Horst Giesler

EXPAT UNPLUGGED


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und mich von den Vorteilen dieser Wahnsinnsidee zu überzeugen.

      Es musste also wieder etwas Großes im Anflug sein.

      Im Gegensatz zu Papa redet unsere Erzeugerin nicht lange um den heißen Brei herum sondern lässt die Katze immer gleich aus dem Sack. Auch diesmal war dies nicht unbedingt ein Vorteil.

      "Die Würfel sind gefallen. Im Juli werde ich eine neue Aufgabe in Rio de Janeiro antreten.” Und nach einer kleinen Pause: "Ihr wisst, was dies bedeutet.”

      Chiara musste nur kurz überlegen, dann hatte sie die passende Antwort parat. Wie von einer Tarantel gestochen sprang sie von ihrem Stuhl auf, stemmte beide Hände auf die Tischplatte und schmetterte ihrer erschrockenen Mutter zornroten Gesichts ein resolutes und schnörkelloses "OHNE MICH!” entgegen. Sie machte eine rosa Kaugummiblase, ließ sie lautstark zerplatzen, schnitt ihre berühmte Ihr-könnt-mich-mal-Grimasse und verließ fluchtartig den Raum.

      Was für ein Abgang.

      Die Szene war filmreif.

      Papa schaute seine bessere Hälfte an, als wolle er sagen: Prost Mahlzeit! Das hast du ja toll hingekriegt, Frau Doktor.

      Während unser kleiner Quälgeist mit dem pubertätsgebeutelten Hormonhaushalt anscheinend genau wusste, was Mamas Worte bedeuteten, schnackelte ich mit meinen knapp dreizehneinhalb Jahren damals zunächst gar nichts.

      Mama verdrehte die Augen, holte tief Luft, als habe sie einen längeren Tauchgang vor sich, nahm ihr Glas, flüsterte ihrem Gatten ein vertrautes "Ich wusste es” zu und folgte unserer Drama-Queen auf ihr Zimmer. Eigentlich völlig überflüssig, denn Chiaras Aussage ließ wieder einmal keinen Spielraum für Diskussionen. Diese Gabe hatte sie von ihrer Mutter.

      Papa fixierte kurz die Weinflasche, goss sich nach und nutzte die unverhoffte Zweisamkeit für ein Männergespräch. Dabei erfuhr ich unter anderem, dass die Millionenmetropole Rio de Janeiro an der brasilianischen Atlantikküste liegt und dass der Umzug dorthin genau zum richtigen Zeitpunkt meiner Fußballerkarriere käme. Schließlich wollte ich ja Profifußballer werden, oder etwa nicht? Und ob ich wollte. Dieser Gedanke beruhigte ihn ungemein. Aus dieser Ecke drohte vorerst keine Gefahr.

      Der stolze Unterton in Papas Stimme war nicht zu überhören, als er die Liebhaberin italienischen Rotweins nach ihrer Rückkehr mit einem "Hier ist allet va bene” etwas aufzuheitern versuchte.

      Sie setzte den Zeigefinger an die Lippen, schüttelte leicht den Kopf und ließ sich auf das weiße Rolf-Benz-Sofa fallen.

      Das Frauengespräch war offensichtlich nicht so erfolgreich verlaufen. Mamas Dackelblick war jedenfalls keinerlei Erleichterung anzusehen.

      Die Stimmung war im Keller. Kein gutes Brasilien-Omen.

      Unser italienischer Romantiker tat, was er bei derartigen familieninternen Herausforderungen immer tut: Deckenstrahler runterdimmen, mit einer Spaghetti zwei Kerzen anzünden, due amaretti e Eros Ramazotti. Sein Griff in die musikalische Hausapotheke wirkte sofort. Unsere Seelsorgerin für jede Lebenslage schloss die Augen, fuhr die Stresshormone im Körper runter und die miese Laune verschwand aus ihrem Gesicht. Die Musik und Papas Candlelight-Nummer machten sie sofort ruhiger. Salute!

      In den nächsten Tagen und Wochen erfuhr ich so einiges über unseren häuslichen Plagegeist und auch über ihre mangelnde Begeisterung für Mamas "Traumstandort Rio”.

      Chiara, und das war anscheinend das Grundübel für den ganzen Zinnober und ihre frühreife Antihaltung, hatte seit zwei Monaten einen neuen Freund. Ein Umzug würde, und da machte sie sich keinerlei Illusionen, für erheblichen Herzschmerz sorgen und das Ende der Teenie-Romanze mit Paul bedeuten. Die Tatsache, dass bereits jetzt diese "zwei Tussen” aus der Parallelklasse ein Auge auf ihren Loverboy geworfen hatten, machte die Geschichte nicht einfacher. Chiaras Herzensangelegenheiten sind heute noch verzwickt.

      Es gab noch eine Reihe anderer Gründe, warum sich bei der bockigen Kratzbürste, der jegliche weibliche Zaghaftigkeit fremd ist, keine richtige Begeisterung einstellen wollte. Diesmal brachte es Papa auf den Punkt:

      "Pubertät beginnt im Kopf! Deine Schwester ist in einem sehr schwierigen Alter und wir müssen jetzt alle etwas Rücksicht auf sie nehmen”.

      Ach, nee! Die Arme. Vielen Dank auch für den Hinweis.

      Papas aufmüpfiger Liebling mit der zerwühlten Wuschelmähne und dem frühreifen Teenagerhirn war ein Jahr älter als ich und wir kamen eigentlich ganz gut miteinander aus. Aber auch ich hatte bemerkt, dass in letzter Zeit andere Sachen wichtiger für sie waren. Früher hatte sie mir immer bereitwillig bei den Hausaufgaben geholfen und auch am Piano hatte sie sich immer sehr viel Mühe mit mir gegeben. Jetzt traute ich mich kaum noch zu fragen, zu unberechenbar und pampig waren ihre Antworten. Sie schien in letzter Zeit viel nachzudenken, vor allem über sich.

      Wie sich später herausstellte, war ihr hollywoodreifer Auftritt Anfang Februar lediglich der Auftakt für ein weiteres Jahr im Zeichen der Terrorzicke. Da konnte Konfuzius einpacken, wenn uns meine Schwester mit ihren Pubertätsweisheiten beglückte.

      Die Stimmung blieb angespannt bis zu unserer Abreise Ende Juni. Chiara, wegen ihrer flotten Sprüche und feinen Einzeiler nicht nur in den heimischen vier Wänden gefürchtet, drückte noch einige Male voll auf die Tränendrüsen und erreichte dabei ohne Probleme in gefühlter Überschallgeschwindigkeit ihre volle Schmollstärke. In Erinnerung ist mir der Boykott des Trotzköpfchens beim Packen des Containers geblieben. Unser patziges Madamchen weigerte sich auch nur einen Finger zu rühren – "Den Teufel werd ich tun!" – weshalb unser Erzeugerduo in einer Nacht und Nebelaktion, Chiara war ausgebüxt und verarbeitete zu nächtlicher Stunde ihren Trennungsschmerz bei Paul, ihr ganzes Zimmer in Umzugskartons verpackten.

      Leider war ich bei Chiaras Rückkehr nicht zu Hause. Aber von allem, was ich mitbekam, war unser frühreifes Zornröschen, dessen Zunge wie ein Samuraischwert zuschlagen kann, mit ihren poetischen Stilblüten wohl zur Höchstform aufgelaufen und hatte sich gegenüber unseren Eltern nicht nur im Ton sondern auch in der Wortwahl mächtig vergriffen. Es muss ordentlich gerummst haben.

      Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass unsere Little Miss Bossy mit ihrer ungebrochenen Provokationslust über ein ganz erstaunliches Repertoire an deutschen, italienischen und englischen Fachbegriffen verfügt, die eher aus der unteren Schublade stammen. Diesmal war ihre verbale Meuterei auch unserem Niedrigpulsvater mit der mediterranen Toleranzkultur zu viel gewesen und die todunglückliche Anarcho-Göre wurde mit einen seiner "Belohnungen” (außer Papa fand das niemand lustig) ausgezeichnet. In der Sprache Goethes und Schillers heißt das: Eine Woche Hausarrest, Taschengeldentzug einschließlich völligen Verzichts auf die multimedialen Begleiter iPod, iPhone und iLiner.

      Die Wochen und Monate vor und nach unserem Umzug nach Rio waren irgendwie typisch für unsere Familie. Eine gewisse Unruhe und latente Aufgeregtheit lagen ständig wie ein langer Schatten über der Familienidylle, wo immer wir uns auch gerade aufhielten.

      Als Kinder hatten wir das lange nicht wahrgenommen. Aber mit zunehmendem Alter, und Chiaras dicke Lippe und Psychoterror vor unserem Umzug nach Brasilien stehen dafür stellvertretend, stellten wir uns immer häufiger die Frage: Wie lange sind wir noch hier? Wann heißt es wieder Zelte abbrechen und was kommt als Nächstes? Wann drückt wieder jemand auf die Game-over-Taste?

      Fragen, die kein Mensch braucht, erst recht kein Teenager.

      Schuld an diesem Reizklima und ständigen Countdown-Stimmung war unsere Mutter, oder besser gesagt ihr Beruf im Auswärtigen Dienst der Bundesrepublik Deutschland. "Frau Dr. Dagmar Zimmermann-Piero – Leiterin Kulturabteilung” so oder so ähnlich stand es für ein paar Jahre auf ihrer schmucken Visitenkarte.

      Dabei, so erzählte sie es jedenfalls, war sie eher zufällig beim "Amt” gelandet. Nach ihrem Abitur, für das sie trotz NATO-Doppelbeschluss, Wackersdorf, Startbahn West und Waldsterben noch Zeit gefunden hatte und welches ihren alten Herrn kurz an seiner Vaterschaft hatte zweifeln lassen, hatte sie in Gießen Tiermedizin studiert und auch eine kurze Zeit als Tierärztin gearbeitet.

      Opa, er plaudert heute noch gerne und oft aus dem Nähkästchen, erzählte später