zurückzuhalten.
„Wenn wir doch nur einen Blick in die Akten im Büro werfen könnten. Manchmal träume ich sogar von meinen Eltern. Wir wohnen in einem großen Haus mit einem großen Garten, in dem viele bunte Blumen blühen. Dort steht auch so ein Ding, wo man schaukeln kann. Meine Mutter hat langes braunes Haar und mein Vater trägt immer einen Anzug.“
„Ich wünschte, ich könnte auch in so eine Fantasiewelt abtauchen“, seufzte Lisa.
„Ich glaube nicht, dass diese Welt nur in meinem Kopf existiert. Die Stimme meiner Mutter klingt so liebevoll und unheimlich vertraut.“
„Ach Lenchen, wer weiß schon, was sich in unseren Gehirnwindungen so abspielt, damit wir das Leben hier irgendwie erträglicher finden.“
Ein leises Summen ertönte.
„Tja und schon ist der Tag wieder vorüber, wir sehen uns beim Frühstück. Schlaf gut.“ Lisa winkte ihr noch einmal zu und verschwand zur Tür hinaus.
Dann war Lene wieder allein. Sie streckte sich auf ihrem Bett aus und schloss die Augen. Nacht für Nacht tauchte sie in die Welt ihrer Träume, um für wenige Augenblicke die Wärme und Geborgenheit zu spüren, die von ihnen ausging.
Sie fühlte sich eingesperrt und wusste nicht, wie sie dem entkommen konnte. Es musste noch etwas anderes existieren, da war sie sich sicher. Dieses Gefasel, dass sie zur Elite gehörten, dass sie auserwählt worden waren, das hörte sich so verlogen an.
Der Unterrichtsstoff hatte es in sich, gar keine Frage, und Lene war eine der Besten. Aber wozu wurden sie auf so ungewöhnliche Weise gedrillt, wenn sie anschließend doch nur als Gebärmaschinen dienen sollten? Das passte vorn und hinten nicht zusammen.
Mit einem tiefen Seufzer drehte sie sich auf die andere Seite. Wie lange würde sie dieses Leben noch ertragen können? Und wäre der von Lisa anvisierte Freitod tatsächlich eine Option?
Lene stellte sich mit ihrem Tablett geduldig in die Schlange der Wartenden. Heute würde es zum Frühstück wieder Müsli, Obst und eine Scheibe Vollkornbrot geben. Nur das Beste für die Gäste, dachte sie frustriert, als sie an der Reihe war.
Lisa war noch nicht da, was sie erstaunt zur Kenntnis nahm. Dabei war ihre Freundin immer die Erste, wenn es ums Essen ging. Kaum hatte sie an ihrem Tisch Platz genommen, tauchte Frau Weber auf.
„Lene, du kommst bitte gleich nach dem Frühstück ins Labor zur Blutabnahme.“
„In Ordnung“, murmelte Lene zustimmend.
Sie konnte diese Frau auf den Tod nicht ausstehen. Selten hatte sie jemanden erlebt, der ihr auf Anhieb so unsympathisch gewesen war. Grell geschminkte Lippen und eine arrogante Körperhaltung waren die Markenzeichen dieser Frau.
Ein Gedanke blitzte auf. Wo schlief eigentlich das Personal? Stets zogen sie sich eine Jacke über, wenn sie den Trakt verließen.
„Guten Morgen.“ Lisa knallte das Tablett auf den Tisch und riss Lene aus ihren Gedanken.
„Hmmm, was für ein köstlicher Geruch.“ Neidisch blickte sie auf Lisas Teller. „Rührei mit gewürfelten Schinkenstückchen und dazu ein kleines Küchlein.“
„Weißt du was?“ Lisa schob den Teller in ihre Richtung. „Ich habe sowieso keinen Hunger und überlasse dir meine Portion.“
„Wirklich?“ Lene schaute sie mit großen Augen an.
Lisa nickte. „Lass es dir schmecken.“
Lene versenkte ihre Gabel im Rührei und schob sie genüsslich in den Mund.
„Die wollen mich nur mästen“, fuhr Lisa fort, „damit ich weitere Kinder gebären kann. Nicht mit mir“, wisperte sie leise, „nicht mit mir!“
„Aber du musst wieder zu Kräften kommen Lisa, du siehst wirklich sehr dünn aus.“
„Das ist mir egal. Wenn ich krank bin, kann ich nicht mehr schwanger werden, so einfach ist das. Ab heute stelle ich das Essen ein.“
„Du bist verrückt.“ Lene schob den Teller angewidert in Lisas Richtung. „Entschuldige, aber mir ist der Appetit restlos vergangen.“
„Jetzt mach nicht so ein Drama daraus, die anderen sehen schon zu uns herüber.“
„Bitte tu das nicht.“ Lene sah sie flehend an. „Du weißt doch noch, was mit Laura passiert ist? Nach drei Fehlgeburten kam sie nicht mehr zu uns zurück.“ Lene legte ihre Hand auf die von Lisa. „Du bist alles, was ich noch habe. Ich weiß, das klingt total egoistisch, aber wenn du gehst, verliere ich meinen letzten Halt.“
„Den habe ich schon verloren“, flüsterte Lisa mit tränenerstickter Stimme, bevor sie aufstand und mit hängenden Schultern den Speisesaal verließ. Das Tablett hatte sie einfach stehen lassen.
Lene räumte den Tisch ab und durchquerte den langen Flur. Vor dem Labor holte sie noch einmal tief Luft und drückte auf den Summer. In Sekundenschnelle öffnete sich die Tür.
„Wunderbar, dann können wir gleich deine Werte überprüfen. Setz dich bitte und mache eine Faust.“
Schwester Sabine war eine rundliche Frau um die fünfzig, die allen jungen Frauen das Du angeboten hatte. Sie war stets besorgt um ihre Schützlinge und eine Art Mutterersatz.
„So, das hätten wir.“ Sie klebte Lene ein Pflaster auf die Armbeuge. „In einer halben Stunde kommst du bitte ins Arztzimmer, du bist den restlichen Tag vom Unterricht befreit.“
Lene verließ mit zitternden Knien das Labor. Bis jetzt hatte sie Glück gehabt, aber sie befürchtete, dass ihr heut eine weitere Prozedur bevorstand.
Sie konnte sich noch gut daran erinnern, wie ihr die Eizellen unter Vollnarkose entnommen wurden. Ihr Bauch war danach stark angeschwollen, so als wäre sie bereits schwanger gewesen. Die Behandlung hatte ihr Übelkeit und auch Schmerzen verursacht, aber wen interessierte das schon? Niemand fragte nach, ob sie überhaupt Kinder wollte. Man hatte sie zu diesem Leben gezwungen, ohne Wenn und Aber.
Ja, in ihren Träumen kamen Kinder vor, ganz klassisch - Vater, Mutter, Kind – wie in den Büchern, aber doch nicht auf diese Weise. Steril, kalt und lieblos wurde ihr das neue Leben eingepflanzt. Unruhig schritt sie in ihrem Zimmerchen auf und ab. Wie eine halbe Stunde sich derart in die Länge ziehen konnte.
Dann war es endlich so weit und sie drückte behutsam die Klinke des Arztzimmers herunter.
„Komm herein, Lene und setz dich.“ Frau Dr. Schenk, eine gestandene Frau, die keinen Widerspruch duldete, blickte über den Rand ihrer Brille.
„Deine Hormonwerte sehen hervorragend aus“, strahlte sie Lene an. „Wir werden dir nach der Untersuchung die Eizellen transferieren. Morgen früh bitte nüchtern bleiben und jetzt kannst du dich hinter dem Paravent entkleiden.“
Kapitel 4
Marlene saß mit Elena, ihrer besten Freundin, auf der Terrasse. Das Sonnensegel spendete Schatten und die Luft war geschwängert vom betörenden Blumenduft der zahlreichen Rabatten.
Elena nippte an ihrem alkoholfreien Drink. „Ein Paradies hast du dir hier erschaffen, ich kann es nicht oft genug betonen. Wenn ich könnte, wie ich wollte, dann würde ich jeden Tag in deinem Garten verbringen.“
„Und was nützt mir das? Anfangs habe ich daran festgehalten, weil Marie die Blumen so liebte, aber inzwischen bin ich der vielen Arbeit kaum noch gewachsen. Die Hoffnung schwindet, sie je wiederzusehen, und ich frage mich, ob das Ganze überhaupt noch einen Sinn macht?“ Marlenes Blick wurde dunkel.
„Willst du endgültig aufgeben?“, fragte Elena vorsichtig.
„Nein, aber ich habe das Gefühl, mich immer tiefer hineinzureiten. Franks Vorwürfe haben mich schwer getroffen. Ich hatte wirklich angenommen, dass Mia