Marian Hajduk

Dewil's Dance


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Handlungen sind Mittel, die einen zukünftigen Zweck verfolgen – der wiederum nur ein Mittel zu einem ferner in der Zukunft liegenden Zweck darstellt und so weiter. Wir werden geboren und aufgezogen, damit unsere Intelligenz sich entfalten kann. Wir besuchen die Schule, um später für das Gymnasium zugelassen zu werden, um daraufhin an der Universität studieren zu können. Und das tun wir, um später bestmögliche Chancen auf dem Arbeitsmarkt zu besitzen. Wir treiben Sport, um uns körperlich fit zu halten, pflegen unser Aussehen, um für das andere Geschlecht attraktiv zu sein. Wir streben eine gutbezahlte Stellung an, um für das andere Geschlecht attraktiv zu bleiben und die Kosten für unser zukünftiges Leben bewältigen zu können. Dies tun wir, um eine Familie unterhalten zu können, und eine Familie gründen wir – so nüchtern es nunmal klingt – um durch Reproduktion den Fortbestand unserer Spezies zu sichern. Wir arbeiten, um Ersparnisse anzuhäufen, fahren in den Urlaub, um anschließend wieder effizienter arbeiten zu können, häufen Ersparnisse an, um für das Alter vorzusorgen. Wir sorgen für das Alter vor, um unsere materielle und medizinische Versorgung gesichert zu wissen. Um anschließend in Ruhe sterben zu können.

      Bis wir im ratenfinanzierten Nussbaumsarg in die Grube auf dem Gemeindefriedhof fahren, die für die nächsten 30 Jahre im Voraus bezahlt ist, war unser Leben eine Aneinanderreihung von Notwendigkeiten. Und nachdem wir 80 Jahre lang geschuftet und gelitten haben, liegen wir endlich hier und sind niemandem etwas schuldig geblieben.

      Unsere Existenzen sind nicht autonom, die freie Entscheidung, von der wir so gerne sprechen, gibt es in Wahrheit nicht. Alles, was wir tun, ist funktionieren und gehorchen – entweder dem göttlichen Willen oder schlicht unserer biologischen Determinierung. Wir unterscheiden uns von den Affen und Amöben dieser Welt durch die Anzahl unserer Gehirnzellen, nicht aber durch das Wesen unseres Verhaltens: Fortentwicklung, Fortpflanzung, Fortbestand. Weiter und weiter und weiter. Vollautomatisiert, genau wie jede andere Spezies. Und keiner weiß wozu.

      Wir sind Marionetten - entweder der Sinnlosigkeit oder einer gigantischen göttlichen Groteske, deren Ziel wir nicht kennen.

      Ich kann nicht umhin, Ihnen bezüglich unserer meisten Zeitgenossen rechtzugeben. Aber wie kommen Sie dazu, mir eine ebenso wenig selbstreflektierte Weltanschauung zu unterstellen?

      Tja, mein Lieber, ich weiß: das hören Sie jetzt nicht gern! Trotzdem ist es die Wahrheit: Der Pfau trägt sein buntes Gefieder, um die Weibchen auf sich aufmerksam zu machen, nicht weil er die Farbenpracht liebt. Wir halten uns an Regeln, um unsere eigene Existenz zu schützen, nicht weil wir gute Menschen sind. Wir gehen in die Kirche, um getröstet zu werden, nicht weil wir einen Gott lieben, den wir nicht kennen. Wir führen unsere Leben für unsere Kinder und deren Kinder, für den Fortbestand unserer Gattung bis in die Ewigkeit, nicht für uns selbst.

      Und Sie, mein lieber Holmes, Sie jagen Verbrecher. Um die Welt von der Geißel der Kriminalität zu befreien. Um Ordnung zu schaffen. Gerechtigkeit. Um die Integrität dieser Gesellschaft zu gewährleisten. Um den störungsfreien Ablauf des ewigen Prozesses der Steigerung von Wohlstand und Fortschritt zu garantieren, um den Fortbestand der Spezies Mensch zu sichern! Um, um, um, um, um, um, um!

      In der Komplexität Ihres Handelns mögen Sie Sich von den meisten Ihrer Mitmenschen unterscheiden. In Ihrem Wesen aber tun Sie nichts anderes als jeder andere Organismus.

      Sie hingegen begehen Verbrechen. Inwiefern sollte diese Tätigkeit irgendeiner anderen überlegen sein?

      Das werde ich Ihnen sogleich erklären: Die einzige Möglichkeit, gegen unser von Zwängen determiniertes Dasein zu rebellieren, besteht in der Erschaffung von etwas, das keinem Zwang gehorcht. In der Vollkommenheit einer Kreation, die kein Ziel besitzt und keinem Zweck folgt. Deren Wert autonom ist. Denn das einzige, was der göttliche Plan – sollte ein solcher existieren - mit Sicherheit nicht vorgesehen hat, ist die Nivellierung des von ihm Geschaffenen.

      Ich bin gespannt, womit Sie mir als nächstes kommen… entgegnet Sherlock.

      Seien Sie das nur, mein lieber Freund! Es geht um ein abgeschlossenes Werk, das keine andere Ursache besitzt als unseren freien Willen zu seiner Erschaffung und kein anderes Ziel, als ziellos zu sein und der Notwendigkeit zu widersprechen. Denken Sie, Mister Holmes, an den Unterschied zwischen uns beiden…

      Ich bin nicht sicher, worauf Sie hinauswollen…

      All Ihr Tun, mein lieber Holmes, folgt der Notwendigkeit. Da Sie Sich von den Vorgaben anderer abhängig gemacht haben. Ich hingegen tue nichts für ein bestimmtes Ziel. Auch mir geht es weder um Ruhm noch um Reichtümer – und an Intellekt sind wir beide einander ebenbürtig. Doch in einem entscheidenden Punkt bin ich Ihnen weit überlegen: meine Tätigkeit ist originär kreativ! Ich erschaffe aus dem Nichts wie der Dichter ein Drama auf weißem Papier, während Sie auf eine Vorlage angewiesen sind wie der Schauspieler auf seinen Text.

      Sherlock sitzt regungslos. Den Blick starr auf sein Gegenüber gerichtet.

      Das perfekte Verbrechen, mein Lieber, besitzt zu Ihrem großen Bedauern immer den höheren kreativen Wert als seine perfekte Aufklärung! Denn es ist zuerst da! Es ist die Vorgabe, die Voraussetzung, die Ihr Handeln, ja Ihre gesamte jämmerliche Existenz erst legitimiert. Erlaubt! Ich bin Ihr Schöpfer, Mister Holmes! Während Sie zum ewigen Reagieren verdammt sind, ist meine Existenz autonom. Weshalb ich mich durch mein Handeln niemals selbst in Gefahr bringen kann. Während Sie mit jedem gelösten Fall Ihrer eigenen Auslöschung ein Stück näher kommen…

      Sherlock sitzt noch immer regungslos. Sein Körper schweigt. Aber sein Gesicht überschlägt sich…

      Und nun sagen Sie mir, mein lieber Freund, hebt Moriarty in bedeutungsschwerem Tonfall an: Was ist die Antwort auf die alles entscheidende Frage? Worin besteht die einzige Möglichkeit zur Rettung des Herrn Sherlock Holmes?

      …nur durch das Gesamtwerk einer autonomen, zur Vollendung gebrachten Tat, murmelt Sherlock. Nur auf diesem Wege kann ich mich von meiner Abhängigkeit emanzipieren. Und er klingt wie ein Kind, das einen Text aufsagt, den es sich zuvor eingebläut hat: Eine Tat.

      So ist es, mein Sohn! Denn wenn wir erschaffen, was keine Ursache als unseren eigenen Willen und kein Ziel als seine eigene Autonomie besitzt, wenn wir erschaffen, was keiner göttlichen Zielsetzung folgt, da es überhaupt keiner Zielsetzung folgt, dann entsteht durch unsere Hand das Einzige im Universum, dessen Urheber nicht unser Schöpfer ist. Und wir brauchen Gott nicht länger zu töten, da wir selbst zu Göttern werden. Und wir sind ebenbürtig und frei.

      Wenn wir nur aus dem einen Grund handeln, fährt Sherlock fort: Weil wir es wollen. Einfach so. Dann sind wir gerettet, dann ist es…

      …Kunst. Ganz recht, antwortet Moriarty.

       - 6 -

      Ich merkte, dass mein Kopf schwer und meine Gedanken müde geworden waren. Der scharfe Zigarrenrauch hing in dem Kellergewölbe wie warmer Dampf in einem Römischen Bad und ich spürte den Alkohol, wie er von innen an meinem Körper drehte. Die Kerzen in den Erkern brannten nicht mehr. Nurnoch ein Leuchter hinter uns und die Lampen auf dem Tresen waren in Betrieb.

      Nachdem Dewil dem Barkeeper einige flinke Handzeichen gegeben hatte, jonglierte dieser zwei große Kristallzylinder auf den Tresen, die mit dicken unförmigen Eiswürfeln und einer klaren Flüssigkeit gefüllt waren. Hier, trinken Sie das, mein Bester! das wird Ihnen guttun…

      Langsam verflog der Schwindel aus meinem Körper, ich atmete tief und gleichmäßig, nahm einen weiteren Schluck und versuchte, mich auf Sherlock zu konzentrieren: Er hat begriffen, dass Moriarty ihm immer den entscheiden Schritt voraus sein wird, wenn er sich auf die bloße Bekämpfung des Verbrechens beschränkt, resümierte ich.

      Sein einziger Ausweg besteht demzufolge in einer autonomen Handlung. Wie hat Moriarty es genannt? Ein abgeschlossenes Werk, das keine andere Ursache besitzt als unseren freien Willen zu seiner Erschaffung und kein anderes Ziel, als ziellos zu sein und der Notwendigkeit zu widersprechen. Er meint doch nicht ewta die Liebe? fragte ich vorsichtig.

      Ich bitte Sie! Die Liebe ist ein Gefühl, das damit beginnt, sich selbst zu belügen, und damit