Dieter Eppler

Blindflug Abu Dhabi


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nicht los, als hätte bereits jemand die Grube geschaufelt, in der man den Riesenvogel nach seinen letzten Zuckungen vergraben und endgültig aus dieser Welt schaffen möchte.

      Nachdem ich sämtliche Schüler am Ziel abgesetzt habe, fahre ich zügig nach Hause und setze mich sogleich vor den Fernseher. Im Verlauf der folgenden Stunden zappe ich mich durch die Berichterstattung auf allen möglichen Schweizer Kanälen. Die Aussagen sind wirr, lückenhaft, widersprüchlich. Staunend und ungläubig nehme ich zur Kenntnis, was sich an diesem Nachmittag in Kloten abspielt. Plötzlich wird mir das Ganze zu viel. Ich springe vom Sofa, suche die Nummer des Generalimporteurs einer bekannten deutschen Automarke und greife zum Telefon. Ob sie sich vorstellen könnten, einen 44-jährigen Piloten, flexibel, interessiert und vielseitig einsetzbar, in ihrem Betrieb zu beschäftigen?, frage ich. Den Namen meines Arbeitgebers lasse ich bewusst weg, obwohl dies kaum nötig gewesen wäre. Die Dame antwortet so freundlich wie spontan: «Das können wir uns grundsätzlich schon, allerdings nicht zum gleichen Salär, wie Sie das gewohnt sind.»

      Ich spüre zunehmende Machtlosigkeit. Wieder vor dem Fernseher, realisiere ich nach und nach, wie das Kartenhaus unweigerlich in sich zusammenfällt. An Details kann ich mich nicht mehr erinnern, ich habe sie wohl verdrängt. Irgendwann folgt der Todesstoss: Aus finanziellen Gründen ist die Swissair nicht mehr in der Lage, ihre Flüge durchzuführen … Das war’s dann wohl. Schluss. Aus. Ende der Durchsage.

      Narrenfreiheit – kollektive Unzufriedenheit

      Dem Grounding folgen turbulente Zeiten. Zwischen stillen Protestaktionen mit Gleichgesinnten, am Flughafen und vor den grossen Bankenhäusern der Stadt Zürich, suche ich, gemeinsam mit meiner Frau Franziska, nach beruflichen Alternativen. Als Vater von drei Kindern mag ich nicht bloss hoffen und warten.

      Irgendwann landet ein Video der Schweizer Schule in Singapur auf unserem Küchentisch. Auch in Singapur fliegen Schweizer Piloten. Doch die Begeisterung der Familie, insbesondere die der Kinder, hält sich in Grenzen.

      Der Pilotenverband AEROPERS indes organisiert regelmäs­sig Versammlungen, zu denen auch Partnerinnen und Ehefrauen eingeladen sind. Solidarität ist gefragt wie nie zuvor. Materielle Ängste und Zukunftssorgen plagen sämtliche Swiss­air-Angestellten in hohem Masse. Wir hoffen auf den Rettungsring von Wirtschaft und Politik, allein, es fehlen Mut und Entschlossenheit zum Wurf. Aus heutiger Sicht betrachtet, mutet das damalige Ringen um Finanzhilfe geradezu lächerlich an. Die nationale Airline, die mit ihrem hervorragenden interna­tionalen Renommee ein exklusives Netz schweizerischer Tugenden um unseren Globus gesponnen hat, lässt man qualvoll zugrunde gehen. Ein allfälliger Reputationsverlust spielt keine Rolle.

      Viele verlassen das sinkende Schiff, nicht alle tun dies freiwillig. Die Erleichterung der Bleibenden mischt sich mit Skepsis. Der viel beschworene Phönix steigt aus der Asche, räkelt sich im grellen Sonnenlicht, um alsbald schon in einen bedrohlichen Sturzflug überzugehen. Die Führung der neuen Airline agiert unsicher. Es fehlt ihr zweifellos an Erfahrung. Die vormaligen Manager der Crossair stapfen unvermittelt in grösseren Schuhen durch die Hallen des Zürcher Flughafens. Allerdings ohne dass ihre Füsse entsprechend gewachsen wären. Keine politische Instanz gebietet dem weiterhin raschen Abfluss wertvoller Geldmittel Einhalt.

      Aus der heutigen Perspektive erstaunt mich allerdings weit mehr, dass niemand aus dieser Geschichte gelernt hat. Denn keine zehn Jahre später sind es die Bankinstitute selber, die am Abgrund stehen. Aus den Königen sind Bettler geworden – ein Stoff, bei dem die Gebrüder Grimm vor Wonne in die Hände geklatscht hätten! Doch den Banken wird, anders als seinerzeit der serbelnden Swissair, grosszügig unter die Arme gegriffen. Mehr noch, die Manager grosser Geldinstitute geniessen weiterhin Narrenfreiheit. Man lässt sie widerspruchslos gewähren. Ungeachtet der Tatsache, dass in diesen Fällen massiv höhere Rettungskredite als bei der Swissair zugesprochen wurden.

      Jene Banker, die sich im Herbst 2001 über Ethik und Fairness hinwegsetzten und anschliessend – ohne mit der Wimper zu zucken – vor laufender Kamera andere brandmarkten, verrichten ihre Geschäfte auch heute noch ungestraft. Zwar deutet sich in politischen Kreisen zunehmender Missmut über die unangetastete Narrenfreiheit in dieser Branche an, doch die Veranlassung, dem munteren Treiben Einhalt zu gebieten, fehlt schlichtweg.

      All animals are equal, but some animals are more equal than others.

      Dass die Swiss in ihren ersten beiden Jahren überlebt, ist keine Selbstverständlichkeit. Noch weniger, dass sie sich, kaum auf eigenen Beinen stehend, zu einer bedeutungsvollen Stütze im Rahmen des Lufthansa Konglomerats mausert.

      Viele sind nach dem Zusammenbruch der Swissair dankbar, weiter in der Fliegerei beschäftigt zu bleiben. Ich bin einer von ihnen! Dankbar, meinen Arbeitsplatz im Cockpit behalten zu können. Doch die Identifikation mit dem neuen Arbeitgeber ist nicht vorhanden. Die Swiss ist Arbeitgeber, die Swissair war Berufung.

      Die Schweizer Luftfahrt hat im Verlauf der vergangenen Dekade zahlreiche persönliche Schicksale gefordert. Sie hat aber, so abgedroschen dies klingen mag, auch unendlich viele bis anhin verschlossene Türen geöffnet. Ehemalige Swissair-Angestellte sind ausgeflogen in alle Welt. Sie haben die Branche gewechselt, innovative Herausforderungen angepackt, neue Karrieren lanciert. Mit unterschiedlichem Erfolg. Doch wer erkennt, dass kollektive Unzufriedenheit jeglichem Erfolgserlebnis abträglich ist, wird früher oder später handeln. Muss handeln. Mit einem kleinen Risiko zu scheitern, und einer beträchtlichen Chance zu gewinnen.

      Und genau aus diesem Grund habe ich mich im Sommer 2005, knapp vier Jahre nach dem Grounding, dazu bewegen lassen, ein interessantes Angebot aus den Vereinigten Arabischen Emiraten näher zu prüfen. Die aufstrebende «Etihad Airways» hat noch keine zwei Jahre auf dem Buckel. Die Rahmenbedingungen klingen vielversprechend, derweil die Swiss – man höre und staune – mit einer befristeten Rückkehroption für das beruhigende Auffangnetz sorgt.

      Franziska macht aus ihrer Begeisterung für ein mehrjähriges Wüstenabenteuer kein Hehl. In mir dagegen wehrt sich etwas. Ich fühle mich hin- und hergerissen. Angetan vom Reiz des Neuen, Unbekannten, gleichzeitig bestrebt, unsere materielle und soziale Sicherheit nicht zu gefährden. Die Wahl zwischen der Integriertheit im vertrauten Umfeld und der Oberflächlichkeit des Expatlebens, zwischen Swiss und Etihad, kurz – zwischen Heimat und Neuland – fällt mir alles andere als leicht.

      Die nächsten Tage und Wochen steigern sich unwillkürlich zum Wettlauf der Zeit und der Emotionen. Nicht wenige Male arten die unzähligen Diskussionsrunden am Familientisch in hitzige Wortgefechte, mitunter in Tränen des Protests aus. Franziska scheint entschlossen, doch weder die Kinder noch ich tun sich leicht. Tim, der Älteste, sieht seine Eishockeykarriere wortwörtlich im Sand verlaufen, Linda will auf keinen Fall aufs Unihockey verzichten und Nina, die Jüngste, möchte unseren Hund Cicchi nach Abu Dhabi mitnehmen. Hinzu kommt, dass auch Geschwister, Eltern und Freunde unsere Pläne skeptisch kommentieren. Wir stehen vor einer Entscheidung, deren Konsequenzen schwer einzuschätzen sind. Schweiz oder Vereinigte Arabische Emirate? Alltagstrott oder Abenteuer? Berge oder Wüste?

      Ich fühle mich so unentschlossen wie selten zuvor.

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