Tobias Fischer

Veyron Swift und das Juwel des Feuers: Serial Teil 3


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vereinzelt ein paar Lämpchen den Weg wiesen, wurde es um die Boote herum zudem recht dunkel. Stunden vergingen wie Tage, und die Tage glichen einer Ewigkeit. Sie alle verloren jedes Zeitgefühl. In der fast vollkommenen Stille schliefen sie bald ein und wurden nur kurz wach, wenn der Kahn schaukelte oder sich jemand räusperte.

      Sie verließen die Regenbogengrotte und kamen in ein Höhlenlabyrinth, in dem die Edelsteinkolonien anderen fantastischen Kristallformationen wichen, die dank des Lichts der Elbenlampen in der Finsternis bläulich schimmerten.

      Tamara schlief die ganze Fahrt über, lag zusammengekauert, schwitzend und zitternd im hinteren Bootsteil, drehte sich mal hierhin, mal dorthin. Sie bekam Fieber, und der Kampf gegen die Wunden zehrte ihre Kräfte auf. Veyron und Tom beobachteten sie voller Sorge, auch Faeringel schenkte ihr ihre Aufmerksamkeit. »Schratwaffen sind oftmals giftig. Sie werden nie geputzt und kommen mit allerhand Dreck und Unrat in Berührung. Die Wunden haben sich entzündet. Unser Trank vermag, den Tod von ihr fernzuhalten, doch um sie zu retten, braucht es die Heilkunst des Palastes. Außerdem liegt ein Schatten auf ihr, der ihre Genesung verhindert. Ich vermag nicht zu erkennen, was es ist, doch ich sehe den Kampf in ihrem Inneren«, meinte der Elb mit unheilschwangerer Stimme.

      »Es ist der Widerstreit ihres Gewissens, der jetzt seinen Höhepunkt erreicht«, erklärte Veyron. »Sie war einmal erfüllt von Idealismus, von der Vision einer besseren Welt. Dafür wollte sie kämpfen, für die Freiheit der Menschen. Doch nach und nach zerbrachen ihre Träume. Was von der Freiheit übrig blieb, war nur bittere Wahrheit. Die hehren Ziele verkamen zu einem Schönreden des Wirklichen, um damit den Kampf, dem sie sich verschrieben hatte, weiter zu rechtfertigen, obwohl er längst verloren war. Keinem einzigen Menschen brachte sie die Freiheit, jedoch zahlreichen den Tod. Sie wurde zu einer Gejagten, gefürchtet und gehasst, anstatt geliebt und verehrt zu werden.

      Welcher normale Mensch wird schon gerne gehasst und verachtet? Die letzten Menschen, die ihr noch Liebe und Verständnis entgegenbrachten, sind jetzt tot oder liegen im Sterben. Wir können uns nicht vorstellen, wie viel Kraft sie das alles gekostet hat, wie viele Nächte sie wach gelegen haben muss. Pausenlos drehten sich ihre Gedanken um ihr Tun, doch solange jemand bei ihr war, der für die gleichen Ideen einstand, kam ihr der Kampf nicht gänzlich sinnlos vor. Nun ist alles dahin – wie soll sie jetzt weiterleben? Für was soll sie noch kämpfen? Welchen Sinn macht es überhaupt noch, auf dieser Erde zu weilen?

      Verdient Tamara Venestra daher nicht unser Mitleid? Hat sie denn nicht auch ein Recht darauf, geliebt und geachtet zu werden?«

      Tom betrachtete seinen Paten aus großen und überrascht aufgerissenen Augen. Plötzlich bekam er ein schlechtes Gewissen, weil er Tamara gestern noch den Tod gewünscht hatte. Unter keinen Umständen wäre er bereit gewesen, ihr zu vergeben. Jetzt aber, wo er sah, welche Gedanken seinen Paten beschäftigten, kam er sich selbst kaltherziger vor, als er es Veyron je vorgeworfen hatte.

      Er musste schlucken, bevor er sagte: »Ich habe geglaubt, Ihnen sei das Schicksal der Menschen völlig egal. Für Sie gäbe es immer nur knallharte Fakten und Informationen. Doch jetzt …«

      »Jetzt siehst du mich um Tamara unsichtbare Tränen vergießen. Ja, so ist das mit mir. Veyron Swift leidet im Stillen, einsam und für sich selbst. Um mich herum geschieht so viel Unrecht. Menschen sterben, ich stehe nur daneben und analysiere, kalt und unnahbar – und doch leide ich immerzu. Ich leide und trauere still und verborgen, niemals darf ich mich offen meiner Trauer hingeben, mein Verstand verbietet es. Es würde meine Urteilskraft zu stark beeinflussen. Ich würde meine Unabhängigkeit verlieren und damit die Fähigkeit, die Dinge so zu sehen, wie sie sind.« Er lehnte den Kopf zurück, schloss die Augen und sog die kühle Luft der Höhle ein. »So schön diese Höhle auch ist, sie trübt meine Gedanken. Ich fange an, mich der Melancholie hinzugeben. Ich brauche Informationen, Tom. Informationen, um meinen Verstand daran zu wetzen. Das ist es, wofür ich geschaffen bin. Ruhe und Frieden, diese Dinge liegen mir nicht.«

      Die Reise mit den Booten führte sie an zahlreichen weiteren Anlegestellen vorbei, welche die Talarin in dem Labyrinth unterhielten. An einer von ihnen frischten Faeringels Leute ihre Vorräte auf und versorgten die Wunden der Verletzten. Der golden schimmernde Heiltrank bewirkte zumindest bei Tom wahre Wunder. Der Fenris-Biss war im Nu verheilt, nur ein paar rote Punkte blieben auf der Haut zurück. Veyron und Nagamoto bekamen Gelegenheit, sich die Beine zu vertreten und sich einige der wunderschönen Kristallformationen genauer anzusehen. Nach kurzem Schlaf ging die Reise weiter. Dreimal legten sie solche Stopps ein, bis die Boote an einer letzten Anlegestelle festmachten. Sie lag in einer relativ schmucklosen Grotte, in der nur wenige Edelsteineinschlüsse im Felsgestein glitzerten. Von dort aus mussten sie erneut eine hölzerne Treppe erklimmen und kamen endlich wieder ins Tageslicht. Für Tom schien es eine Ewigkeit her zu sein, tatsächlich hatten sie jedoch nur drei Tage in der Finsternis verbracht.

      Jetzt standen sie auf der anderen Seite der Himmelmauerberge. Zum ersten Mal konnten sie das Gebirge in seinem ganzen gewaltigen Ausmaß bestaunen. Wie ein Ring schien es das ganze Land zu umschließen, lediglich im Südwesten waren keine Berge zu sehen. Die Wälder wuchsen bis an die Schneegrenze, darüber die mächtig emporragenden Gipfel, überzogen von der weißen Pracht. Zu Füßen der titanischen Berge und ihrer großen Wälder lagen die Ländereien Fabrillians. Das ganze Land war eine hügelige Ebene, nur hier und da erhob sich eine Anhöhe oder unterbrach ein See die Hügellandschaft. Sie sahen Wiesen, die einem Teppich gleich über dem ganzen Land lagen. Weiter südlich ging das saftige Grün in ein regenbogenbuntes Blumenmeer über, während der ganze Norden des Landes nur aus Wäldern bestand.

      Nachdem sie einen stundenlangen Abstieg zurücklegt hatten, kamen sie zu einem weiteren Fluss, diesmal groß und breit. Er führte in Schlangenlinien von den Bergen im Norden nach Süden, bis er mit dem Dunst des Horizonts verschmolz. Am Ufer des Flusses standen weitere Boote für sie parat, größer als die in der Höhle und auch von anderer Form, lang und schmal. Jedes Boot war mit sechs Rudern ausgestattet. Die Elben setzten sich an die Riemen, während Faeringel am Heck das Steuer übernahm. Als alle an Bord waren, legten die Boote ab, und sie ruderten den Fluss hinunter. Die Reise ging nun weitaus schneller voran, fast schon im Eiltempo.

      Obwohl es bereits Mitte August war, standen in Fabrillian die Felder noch immer in voller Blütenpracht. Tausende Bienen und daumenlange Hummeln sowie Schmetterlinge, groß wie die Tatzen eines Bären, tanzten um die Boote, eilten von einem Blumenhain zum anderen. Nirgendwo fand sich in diesem wunderbaren Land ein Zeichen von Tod und Verderben. Veyron meinte zu Tom, dass hier eindeutig ein Zauber am Werk sei, der dieses Land jung und lebendig hielt. Tom dachte jedoch nicht an Zauberei, sondern daran, hier den Rest seines Lebens zu verbringen. Kein Land, von dem er wusste, konnte es mit der vielfältigen Schönheit Fabrillians aufnehmen.

      Soweit das Auge reichte, zogen sich ausgedehnte Lavendelfelder über die abfallende Hügellandschaft, unterbrochen von einigen Flecken Rosa, Rot, Weiß, Gelb, Blau und Violett. Faeringel ließ ihn wissen, dass Fabrillian das elbische Wort für Blumenreich war. Tom fand, dass es keinen besseren Namen für dieses Land gab. Dies war das Paradies, von dem die Menschen seit jeher träumten, verborgen hinter einem unsichtbaren Vorhang, obendrein von einem unüberwindbaren Gebirge umzingelt und so von allen anderen Ländern Elderwelts abgeschirmt.

      Am frühen Abend – sie waren den ganzen Tag unterwegs gewesen und hatten sicher an die 300 Kilometer zurückgelegt – erreichten sie endlich Fanienna, die große Hauptstadt Fabrillians. Hinter ihren Mauern teilte eine gewaltige Klippe das ganze Land von Ost nach West und fiel fast dreihundert Meter senkrecht in Tiefe.

      Als wären sie aus purem Gold, erhoben sich im hellen Sonnenschein die ersten Gebäude der Stadt aus dem Grün eines weiten Waldes. Das Boot hielt in einem kleinen Hafen, nur wenige hundert Meter außerhalb der Stadt. Hier wurde der Fluss breit und bildete einen See. Die Hafengebäude waren relativ einfach gehalten, aus weißem und silbrigem Holz gebaut, doch so schön und kunstvoll, wie es nur Elben verstanden. Das Boot wurde von einigen blau gekleideten Elben an die Kaimauer gezogen und vertäut.

      »Von hier aus müssen wir zu Fuß weiter«, verkündete Faeringel und sprang auf die Mauer. »Der Fluss verlässt diesen See in viele Richtungen, durch die Stadt können wir mit dem Boot nicht fahren. Aber der Weg ist nicht weit. Nun kommt, die Königin erwartet uns bereits.«