Holger Schossig

Sie kommen heute aber spät!


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die Schmerzen hatte ich trotzdem. Unterwegs bin ich dann schnell zum Arzt und hab mir eine Spritze geben lassen. Aber was soll’s, meine Chefin hat ja schließlich auch mit einem Bandscheibenvorfall gearbeitet. Was ist dagegen schon ein läppischer Hexenschuss?

      Übrigens: An den vier Tagen, während ich wegen Krankheit dann doch mal zu Hause geblieben bin, musste mein Chef die Tour fahren. Da er sich nicht auskannte, blieb natürlich viel liegen und ich hatte am Tag nach meiner Krankheit keinen 10-, sondern einen 14-Stunden-Tag. Eine bessere Organisation wäre wünschenswert. Wie, das weiß ich auch nicht. Aber ich bin ja auch nicht Chef gewesen.

      Tag 1 – Das fängt ja gut an

      Heute ist Freitag. Gott sei Dank! Die Woche nimmt wieder mal kein Ende …

      Wenn man an eine neue Arbeitsstelle kommt, dann hat man ein ganz komisches Gefühl. Zumindest geht mir das so. Es ist alles neu, man kennt sich noch nicht aus, man wird von allen Mitarbeitern angegafft, man kennt niemanden, man weiß eigentlich gar nicht, was man hier soll. Hilfe …

      Das Depot in Nürnberg darf man sich als überdimensionales, rechteckiges „U“ vorstellen. Vorne mittig ist der Haupteingang, durch den ich in den dreieinhalb Jahren kein einziges Mal rein oder raus bin. An den beiden Flanken sind, sowohl innen wie auch außen, insgesamt 100 Türen angebracht, an die die Zustellfahrzeuge andocken und so beladen werden.

      Als ich das Gelände betrete, ist es schon hell. Gut so, denn sonst hätte ich gar nicht gewusst, wo ich lang muss. So kann ich noch die Wegbeschreibung aus einer Gehirnwindung hervorkramen und komme dann auch am richtigen Tor an. Nummer 287. Wenn es nur 100 Tore gibt, wieso ist das dann hier die Nummer 287? Das habe ich bis heute nicht rausgefunden. Wunderbar, da stehen auch schon die Autos. Direkt vor den Türen. Und wie soll ich jetzt in die Halle kommen? Hallo? Jemand da?

      Ja, da hinten sind Lebewesen. Die qualmen. Und ja, da steht auch schon mein neuer Chef. Der qualmt auch. Ich gehe zu der kleinen Gruppe und – richtig, ich qualme mit. Ich rauche eigentlich gar nicht mehr. Das braucht man hier auch nicht. Bei der Rauchentwicklung, die sich in der kleinen Ecke bildet, kann man sich das Geld getrost sparen. Um fünf vor halb sechs gehen wir durch ein Schlupfloch, das ich mir gut merken muss, in die Halle. Das Schlupfloch macht seinem Namen alle Ehre, denn wir quetschen uns zwischen offener hinterer Wagentür und der Gummimatte, die an jeder Außentür der Halle angebracht ist, damit die Autos beim Zurücksetzen nicht gegen die Wand donnern, hindurch. Das sind ca. 20 Zentimeter. Gut, dass ich schlank bin.

      In der Halle wird mir kurz der Ablauf erklärt. Wirklich kurz. Dauert etwa 46 Sekunden. Ich stehe am Beginn des Förderbandes, gleich in der ersten Box. Die Pakete, die für unsere Halle bestimmt sind, müssen also alle an mir vorbei. Meine Tournummer ist die 3745. Die steht auf den Paketen drauf. Jedes Paket mit dieser Nummer soll ich vom Band ziehen. Naja, klingt ja gar nicht so schwer. Punkt 5.30 Uhr wird das Band angeworfen und macht einen Höllenlärm. Man versteht sein eigenes Wort nicht mehr. Gut, dass ich gerade nicht mit mir rede. Oh, da kommen ja schon die ersten Pakete. Ich gucke, sehe vor lauter Aufklebern nix und habe die ersten drei Pakete bereits passieren lassen, bevor ich von meinem Nebenmann höre, dass das meine waren. Na prima. Aber er hat sie dankenswerterweise heruntergezogen. Ich werde mich später erkenntlich zeigen.

      So, nun aber. Die nächsten Pakete kommen. Ja, da ist eins, das mir gehört. Ich ziehe es herunter und bin schon ganz happy, als die nächsten Pakete wieder im Eiltempo an mir vorbeirauschen. Das Band hat aber auch ein Tempo drauf. Das müssen 50 Stundenkilometer sein. Mindestens! Nun gut, machen wir es kurz: Von den insgesamt 148 Paketen, die an diesem Tag auf meiner Tour geroutet sind, habe ich 88 runtergezogen. Die restlichen 60 liegen in der Nachbarbox. Aber mein Chef hat sie schon geholt und eingescannt und meint, das ginge jedem am Anfang so. Da bin ich aber beruhigt. Ich habe mittlerweile komplett den Überblick verloren, mein Chef, nennen wir ihn der Einfachheit halber Ingo, scannt gerade die letzten Pakete ein. Danach wird das Auto beladen.

      Nun schickt er mich in die andere Halle und sagt, ich solle die Rollkarte holen. Was soll ich? Rollkarte? Was ist denn das? Ich werde aufgeklärt: Die Rollkarte sind die Papiere, auf denen die ganzen Sachen stehen, also die Adressen der Kunden, zu denen wir müssen. Ach so! Klar! Und wo soll ich die holen? In der anderen Halle. Na, dann will ich mal. Nur, wie komme ich da rein? An der Stirnseite entdecke ich eine Tür, die gerade aufgeht, weil ein Fahrer rauskommt. Also husche ich rein und sehe einen Pulk von Fahrern, die um einen Drucker stehen und auf Papiere warten. Aha, hier gibt’s diese Rolldinger. Ich will meine auch haben. Das sage ich dem Mann mit dem furchtbar netten Gesichtsausdruck, der mich nur entgeistert anschaut. Also frage ich noch mal, ob ich denn hier die Papiere bekommen würde. Er raunt mich an: „Du warten.“ OK, ich warten! Alle anderen Fahrer kriegen ihre Rolldinger, nur ich nicht. Aber ich brav weiter warten. Bis ich schließlich alleine da stehe. Der nette Mann sieht mich an und fragt: „Tournummer?“ Ich sage ihm die Nummer und kriege meine Papiere. Ich will schon gehen, da pöbelt er mich wiederum an: „Wo du hin? Ausfüllen hier!“ Ich entgegne, dass ich heute meinen ersten Tag habe und ich nicht wüsste, wo ich was auszufüllen hätte. Er verdreht die Augen und will schon wieder loslegen, als gerade Ingo, mein Chef, dazu stößt und mir alles erklärt. Nun hab ich das auch begriffen. Ich erfahre, dass Ramon, so heißt der nette Mensch übrigens, immer so ist. Ich denke, wir werden irgendwann mal bestimmt dicke Freunde.

      Meine Tour ist übrigens in Schwabach. Vom Depot aus 15 Minuten Fahrzeit. Schwabach kenne ich. Ich war ein paar Mal da, kenne mich aber nicht wirklich aus. Wir fahren die Tour so, wie ich sie dann in Zukunft auch zu fahren habe. Merken kann ich mir das am Anfang natürlich noch nicht, aber ich werde ja auch zwei Wochen eingefahren. Wir beginnen im Industriegebiet, dann kommt das Gebiet um den Bahnhof, die Innenstadt samt Fußgängerzone und dann noch das Gewerbegebiet. Das Zustellen selbst ist kein Problem, der Umgang mit dem Scanner ist gewöhnungsbedürftig, aber wenn man das Teil ein paar Mal bedient hat, dann geht das auch. Ich bin ja schon vorbelastet, habe vorher bereits bei einem anderen Logistikunternehmen gearbeitet.

      Der erste Tag endet schließlich im Depot am Fahrerschalter, wo mir Ingo den Ablauf nach der Rückkehr erklärt. Merken kann ich mir fast noch gar nichts, aber das wird schon noch. Jetzt ist erst mal Wochenende. Gott sei Dank!

      Tag 4 – Der Politeur in der Fuzo

      Nun, dann wollen wir mal wieder. Ich finde das Depot nach meinem ersten Tag und dem anschließenden Wochenende gleich wieder! Komme sogar ohne Probleme auf das Gelände. Sie lachen vielleicht, aber das ist gar nicht so einfach, denn am Eingang ist eine Schranke. Die ist immer zu. Außer jemand fährt mit dem Auto rein, dann ist sie natürlich offen. Wäre ja auch blöd, weil der Verschleiß an Schranken sonst viel zu hoch wäre. Ich fahre also mit meinem Auto auf das Gelände – durch die offene Schranke, weil gerade vor mir ebenfalls ein Wagen hineinfährt – und finde sogar einen Parkplatz. Den Weg zu meiner Box finde ich auch. Dann kann ja nix mehr schiefgehen.

      Weil ich in die Halle will, quetsche ich mich, wie am Freitag gelernt, zwischen offener hinterer Autotür (die Tourbusse stehen immer über Nacht dort) und gummierter Wand durch und stehe vor einer verschlossenen Hallentür. Prima! Na dann setz ich mich eben ins Auto und warte. Oder soll ich mich wieder durch den Spalt nach draußen quetschen? Ich könnte aber auch einen Reifen wechseln …

      Wie ich da so im Auto sitze und warte, bewegt sich eine Nebelbank auf mich beziehungsweise den Wagen zu. Zuerst denke ich, ich habe etwas mit den Augen, so einen Schleier davor oder was auch immer. Aber wenig später merke ich, dass das mein rauchender Chef mit noch jemandem im Schlepptau ist, der, respektive die, ebenfalls raucht. Die Frau stellt sich als seine Frau heraus, also meine Chefin, und sie heißt Sabine. Und noch einen Mitarbeiter haben die beiden dabei, einen Russen mit Namen Dimitri. Ingo und Sabine sind also die Unternehmer, die beim Logistikbetrieb als Selbstständige beschäftigt werden. Ich wiederum bin bei meinem Unternehmer angestellt. Ich bekomme 1200 Euro im Monat. Ingo, mein Chef, bekommt für eine Tour 3600 Euro, so hat er auch ein bisschen was an mir verdient. Ob er wirklich so viel bekommt, weiß ich nicht. Wenn ich mir aber ihn und die anderen Unternehmer so anschaue und sehe, was sie für Autos fahren, wie viel sie rauchen und so weiter, dann