Carlo Fehn

Höllische Tage


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Dort könnte er auch gemütlich ein Bierchen trinken und sich auf das Wochenende einstimmen. Während er auf den freien Feldern zwischen Höfles und Marktrodach gemächlich in die Pedale trat - der Rucksack hatte sein Hemd bereits zu einem feuchten Lappen werden lassen -, ging er noch einmal durch, was seit heute morgen passiert war. Er redete leise vor sich hin, so als wollte er sich mit seiner Analyse auch eine Bestätigung geben, dass alles wahrscheinlich nur ein Missverständnis war. Zwei Kuverts, identisch, Inhalt: typische Erpresserbriefe, wie man sie aus schlechten Krimis kennt. Soweit klar. Der Unbekannte scheint mir mitteilen zu wollen, dass jetzt irgendwas losgeht. Gleich danach die Sache mit dem Friedhof. Ein Hinweis? Eine Warnung? Ein Todesurteil? Pytlik schaffte es nicht, dem Ganzen eine Belanglosigkeit abzugewinnen, so sehr er es auch versuchte. Nein, die Beschädigung des Grabsteines hatte einen tieferen Sinn, das war kein Dummejungenstreich. Die Sonne stach unerbittlich herunter, Pytlik nahm einen kräftigen Schluck aus der Wasserflasche und gleichzeitig spürte er, wie im Gegenzug der Schweiß aus allen Poren drang. Er freute sich auf das kühle Nass. Seine Analyse war vorerst beendet.

      Er hatte sich etwas abseits unter einem Baum ausgebreitet und wunderte sich, wie viele Menschen trotz der Urlaubszeit doch anscheinend das heimische Freizeitangebot einem Flug in den Süden vorgezogen hatten. Es war rappelvoll. Pytlik mochte es zu beobachten. Ob Berufskrankheit oder nicht, aber an so einem Ort zu liegen, den Kindern bei ihren waghalsigen Sprüngen aus luftiger Höhe zuzuschauen, die in locker geschnürten Bikinihöschen verpackten Kurven der jungen und älteren Frauen durch seine verspiegelte Pilotenbrille zu beobachten, das hatte nach seiner Meinung ja auch ein bisschen was von Ermittlung. Er musste lächeln, als er das dachte.

      Neben ihm unterhielten sich zwei junge Mütter, anscheinend unzufrieden damit, wie ihre besseren Hälften die Aufteilung der Hausarbeit interpretierten. Pytlik, geborener Berliner, aber seit seinem achten Lebensjahr in Kronach, verstand mittlerweile alle Landkreis-Dialekte, wenn er selbst auch keinen sprach. Er lauschte.

      "Und wassd, dann sochder a immer nuch, des wäh halt jetzamoll su, dass die Weiber auf die Weld kumma senn, ümmern Haushald zu machen und sich üm die Kinner zu kümmern. Also, manchmoll könnd ich na ana badschn, ählich!"

      Die gut beleibte Frau schien nicht das Bedürfnis zu haben, ihre Bedenken hinsichtlich der Einstellung ihres Mannes nur für sich und ihre Freundin zu behalten. Pytlik konnte sehen, dass auch andere Umherliegende scheinbar amüsiert dem Dialog zuhörten.

      "No wassd, und meiner öschd!", hakte die Andere ein, die man mit hiesigen Worten als "Spreisel" bezeichnet hätte.

      "Wassd, woss däh immä macht? Däh kummt vo die Ärrbädd haam, gedd zum Kühlschroog, hueld sich a Bier und dann auf die Couch, Playstation! Dess mussd da dich amoll vorstell!"

      "Die senn duch alla gleich!", ereiferte sich die Dicke wieder, gefolgt von einem schrillen "Baddrick, eingremen, komm mal her bidde, mein Schatz! Baaadrick - sofort, Fregger!"

      Pytlik hatte genug und resümierte irgendwie zufrieden, dass er nicht der bemitleidenswerte Playstation-Freak war. Er stopfte sich die kleinen Kopfhörer in seine Ohren und lauschte den Klängen von Barclay James Harvest.

      Er musste eingeschlafen sein. Ja, sonst wäre er nicht aufgewacht, als er aus den Lautsprechern des Freibades zunächst noch etwas benommen, dann jedoch klar und deutlich einen Aufruf vernahm.

      "Achtung, noch einmal die dringende Durchsage: Herr Franz Pytlik, bitte zur Rezeption kommen. Herr Franz Pytlik bitte!"

      Pytlik fragte sich zunächst, ob er das richtig vernommen hatte. Er hatte die Ohrenstöpsel zwar noch nicht herausgenommen, da die Musik aber schon längst nicht mehr spielte, konnte er die Ansage sehr gut hören. Verdammt, schoss es ihm durch den Kopf. Was soll das denn jetzt? Es war bereits fast 17 Uhr, Pytlik packte hastig seine wenigen Sachen zusammen. Die Liegewiese hatte sich etwas geleert, auch die beiden Frauen waren schon gegangen.

      Nachdem er sich die Sonnenbrille aufgesetzt und die Baseball-Mütze tief ins Gesicht gezogen hatte, begab er sich ins angeschlossene Wellness-Hotel, wo er einen Angestellten hinter dem Tresen der Rezeption telefonieren sah. Pytlik näherte sich und legte die Hände auf das edle Holz, mit seinen Fingern begann er langsam zu trommeln, so, als wollte er signalisieren, dass er es eilig hätte. Der junge Mann wandte sich dem Hauptkommissar zu und verwies mit einem freundlichen Nicken darauf, dass das Telefonat gleich beendet wäre.

      "Ja, bitte!"

      "Pytlik ist mein Name, ich wurde ausgerufen."

      "Ah, ja." Der Rezeptionist bückte sich und holte aus einem Fach unterhalb etwas hervor. Pytlik wurde kreidebleich.

      ***

      Er hatte eine gute halbe Stunde in der Hotellobby gesessen und auf das Papier gestarrt, das in dem braunen Kuvert gesteckt hatte. Was da stand, war für ihn dermaßen absurd, dass er beschloss, es darauf ankommen zu lassen.

      STELLEN SIE SICH AUF DAS SPRUNGBRETT DES SCHWIMMBADES ZIEHEN SIE SICH NACKT AUS SCHREIEN SIE DASS SIE HAUPTKOMMISSAR FRANZ PYTLIK SIND UND SPRINGEN SIE DANN INS WASSER

      Er war nach Hause gefahren und er musste zugeben, dass er selten so aufmerksam gewesen war, wie während dieser Fahrt. Hinter jedem Auto, das irgendwo stand, jedem Hindernis auf dem Radweg, jedem Holzhaufen vermutete er jemanden, der plötzlich hervorsprang. Natürlich hatte er sich nicht lächerlich gemacht. Was sollte das? Wieso in Herrgotts Namen hätte er sich so bloßstellen sollen.

      In der Rhodter Straße angekommen, brachte er seine Sachen und den Umschlag ins Haus. In der Dienststelle wäre nun schon niemand mehr, überlegte er. Er zog sich ein frisches Hemd an und machte sich noch einmal auf den Weg. Er nahm das Auto und eine große Klappbox hatte er auch dabei.

      ***

      Pytlik stellte eine nicht willkürliche Auswahl an Akten abgeschlossener Fälle zusammen, als er alleine in seinem Büro vor dem großen Schrank stand. Die wichtigsten Ermittlungen, die er erfolgreich geleitet hatte, waren ihm bekannt. Dazu nahm er alle verurteilten Verbrecher, die ihm einen Aufenthalt im Gefängnis zu verdanken hatten und sich mittlerweile wieder auf freiem Fuß befanden. Es war für ihn ein erster Ansatzpunkt, davon auszugehen, dass sich womöglich jemand an ihm dafür rächen wollte, dass er ihn dingfest gemacht hatte. Er wusste im Augenblick keine weitere Möglichkeit, in welche Richtung er sonst hätte aktiv werden können. Er kramte und sortierte, blätterte und legte Akten wieder zurück, die ihm nicht wichtig oder passend erschienen. Immerhin hatte sich die Plastikkiste schon ganz gut gefüllt, der Hauptkommissar aber noch nicht alles durchforstet. In seinem Büro sah es gerade so aus, als würde er umziehen und die wichtigsten Dinge zusammenstellen.

      "Pytlik!"

      Dem Hauptkommissar fuhr der Schrecken in die Glieder. Er drehte sich blitzartig um und eine Akte fiel ihm aus den Händen, genau vor die Füße von Alfons Geuther. Sein Gesicht erhitzte sich, sein Herz raste, am liebsten hätte er dem Alten eine Faust ins Gesicht geschlagen.

      "Sagen Sie mal, was machen Sie da?"

      Geuther deutete mit einem misstrauischen Blick und ausgestrecktem Zeigefinger auf die gelbe Kiste mit den Ordnern und die offene Schranktür. Pytlik überlegte und antwortete prompt.

      "Mann, haben Sie mich erschreckt! Was machen Sie denn noch hier?"

      Er ging sofort in die Offensive, um sich nicht als Ertappten zu zeigen.

      "Wieso 'noch'? Und außerdem frage ich Sie das", raunzte Geuther und wies den Hauptkommissar darauf hin, dass dieser ja heute anscheinend schon ein bisschen früher Schluss gemacht hätte. Pytlik musste sich zähmen. Warum Alfons Geuther ausgerechnet heute und überhaupt so spät noch hier war, konnte er sich nicht erklären, es war auch nicht wichtig.

      "Also, was machen Sie mit den ganzen Akten?"

      "In den Keller packen, ins Archiv. Hier muss mal Platz gemacht werden", beteuerte Pytlik.

      "Platz machen, was? Ausgerechnet jetzt, Freitagabend um sieben!"

      Geuther nahm sich wahllos eine Akte heraus und blätterte uninteressiert darin.

      "Wie läuft es denn eigentlich mit der Praktikantin? Funktioniert