Carlo Fehn

Höllische Tage


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seinem Zeigefinger über den beschädigten Grabstein und fragte sich, was seine Mutter damit zu tun hatte, warum ihr Name unversehrt war und der seines Vaters durch seinen eigenen ersetzt werden sollte. Er grübelte, machte sich gleichzeitig aber daran, Wasser zu holen. Die anwesenden Frauen hatten auch gemerkt, dass irgendetwas nicht stimmte. Oder hatten sie etwa schon von der Schändung gewusst, womöglich sogar jemanden gesehen? Nein! Dann wären sie bestimmt schon auf ihn zugekommen, um ihm Beobachtungen mitzuteilen. Er dachte an seine Mutter, die 2001 nach einer Lungenentzündung im Anschluss an einen Sturz gestorben war. Pytliks Vater war ein Patriarch, der gegenüber seiner Frau und den Kindern den autoritären Vater gab, ohne sich wirklich intensiv mit der Erziehung auseinanderzusetzen. Erfolgreich im Beruf, sagte man ihm immer wieder Affären und Seitensprünge nach, die auch an seiner Frau und dem Verhältnis zu den Kindern nicht spurlos vorübergegangen waren. In den letzten Jahren vor seinem Tod 1996, hatten die drei Söhne kaum noch Kontakt zu ihm gehabt.

      Was haben meine Eltern damit zu tun, dachte Pytlik nach, und in ihm erwachte nun der Ermittler. Er hatte die Herausforderung akzeptiert und überlegte, was er tun würde. Er konnte nur auf eine neue Nachricht des Unbekannten warten, den er ab sofort den "Feind" nennen wollte. An seinem Entschluss, das Ganze als Privatangelegenheit zu betrachten, hielt er fest.

      Er drückte eine zweite Gießkanne kräftig gegen die Oberfläche des Wasserbehälters und ließ sie volllaufen, nachdem er die erste bereits vor sich auf den Boden gestellt hatte. Wie warm mochte es mittlerweile schon wieder sein? Den linken Arm steckte er bis zur Ellenbeuge ebenfalls ins kühle Nass, um sich etwas Erfrischung zu verschaffen. Von dort, wo er auf dem Rand des Beckens saß, konnte er über eine Hecke hinweg zu einer kleinen Kapelle schauen. Irgendwas stimmte nicht, passte nicht ins Bild. Moment, dachte Pytlik, schärfte erst jetzt seinen Blick und fokussierte nun ganz deutlich eine mit schwarzem Kapuzen-Shirt und Sonnenbrille gekleidete Person, von der er nur Oberkörper und Kopf sehen konnte. Die für die Verhältnisse viel zu warm angezogene Gestalt stand einige Meter hinter der Kapelle frontal vor einem Grab, allem Anschein nach in andächtigem Gebet. Allerdings so, dass Pytlik nicht ausschließen konnte, dass dieser Mann oder diese Frau gleichzeitig durch die dunklen Gläser auch ihn beobachten würde. Er wollte es herausfinden und hatte bei dem Gedanken seinen Blick schon wieder entfernt, konnte jedoch im Augenwinkel sehen, dass der Friedhofsbesucher noch verharrte.

      Pytlik ließ eine Gießkanne stehen und machte sich auf den Rückweg zum Grab. Allerdings ging er nicht die gleiche Route, sondern wählte den längeren Weg an der Kapelle vorbei, weil er somit der Person möglichst nahe kommen wollte. Als er sich dem hageren Wesen bis auf wenige Meter genähert hatte, kam es im Handumdrehen zu einer Kettenreaktion, von der sich Pytlik später gewünscht hätte, dass sie nicht passiert wäre.

      Plötzlich hatten sich die Blicke der Beiden getroffen. Pytlik in der Überzeugung, es handele sich um den unbekannten Briefeschreiber, der schwarz vermummte junge Mann - das konnte Pytlik nun feststellen - in augenscheinlicher Angst vor dem Polizisten. Der Junge nahm die Hände aus den Seitentaschen des Pullovers und begann zu rennen, Pytlik hinterher, fast über die Gießkanne stolpernd. Der Hauptkommissar konnte gut mithalten, verlor keinen Boden auf dem staubigen Kies. Nur wenige Meter hinter dem Unbekannten sah er, dass dieser an einer Wegkreuzung ansetzte, links abzubiegen. Pytlik antizipierte und nahm eine Abkürzung, wobei er rücksichtslos über einige Gräber trampelte und schließlich mit einem mutigen Hechtsprung den Davoneilenden mit beiden Händen an der Hüfte zu packen bekam. Nach kurzem, beiderseitigem Schreien wegen des Aufpralls auf dem Boden, gelang es dem Polizisten, den Kontrahenten mit einem geübten Griff handlungsunfähig zu machen. Pytliks Adrenalinspiegel war stark angestiegen, er drehte den Körper des Unterlegenen mit einem kraftvollen Schwung auf den Rücken und bemerkte erst jetzt, als er ihm die Sonnenbrille aus dem Gesicht und die Kapuze vom Kopf riss, dass der junge Mann schrie wie am Spieß.

      "Aaaaaaaah! Aaaaaaaaaaah! Was wollen Sie, lassen Sie mich los! Aaaaaaah!"

      Pytlik hatte bereits losgelassen und sich mit einem Ausdruck kaum zu verhehlenden Ekels abgewandt. Er fühlte sich schäbig. Was hatte er da getan? Der Junge, der sich vor ihm im Staub wälzte und krümmte, war David Spath. Sein Vater und er hatten vor einigen Monaten einen folgenschweren Autounfall. Der Sohn hatte am Steuer gesessen und die Kontrolle über das Fahrzeug verloren. Als der Wagen gegen einen Betonpfeiler prallte, fing er Feuer. David konnte mit schweren Verbrennungen gerettet werden, für den Vater kam jede Hilfe zu spät. Justus Büttner hatte Pytlik damals ausführlich von dem Drama erzählt.

      Der Junge war mit Narben übersät, im Gesicht hatte er viele nässende Wunden, die jetzt mit Staub verschmutzt waren und vereinzelt zu bluten begannen. Pytlik saß auf dem groben Steinuntergrund, unfähig etwas zu sagen. Die Schmerzen David Spaths schienen nachzulassen. Pytlik wusste nun, warum der Junge so vermummt war - es war nur zu seinem Schutz. Jeder Sonnenstrahl musste eine enorme Belastung für ihn sein. Dennoch konnte er sich nicht erklären, warum er davongelaufen war, wenn er doch nichts angestellt hatte.

      "Na schön, wer hat mich verpfiffen?"

      Pytlik war überrascht, ließ es sich aber nicht anmerken. Er forschte nach, ohne zu wissen, worum es ging.

      "Ist das wichtig?", gab er nur zurück und bekundete somit, dass er Bescheid wusste, was auch immer nun kommen mochte.

      "Ich brauche Wasser", stöhnte Davis Spath leise, als er sich wieder aufgestellt hatte und seine Klamotten vorsichtig vom gröbsten Staub und Dreck befreite. Auf dem Weg zur Wasserstelle schilderte er Pytlik, dass es am Vorabend eine Schlägerei gegeben hatte, nachdem ihm zwei andere Typen im Zusammenhang mit dem Unfall beleidigt und angemacht hatten. Einen davon hätte er mit Hilfe eines Freundes "ganz schön zugerichtet", erzählte der Junge, der sich inzwischen mit Wasser langsam das Gesicht behandelte.

      Pytlik erzählte David Spath, dass es so eine Ahnung gewesen wäre, warum er ihn verfolgt hätte, aber er sparte sich Details und bat ihn, die Geschichte auch nach Möglichkeit für sich zu behalten. Die neugierigen Blicke der wenigen anwesenden Friedhofsbesucher, insbesondere der drei Frauen in der Nähe des Grabes von Pytliks Mutter, führten diesen Wunsch allerdings ad absurdum. Er versicherte dem leicht verdutzten jungen Mann, dass er bezüglich des Vorfalls der letzten Nacht nicht aktiv werden würde, sofern keine Anzeige vorlag. Der Junge tat Pytlik leid, dennoch wollte er jetzt nur noch weg hier. Er packte die eine Gießkanne, die er vorhin hatte stehen lassen und ging zunächst zum Grab seiner Eltern zurück, wo er immer noch ungläubig auf den Grabstein schaute. Er goss das Wasser auf den teerharten Boden und sah, dass kaum Feuchtigkeit in die Erde eindrang, sondern größtenteils in alle Richtungen davonfloss. Er ging noch einmal zurück an die Wasserstelle und wollte bei dieser Gelegenheit die Gießkanne mitnehmen, die er vorhin bei der Verfolgung David Spaths verloren hatte. Als er sich bückte und das blecherne Gefäs hochnahm, wunderte er sich. Das Grab, vor dem David Spath gestanden hatte, war nicht das seines Vaters. Überhaupt fiel dem Hauptkommissar nun ein, dass die Familie in Gehülz wohnte. Pytlik erhob sich und stellte fest, dass er und somit auch der Junge von hier aus - durch zwei Hecken hindurch - einen nahezu geschützten und dennoch deutlichen Blick auf das Grab seiner Eltern hatte.

      ***

      Das Wasser strömte lauwarm aus dem Duschkopf. Pytlik stand schon eine halbe Stunde in der Kabine und fasste immer wieder an seine linke Schulter, die er sich beim Sturz im Friedhof leicht lädiert hatte. Seine Gedanken kreisten um die immer gleiche Frage: Wer wollte etwas von ihm? Und warum? Er beschloss, sich den Rest des Tages frei zu nehmen. Es war ihm alles zu viel. Die Hitze, der Verrückte, von dem er immer noch nicht wusste, wie ernst er ihn wirklich nehmen sollte, und die Geschichte im Friedhof mit diesem Spath. War das alles nur Zufall? Nein, für heute hatte er genug. Nachdem er in der Dienststelle angerufen und Hermann Bescheid gesagt hatte, überlegte er kurz. Warum sollte er seiner neuen Nachbarin nicht schon heute Nachmittag behilflich sein? Das gemeinsame Frühstück könnte man deswegen ja sicherlich auch noch machen.

      ***

      Angelika Küppers war nicht zu Hause. Pytlik hatte sich deswegen kurz entschlossen ein paar Sachen zusammengepackt und mit dem Fahrrad auf den Weg gemacht. Raus aus der Stadt, dachte er. Er wollte versuchen, den Kopf frei zu bekommen. Außerdem würde er dem "Feind" dann in gewisser Weise auch erst mal entkommen.

      So fuhr er nach