klarer Tag. Früher fuhren benzinbetriebene Autos sogar in ihrer Straße und es hatte immer ziemlich gestunken. Das wusste sie noch gut. Jetzt roch die Luft irgendwie nach Paradies. So wie früher nur in den Stadtrandgebieten, zum Beispiel in diesem Wäldchen bei Marienwerder, und selbst da nicht immer. Während sie um die Ecke rollte, blendete die Sonne sie unnötigerweise just in der Sekunde, als sie auf die Apothekenuhr guckte und beinahe hätte sie die junge Frau vor sich mitgenommen. Schon zehn vor zehn! Blöd! Zuspätkommen war zwar kein Problem bei Gesa, aber trotzdem waren meist alle pünktlich. Sie wollte das Frühstück und die erste Stunde auch auf keinen Fall verpassen. Tai-Chi ballerte, fand sie. Diese taoistische Mischung aus Ruhe und Bewegung war eigentlich genau Islam, und noch genialer als Za-Zen, was sie letztes Halbjahr gehabt hatten. „Das ist Bidaa!“ hatte der Salafi-Typ von gegenüber ihr kürzlich erklärt. Eine ‚unislamische Neuerung’ also. „Das wüsste ich aber“, hatte sie entgegnet. Um religiös fundierte Argumente war sie nie verlegen. Suchet die Weisheit, und wenn Ihr bis nach China gehen müsst! , hatte sie den Propheten zitiert. Und das war eine verdammte Lebensaufgabe! Der wahre Märtyrer, das wusste eigentlich jeder der die islamischen Basics kannte, war jemand, der sein Leben der Suche nach Wahrheit, Weisheit und Wissen widmete und alles, was heilte, war per se islamisch, denn die Wortwurzel des Wortes Islam bedeutete ‚heil sein’. Praktisch jeder wusste das. Nur der natürlich nicht. Kategorie gewaltaffiner Versager, der rein zufällig beim Islam gestrandet war und ihn zu einer Fascho-Ideologie zu verdrehen versuchte. Früher wäre er vermutlich bei der NPD gelandet. Es war nicht nur die Freiheit, die Pluralität, das Multikulti, das viele heute überforderte. Manche kamen auch schlichtweg mit dem Glück nicht klar. Komisches Phänomen!

      Sie hielt kurz an, um an diesem