Horst Giesler

EXPAT UNPLUGGED


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Stützen. Im Kirchenchor trällerte und schmetterte er mit und warf sich mit seinem mächtigen Gesangsorgan ins hohe C wie kein anderer.

      Auch der Heimat- und Kulturpflegeverein sowie der Kleintierzuchtverein hatten eine Delegation entsandt. Der kleine Hase, Herbert Castor-Rex vom Eselsberg, den der Jubilar als Geschenk überreicht bekam, zog später in Chiaras Kinderzimmer sämtliche Register und legte seinen adligen Charme überraschend schnell ab. Noch heute ist nicht ganz geklärt wie er über die Brüstung unseres Balkons klettern und anschließend verschwinden konnte. Chiara zeigte sich emotional nicht so stark betroffen, wie man das vielleicht hätte erwarten können. Ihre Trauerphase war jedenfalls auffällig kurz.

      Die längste Laudatio an dem Jubeltag hielt ein Vertreter der Freien Wählergemeinschaft. Unser sprach- und wirkmächtiger Promi-Opa war lange Zeit als Fraktionsvorsitzender das Zugpferd der FWG im Gemeindeparlament gewesen und hatte sich mit hochgekrempelten Ärmeln in nahezu jede Debatte gestürzt. Als lokale Politgröße hatte er während dieser Zeit mit seiner erlebbaren Bürgernähe angeblich nicht nur einige bahnbrechende Akzente gesetzt sondern mit seinen bewundernswerten Eigenarten: Leidenschaft, Verantwortung und Augenmaß auch immer wieder und unermüdlich Mehrheiten organisiert.

      "Herbert! Du hast dich um das Blühen deiner Heimatgemeinde verdient gemacht!"

      Leider ging der Redner nicht näher auf Details ein.

      Mindestens genauso viel Hingabe wie für seine Vereine und die Arbeit als Volkstribun im Gemeindeparlament zeigte der verdiente Alleskönner für seinen Beruf. Er war Lehrer, oder wie er immer sagte: Schulmeister. Die letzten fast 25 Jahre davon Schulleiter der Grund- und Hauptschule in … richtig geraten: Stockfeld.

      In der Welt des Vogelsberger Eigengewächs gibt es auch heute noch nur zwei Arten von Menschen. Schwätzer und Macher! Und jeder weiß, zu welchem Stamm er gehört. Kein verklemmter Stubenhocker oder orientierungsloser Mitläufer. Auch die Reservebank ist sein Platz nicht. Er greift lieber aktiv ins Geschehen ein und mischt mitten auf dem Spielfeld mit. Wenn nötig im Alleingang, und immer weit vorn.

      Der VB-Dynamo, in und um Stockfeld auch unter seinem Decknamen, Hans Dampf, bekannt, war und ist auch heute noch eine Institution in der hessischen Einöde. Es gibt niemanden im Dorf, der nicht irgendeine Geschichte über den Allrounder erzählen kann.

      Sobald ich bei meinen früheren Besuchen als vom "Zimmermänne senne Kleene de Klei” identifiziert worden war, musste ich mir von meinem Gegenüber, ob ich wollte oder nicht, Opa-glaubst-du-nicht-Geschichten anhören. Nicht immer Heldengeschichten.

      Da es meist die gleichen Schwänke waren, vergaß ich auch schon einmal, dabei ein freundliches und interessiertes Gesicht zu machen.

      Dennoch war ich mir bereits früh meiner besonderen Verantwortung als Mitglied der dörflichen Royal Family bewusst und es gab auch durchaus gute Momente. Geholfen hat sicherlich auch, dass ich mit den meisten Ureinwohnern über drei bis fünf Ecken verwandt bin.

      Stockfeld ohne Herbert Zimmermann ist wie England ohne die Queen, die deutsche Politik ohne Wolfgang Schäuble und die Bundesliga ohne Konferenzschaltung.

      Um mit Voltaire zu sprechen: Wenn es Opa nicht gäbe, müsste man ihn erfinden.

      Daran, dass es wirklich niemanden gibt, der in Stockfeld und Umgebung nicht die Familie Zimmermann kennt, hat auch Oma Gisela ihren Anteil. Die gebürtige Stockfelderin hat in über 30 Jahre als Hebamme den halben Vogelsberg abgenabelt und sich fast genauso lang als gewähltes Mitglied in die Arbeit des örtlichen Kirchenvorstandes eingebracht.

      Doch zurück zu Alessandro und Luigi, zwei von Opas besten amici und was das Feiern anbelangte in ihren besten Zeiten eine Kreuzung aus ihrem italienischen Landsmann Silvio Berlusconi und Prinz Harry.

      Zusammen mit noch zwei weiteren Landsmännern hatten sie Anfang der sechziger Jahre zu den ersten Gastarbeitern gezählt, die ganz in der Nähe von Stockfeld für ein größeres Bauunternehmen arbeiteten.

      Opa hatte die beiden entdeckt als sie nach Feierabend auf dem Bolzplatz kickten.

      Ohne ein Wort Italienisch zu können, hatte er es mit seiner unkonventionellen Herangehensweise und seiner beispiellosen kommunikativen Begabung geschafft, die beiden zu überreden, beim TSV mitzutrainieren und später auch in der A-Klasse um Punkte zu kämpfen. Schon damals war es erstaunlich, was so ein paar Fläschchen oberhessischer Getränkespezialitäten für die Völkerverständigung leisten können.

      Am Ende der zweiten Saison feierte das ganze Dorf die Meisterschaft und campione Alessandro und eroe Luigi stiegen fortan zur regionalen Fußballprominenz auf.

      Obwohl sie bessere Angebote von finanzstärkeren Vereinen vorliegen hatten, blieben sie ihrem Kumpel und dem TSV bis zu ihrer Rückkehr nach Italien treu.

      Das lag vielleicht auch daran, dass unser Turbo-Opa alle 14 Tage mit seinem alten Opel Rekord nach Frankfurt zu Hertie gurkte, wo sie nicht nur italienische Waren einkaufen konnten, sondern sich auch mit Bekannten aus der alten Heimat trafen. Das war zumindest die offizielle Version. Unsere bibelfeste und weitsichtige VB-Oma vermutete da auch noch andere Aktivitäten, weshalb sie vor jeder Fahrt noch einmal mit funkelnden Augen intensiven und direkten Blickkontakt mit ihrem Gemahlen aufnahm.

      Der passionierte Opel-Fahrer hatte auch dafür gesorgt, dass sie die alte Barracke (14 m², vier Mann, Etagenbetten, ein Tisch, vier Stühle) verlassen konnten und bei befreundeten Familien unterkamen. Als dann das neue Vereinshaus am Sportplatz fertig war, organisierte er auch schon einmal einen italienischen Pasta- und Filmabend. Don Camillo e l‘onorevole Peppone und die Gemüselasagne unserer eigentlich zur Kartoffelfraktion gehörenden Großmutter zählten zu den großen Favoriten.

      Aber Alessandro und Luigi konnten nicht nur mit dem runden Leder gut umgehen. Ihr Spektrum reichte weit über die 100 Meter eines Fußballfeldes hinaus.

      Oma Gisela erzählte immer wieder, wie die Italiener nicht nur der dörflichen Fußballmannschaft gut getan hatten. Auch außerhalb des Platzes müssen sie wohl öfters zur Höchstform aufgelaufen sein und den einen oder anderen Treffer gelandet haben.

      Anfangs waren die dörflichen signorine noch sehr zurückhaltend, was ihren Umgang mit den Italienern anging. Doch das sollte sich schon bald ändern.

      Die alljährlichen kulturellen Höhepunkte des Dorflebens wie Kirmes, Fasching und Vereinsfeste boten der amicizia italiana-tedesca eine willkommene Plattform. Laut Oma waren die hüftsteifen und große Töne spuckenden Dorfhelden spätestens gegen 23.00 Uhr so breit und fußlahm, dass sie sich kaum noch auf den Beinen halten, geschweige denn tanzen konnten. Dann schlug die große Stunde der Südeuropäer. Zunächst auf dem Parkett, später dann wohl auch anderswo.

      Diese Form der Verschwisterung wurde jedoch nicht von allen begrüßt und es gab öfters böses Blut. Zum Glück verstanden die beiden kaum einen, der zum Teil unterirdischen und wenig zimperlichen Kommentare. Aber die hitzigen Wortgefechte zwischen "Itakern” und "Spaghettifressern” auf der einen Seite und crauti e wurstel auf der anderen Seite konnten schon etwas auf die Stimmung drücken. Es ging zur Sache und es wurde ganz bestimmt nicht mit Wattebäuschchen geschmissen.

      Dabei gab es auch Situationen, die fast schon wieder lustig waren. Wenn Opa von seinen amici italiani spricht, vergisst er selten die sogenannte Panzergeschichte zu erwähnen. Dabei achtet die VB-Ikone jedoch immer darauf, dass Oma nicht in der Nähe ist. Sie findet die Geschichte offensichtlich nicht ganz so witzig.

      Einige örtliche Weltkriegsveteranen hatten irgendwann zu fortgeschrittener Stunde den Versuch unternommen, Alessandro und Luigi Kalauer über italienische Panzer (anscheinend hatten diese einen Gang mehr: den Rückwärtsgang) zu erzählen.

      Der starke oberhessische Dialekt und die vorherige Aufnahme von deutlich zu viel Hochprozentigem verhinderten allerdings, dass die Pointe zündete. Auch alle Versuche den Witz mit Gesten rückwärtslaufend und mit Panzergeräuschen untermalt, darzustellen, schlugen fehl.

      Als dann einer der Komiker auch noch das Panzerrohr mit etwas zu einfachen Gesten darzustellen versuchte und beim Rückwärtslaufen zunächst die halbe Tanzfläche