V. A. Swamp

Sonnig mit heiteren Abschnitten


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       Mein Vater hat von dem ganzen Geschehen nichts mitbekommen. Er ging prinzipiell nicht zu solchen Veranstaltungen. Meine Mutter hat ihm auch nie erzählt, was geschehen war. Ich glaube, sie hat sich selbst vor ihm geschämt.

      Ich bin plötzlich furchtbar müde. Außerdem habe ich im Moment ohnehin keine Geschichte mehr …

      Gängelei und Brutalität

      Mir geht es nicht schlecht, ich kann SCHÖNSTE HÄNDE ausgiebig betrachten. Sie sieht toll aus. Sie ist ganz in Blau gekleidet. Das ist ein schöner Kontrast zu ihren blonden Haaren. Ich frage mich, wie sie mit ihrer natürlichen Haarfarbe aussehen mag. Ich bevorzuge brünette oder dunkelblonde Mädchen. Ich mag den Geruch von naturblonden Mädchen nicht. Das erste Mädchen, mit dem ich geschlafen habe, war naturblond. Sie roch und schmeckte nach Baby, ein wenig schleimig und säuerlich.

      Strawinsky fragt mich, ob ich einen Lieblingswitz habe. Mit dieser Frage habe ich nicht gerechnet. Ich überlege und komme zu dem Schluss, dass ein unanständiger Witz vielleicht nicht angebracht ist. Also erzähle ich ihm den jüdischen Witz mit dem Butterbrot. Das fällt runter und landet nicht auf der Butterseite. Das löst große Verwunderung und Verwirrung aus. Auch die philosophischen Betrachtungen des Rabbis können die Sache nicht aufklären. Erst der Ober-Rabbi findet die Lösung: Das Brot wurde auf der falschen Seite geschmiert. Ich weiß, das ist kein Brüller, aber Strawinsky lächelt. Wahrscheinlich aus Höflichkeit. Ich habe den Witz einmal im Kreis von ein paar Mädchen erzählt. Keine von denen hat gelacht. Nicht einmal gelächelt. Ich lege mich auf die Liege.

       Ich würde gerne etwas mehr über Ihren Vater erfahren.

      Das war genau die Frage, die ich hatte vermeiden wollen. Und wo soll ich anfangen?

       Mein Vater war ein Arschloch.

       Können Sie das erläutern?

       Wie viel Zeit haben wir?

       Fangen Sie bitte an.

       Ich weiß wenig von dem, warum mein Vater so war, wie er war. Seine Eltern waren einfache Leute. Die Mutter kam vom Bauernhof irgendwo in Westfalen. Da war es Usus, dass die Mädchen eine anständige Mitgift bekamen, wenn sie den Hof verließen. Davon konnte mein Großvater ein Mietshaus bauen, in dem sie dann alle lebten. Dann bekamen sie diesen Wunderknaben, meinen Vater. Meine Großeltern hatten eine einfache Schulbildung. Ich glaube über die Volksschule sind die nicht hinausgekommen. Ihr Sohn aber erhielt eine Empfehlung fürs Gymnasium. Und dann machte der auch noch das beste Abitur seines Jahrgangs. Auch entpuppte er sich als herausragender Leichtathlet. Auf der Universität gehörte er ebenfalls zu den Besten und seine Professoren sahen in ihm den kommenden führenden Sportwissenschaftler. Dass er damals schon nervenkrank war, passte nicht zum Bild dieses Vorzeigemenschen. Deshalb wurden seine nervliche Probleme einfach unter den Teppich gekehrt und allen anderen, auch meiner Mutter, verheimlicht.

       Nervliche Probleme?

       Ach zum Teufel, ich weiß nicht, welche Krankheit das war. Am Anfang war das wohl nur ein leichter Tremolo, oder die Unfähigkeit, an manchen Tagen seine Hände koordiniert einzusetzen. Das versuchte mein Vater immer, mit festem Willen zu überspielen. Erst die Kriegszeit und vor allem die Gefangenschaft ließen wahrscheinlich die Krankheit voll aufbrechen.

       Haben Sie die nervlichen Probleme beobachtet?

       Ich habe mich schon gewundert, dass ich nie sah, dass er auch nur eine einzige Zeile schrieb. Alles Schriftliche musste meine Mutter erledigen. Seine Unterschrift kritzelte er wie ein Analphabet. Deswegen konnte er auch seine Doktorarbeit nicht zu Ende zu bringen. Auch ans Klavier setzte er sich nie, obwohl es hieß, dass er vor dem Krieg ein exzellenter Klavierspieler gewesen sei. Selbst telefonieren fiel ihm schwer. Er legte den Hörer zur Seite, nahm einen Stift und betätigte damit ungelenk die Wählscheibe. Dann führte er den Hörer unter großen Anstrengungen ans Ohr. Als ich diese Dinge beobachtete, habe ich mir weiter nichts dabei gedacht. Ich bin sowieso meinem Vater, wann immer möglich, aus dem Weg gegangen.

       Konnte Ihr Vater arbeiten?

       Selbstbestimmt schon. Er besaß einen starken Willen und große Überzeugungskraft. Er sah immer sehr gepflegt aus und sprach ein exzellentes Deutsch. Er war damit den meisten Männern deutlich überlegen. Er konnte zwar die Angebote seiner Studien- und Korporationsfreunde, die alle nach dem Krieg Karriere im Schuldienst machten, nicht annehmen. Aber sein enormes Wissen befähigte ihn, Nachhilfe in Schule und Erwachsenenbildung zu geben. Sein Arbeitszimmer und teilweise unser Esszimmer waren jeden Tag proppenvoll mit Schülern, Studenten und anderen Erwachsenen, denen er half, Lücken zu stopfen. Ich glaube, das machte er wirklich gut. Wir wären ja auch sonst verhungert. Meine Mutter hat nach dem Krieg nicht mehr gearbeitet.

       Wie lange hat er sein Arbeitsleben durchgehalten?

       Exakt bis zu seinem 65. Lebensjahr. Dann bekam er Rente und zeitgleich brachen schwere Depressionen auf. Er hatte bis dahin immer Stärke propagiert. Als er erfuhr, dass sich sowohl der zweite Mann meiner ersten Ehefrau, als auch der Mann meiner dritten Ehefrau umgebracht hatten, zeigte er dafür keinerlei Verständnis. Selbstmörder waren für ihn schwache, lebensunfähige Gestalten. Das passte wahrscheinlich nur so in sein nationalsozialistisches Weltbild von den starken, lebenstüchtigen Ariern. Auf einmal war das alles vergessen, und er versuchte sich mehrmals selbst das Leben zu nehmen. Ich habe das einmal beobachtet, als er an den blanken Drähten einer abmontierten Deckenleuchte in der Waschküche rumfummelte. Er war handwerklich eine hundertprozentige Niete und auch in seinen Selbstmordversuchen zeigte sich sein gesamtes Ungeschick. Ich hatte jedenfalls Zweifel, ob man das wirklich ernst nehmen konnte. Er kam dann in ärztliche Behandlung und ich habe ihn kurze Zeit vor seinem Tode noch einmal in den Heilstädten; in denen er letztlich verstarb, besucht. Aus ihm war eine jämmerliche Gestalt geworden, die nichts mehr mit dem hagestolzen, herrischen Mann, der einmal mein Vater war, zu tun hatte.

      Ich mache eine Pause, um Strawinsky Gelegenheit für eine Frage zu geben. Aber er schweigt. Wahrscheinlich ist er eingeschlafen. Ist ja auch keine spannende Geschichte, die ich ihm da erzähle. Nach dem Tod meines Vaters begann das große Reinemachen. Meine Mutter und meine Großmutter entsorgten mithilfe meines Bruders die wissenschaftlichen Unterlagen meines Vaters. Es waren Hunderte von Büchern und Tausende von Zeitschriften aus der Sportwissenschaft. Ich war zu dieser Zeit schon zwei Jahrzehnte in Berlin. Mein Bruder fand im Nachlass meines Vaters die von ihm vor dem Krieg begonnene Doktorarbeit. Er übergab mir die verstaubte, vergammelte Ledermappe und ich hob sie auf, bis ich selbst in Rente ging. Als ich die Mappe dann öffnete, sah ich, dass irgendwer nach dem Krieg seine Manuskripte sauber abgetippt hatte. Die Arbeit war gut lesbar. Er hatte sie immer wie einen besonderen Schatz gehütet. Ich weiß, dass er mehrfach von Wissenschaftlern um Einsicht in die Arbeit gebeten wurde. Er hat sich stets geweigert. Ich weiß nicht, ob er meinem Handeln zugestimmt hätte, wahrscheinlich eher nicht. Ich habe mir die Arbeit vorgenommen, diese überarbeitet, fehlende Texte ergänzt und posthum unter seinem Namen veröffentlicht. Damit ist mein Vater dann doch noch in die Sportgeschichte eingegangen. Das muss ich Strawinsky aber nicht unbedingt erzählen.

       Warum bezeichnen Sie Ihren Vater als Arschloch?

       Weil er von Kindererziehung nichts verstand und Liebe sowie Zuneigung für ihn Fremdworte waren. Weil er mir immer Angst einflößte. Weil er sich immer selbst zum Maßstab aller Dinge erhob und allen anderen, vor allem mir, die Luft zum Leben nahm.

       Die Luft zum Leben?

       Ich bin in einer freudlosen Familie aufgewachsen. Gefeiert wurde so gut wie nie. Feiertage wie Weihnachten waren immer eine Katastrophe, weil der Krach zwischen meinen Eltern meist schon einige Tage vorher begonnen hatte. Die Anlässe waren immer nichtig. Streit über die Auswahl der Geschenke zum Beispiel. Streit über die Art und Größe des Christbaumes, die Farbe der Tischdecke oder, wie meine Mutter zu sagen pflegte, über die Fliege an der Wand. Jeder Anlass war willkommen,