Ana Dee

Zwillingsschmerz


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war erneut den Tränen nahe. Ihr schlimmster Albtraum schien sich zu verselbstständigen.

      „Wie sieht das Mädchen aus?“

      „Genauso wie unsere zweite Tochter, sie sind Zwillinge.“

      Der stämmige Typ hielt sich das Funkgerät an die Lippen und forderte seine Mannschaft sofort dazu auf, das gesamte Gelände nach Marie zu durchkämmen.

      „Wenn Ihre Tochter nicht auftaucht, müssen Sie die Polizei verständigen.“

      Marlenes Herzschlag setzte für eine Schrecksekunde aus. Sie hatte von Anfang an gespürt, dass irgendetwas nicht stimmte. Sicher, die Mädchen waren oft quirlig und hatten ihren eigenen Kopf, aber noch nie war eine von ihnen fortgelaufen. Mia und Marie waren eineiige Zwillinge und hingen meist wie Kletten aneinander.

      Frank fand als Erster die Sprache wieder. „Wir sollten Marie suchen und nicht länger unsere Zeit vertrödeln.“

      Er nahm Mia auf den Arm und eilte voraus, während Marlene ihm wie in Trance folgte. Sie liefen den Weg, den sie bisher genommen hatten, mehrmals auf und ab, bevor sie sich hinter den Ständen umschauten.

      Nach einer Stunde schweißtreibender Suche gaben sie auf und informierten die Polizei. Marlene zitterte und schlang fröstelnd die Arme um ihren Oberkörper, als sie am Straßenrand auf die Beamten warteten.

      Irgendjemandem hätte das kleine Mädchen doch auffallen müssen, aber es gab nicht die geringste Spur. Marlene konnte förmlich spüren, wie Marie um Hilfe schrie, sich nach ihrer Mutter und ihrer Schwester sehnte. Vor ihrem geistigen Auge erschien ein netter älterer Herr, der Marie ein Kätzchen versprach, wenn sie ihm folgte. Schluchzend warf sie sich in Franks Arme.

      „Schhhh ... alles wird gut mein Schatz. Die Jungs in Uniform werden sie finden“, versuchte er sie zu beruhigen.

      Mit verquollenen Augen schaute sie zu ihm auf. „Das glaubst du doch selbst nicht. Ich habe kein gutes Gefühl, Marie ist etwas Schreckliches zugestoßen.“

      Sie löste sich beinahe trotzig aus seiner Umarmung und atmete auf, als zwei Streifenwagen neben ihnen hielten. Die Befragung ging rasch vonstatten und am Ende schoss einer der Beamten noch ein Foto von Mia.

      „Wir durchsuchen jetzt das gesamte Areal. Es wäre das Beste, wenn Sie nach Hause fahren und abwarten, schon ihrer kleinen Tochter zuliebe.“ Er nickte in Mias Richtung, die sich verstört an Frank klammerte.

      „Ich kann hier nicht weg“, flüsterte Marlene mit tonloser Stimme. „Marie braucht mich, dass kann ich deutlich spüren.“

      „Bitte Marlene, wir machen uns doch nur verrückt. Die Männer werden schließlich wissen, was zu tun ist. Stell dir vor, sie finden Marie und wir sind nicht zu Hause?“

      „Du machst es dir wie immer leicht.“ Ihre Stimme klang schrill und vorwurfsvoll.

      „Das ist nicht wahr und das weißt du auch“, erwiderte Frank entrüstet. „Oder kannst du mir sagen, wie lange Mia noch durchhält?“

      Marlene gab sich geschlagen. Widerwillig trottete sie ihm zum Wagen hinterher, ständig nach Marie Ausschau haltend, ob sie das Mädchen nicht doch noch irgendwo entdeckte. Frank hielt ihr die Autotür auf und sie ließ sich auf den Beifahrersitz fallen. Noch immer zitterte sie unkontrolliert, als sie sich anschnallte und die eingegangenen Nachrichten auf ihrem Smartphone kontrollierte.

      Frank steuerte den Wagen schweigsam zurück. Er wusste genau, dass jedes tröstende Wort an Marlene abprallen würde. So aufgelöst hatte er sie noch nie erlebt. Aber auch er musste sich ehrlicherweise eingestehen, dass er die Wahrheit ebenso wenig akzeptieren wollte.

      Nachdem sie das schmucke Einfamilienhaus erreicht hatten, ließ er den Wagen achtlos in der Einfahrt stehen und begleitete Marlene und Mia ins Haus.

      „Was hältst du davon, wenn ich uns einen Kaffee aufsetze?“ Frank schaute sie fragend an.

      „Gute Idee“, antwortete Marlene abwesend.

      Sie griff nach Mias Hand und lief die Stufen hinauf ins Kinderzimmer. Ungestüm drückte sie die Klinke herunter und ein traumhaftes Märchenland aus Rosa öffnete sich ihr. Doch in ihrem jetzigen Zustand hatte Marlene keinen Blick dafür.

      Sie zerrte das geblümte Kleid über Mias goldgelocktes Köpfchen und schleuderte es in eine Ecke. Es war für sie unerträglich, diesen Anblick weiterhin vor Augen zu haben. Stattdessen zog sie Mia ein leichtes Shirt und eine kurze Hose über und lief mit ihr wieder nach unten.

      „Darf ich ein Eis haben?“, fragte Mia und schaute sie mit ihren großen blauen Augen bittend an.

      Marlene war in dieser Beziehung recht streng und achtete sehr auf eine gesunde Ernährung, doch heute drückte sie Mia wortlos das Eis in die Hand. Dann setzte sie sich zu Frank an den Küchentisch und nippte am Kaffee.

      „Wie wird es jetzt weitergehen?“, murmelte sie verzweifelt.

      „Ich habe nicht die leiseste Ahnung“, gestand ihr Frank mit trauriger Miene.

      Inzwischen hatte eine großangelegte Suche stattgefunden, doch Marie blieb weiterhin verschwunden und die Fahndung wurde ausgeweitet. Nach einer schlaflosen Nacht saßen sich Frank und Marlene erneut gegenüber. In ihren Gesichtern spiegelte sich das blanke Entsetzen und mit jeder anbrechenden Stunde wuchs die Hoffnungslosigkeit.

      Frank waren die beruhigenden Worte ausgegangen und inzwischen bereute er zutiefst, nicht auf Marlene gehört zu haben. Vielleicht hätten Sie Marie gefunden, wenn sie dageblieben wären? Doch er wollte seinen Fehler vor Marlene nicht eingestehen und kümmerte sich stattdessen aufopferungsvoll um Mia und den Haushalt.

      Marlene hingegen fühlte sich wie in einem Vakuum, sie war zu nichts mehr fähig. Die Haare hingen ihr strähnig ins Gesicht und sie wirkte kränklich. Teilnahmslos saß sie am Tisch und hing ihren Gedanken nach. Frank machte sich große Sorgen und wenn sich ihr Zustand nicht bald besserte, würde er um psychologische Hilfe bitten müssen.

      Der schrille Klingelton des Telefons zerriss die Stille. Marlene sprang auf und umklammerte den Hörer, sodass die Knöchel ihrer Hand weiß hervortraten.

      „Nein, es gibt keine Neuigkeiten, tut mir leid. Wir melden uns, sobald Marie wieder wohlbehalten bei uns ist, aber jetzt brauchen wir eine freie Leitung, entschuldige bitte.“ Mit einem traurigen Gesichtsausdruck legte sie den Hörer zur Seite. „Deine Mutter“, erklärte sie schroff.

      „Bitte Marlene, sie kann doch nichts dafür. Sie macht sich genauso verrückt wie wir.“

      „Aber ich habe ihr doch schon etliche Male gesagt, dass wir uns melden, sobald sich an der Situation etwas ändert.“

      „Wir sollten jetzt nicht über das Thema Schwiegermütter streiten. Meine Mutter ist ebenfalls an ihrem seelischen Limit angekommen, genau wie du. Sie liebt ihre beiden Enkeltöchter abgöttisch.“

      „Entschuldige bitte.“ Marlene senkte schuldbewusst den Kopf.

      Frank beugte sich zu ihr herunter und küsste zärtlich ihren Nacken. „Wir schaffen das, wir sind stark. Bestimmt hat sich Marie nur irgendwo verkrochen ...“

      Tröstend legte er seinen Arm um ihre Schultern, doch Marlene schüttelte ihn ab.

      „Das glaubst du doch selbst nicht!“ Ihre Augen funkelten zornig.

      „Ich will es aber glauben und ich will mir meine Hoffnung nicht zerstören lassen.“ Frank klang wie ein trotziges Kind.

      „Ich habe mir die Statistik angesehen und die ist nicht sonderlich berauschend, wenn es um vermisste Kinder geht.“

      „Warum musst du immer alles schwarzsehen? Die meisten Kinder tauchen wieder auf.“

      „Weil ich es als Mutter fühlen kann, verdammt noch einmal!“

      Marlene machte eine ausholende Handbewegung und fegte die Kaffeetassen vom Tisch. Kleine braune