Horst Giesler

EXPAT UNPLUGGED


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langsam dämmerte mir, dass es mit dem ursprünglichen Plan, der einen zwei bis dreistündigen Aufenthalt im Hause meiner Großeltern vorgesehen hatte, nichts mehr werden würde und schleunigst wieder einmal ein Plan B aus dem Hut gezaubert werden musste. Und dies hatte möglichst zügig zu erfolgen, da ich meine Schäflein im Festzelt sehr wahrscheinlich nicht mehr würde einfangen können. Da konnte ich mich auf empirische Werte bei ähnlichen Veranstaltungen verlassen.

      Aber Opa wäre nicht Opa-Controletti, wenn er nicht auch hier schon einige spontane Planungen in die Wege geleitet hätte. Um es kurz zu machen: Der Multitasker war wieder einmal auf Zack und hatte seinen gefliesten fast hundert Quadratmeter großen Fünf-Sterne-Garagenpalast mit integriertem Werkstattzentrum seit langer Zeit wieder einmal ausgemistet und mithilfe der örtlichen Reservistengruppe zu einem Biwak ausgebaut. Feldbetten, Matratzen, Kopfkissen, Decken, zwei Flaschen grappa di prossecco, einen Kasten Export, eine Kiste Sprudelwasser … der Delegator hatte wieder einmal an alles gedacht. VB-Präzisionsarbeit.

      Es gab noch einige hastige Anrufe meiner Schützlinge nach Berlin, um unsere Verspätung bereits präventiv anzukündigen. Auch hier hatten einige bereits harte empirische Fakten gesammelt, die einen solchen Schritt als äußerst ratsam erscheinen ließen. Dank Feiertag und Brückentag musste auch niemand sein Veto für den verlängerten Boxenstopp in der oberhessischen Kulturmetropole einlegen. Spätestens da wusste ich, es war die richtige Entscheidung, diesem Ort früherer Prägung wieder einmal einen Besuch abgestattet zu haben.

      "Ausjerechnet Schnellinger."

      Klaus kurze, noch mit zusammen gekniffenen Augen geflüsterte Begrüßung am Morgen danach gab mir einen ersten zarten Hinweis darauf, wie sich der vorhergehende Abend entfaltet hatte. Offensichtlich kein Honigschlecken. Da ich relativ frühzeitig von meinem nicht gerade kleinen Verwandten- und Bekanntenkreis in Beschlag genommen worden war, hatte ich das Treiben der "Ehrendelegation aus Berlin” (O-Ton beim Einmarsch ins Festzelt) etwas aus den Augen verloren.

      Zunächst war noch alles in geordneten Bahnen verlaufen. Im Festzelt hatten es die Delegierten tatsächlich wider Erwarten geschafft, sich um einen Festzelttisch zu versammeln. Dass die reifen Semester aus den Reihen der geselligen Landfrauen dafür etwas enger zusammengerückt waren, wurde in den nächsten Stunden mit spontanen Tanz- und Schunkeleinlagen, nicht ganz jugendfreien Trinksprüchen sowie unzähligen Verbrüderungsszenen mit gekreuzten Bier- und Weingläsern angemessen honoriert.

      Die Stimmung war so gut, dass man zunächst gar nichts davon mitbekam, als es im Zelt leiser und leiser wurde. Es bedurfte mehrerer Ansagen und Aufforderungen an die "Signore e Signori am tavolo dort hinten”, endlich vom Tisch zu steigen und sich auf ihre Plätze zu begeben ehe Cousin und Freund Roland die versammelte Festgemeinde souverän zweisprachig begrüßen konnte.

      Für einige aus unserer Truppe kam die Begrüßung schon etwas leicht zu spät und vorgezogene Abschiedsworte hätten wahrscheinlich besser gepasst.

      Wie bei jedem anständigen Jubiläum üblich, gab es auch an diesem Abend zahlreiche Auszeichnungen für verdiente Vereinsmitglieder. Oma Gisela, der Torschütze des 1 : 0 sowie einige andere "Frauen und Männer der ersten Stunde” bekamen aus den Händen des Landrats den Ehrenbrief des Landes Hessen verliehen, während Alessandro, Luigi und ihre Gattinnen von einer Vertreterin des italienischen Generalkonsulats in Frankfurt mit dem Ordine al Merito della Repubblica Italiana bedacht wurden.

      Während die Trachtengilde Stockfeld anschließend fulminant über das aufgebaute Holzparkett fegte, marschierten die geehrten Wegbereiter der deutsch-italienischen Freundschaft von der Tanzfläche durch das Zelt. Das gemeine Volk huldigte ihnen mit Händeklatschen, Händeschütteln und Schulterklopfen.

      Dafür dass man glauben konnte bei einer Probe für das Musikantenstadl zu sein, sorgte auch der Spielmannszug aus der Partnergemeinde, der erneut mit einem Wummtata-Marsch glänzte.

      Auch die Berliner Tanzbären waren sich schnell der besonderen Bedeutung der Situation bewusst, nahmen sofort wieder die Produktion von Glückshormonen auf und zelebrierten ihre rhythmischen Ovationen schwuppdiwupp abermals stehend in luftiger Höhe.

      Zwei Nanosekunden nach dem 100 Dezibel-Triumphzug müssen dann die oberhessische Integrationsfigur, Alessandro, Luigi und einige andere Vertreter des harten deutsch-italienischen Kerns in der Sektbar gelandet sein. Oma schwört heute noch, sie seien schnurstracks von der Tanzfläche mit den Urkunden in der Hand Richtung champagne bar verschwunden. Und hier nahm das Drama dann seinen Lauf. Unser frisch gekürter Großvater legte seine eh schon nicht besonders stark ausgeprägte protestantische Askese wieder einmal extrem schnell ab und ließ die Puppen tanzen. Von wegen ein Gläschen in Ehren. Für ihn ist das auch eine Form von Größe.

      Auch einige der Berliner Trinksportfreunde hatten mittlerweile einen Stellungswechsel vorgenommen und die schummrige Barbeleuchtung dem hell erleuchteten Festzelt vorgezogen. Und wie im normalen Leben auch, hatten sich dann dort auch gleich holterdiepolter die Richtigen gefunden.

      Im Laufe der Nacht und der frühen Morgenstunden gaben die drei Hasardeure den jungen Hüpfern unter anderem eine umfangreiche und mit zahllosen Räubergeschichten gespickte Einführung in die komplexe deutsch-italienische Fußballgeschichte, deren Ursprünge streng genommen irgendwie auch in Stockfeld liegen ("Wida wat jelernt!"), und der Vogelsbergfürst hatte sehr wahrscheinlich abermals etwas zu ausführlich vom Jahrhundertspiel in Mexico-City während der Fußballweltmeisterschaft 1970 geschwärmt.

      Das Halbfinale gegen die Azzurri war ein Hochamt des Fußballs gewesen und die Dramen dieser Begegnung wurden Legenden.

      Der damals für den A. C. Milan spielende Schnellinger genoss so etwas wie einen Kultstatus unter den Italienfreunden in Stockfeld und hatte mit seinem zwischenzeitlichen Ausgleich die deutsche Niederlage noch etwas aufschieben können. Bei den emotionalen und mit viel Herzblut angerührten Schilderungen des wandelnden Fußballlexikons konnte man den Eindruck gewinnen, das Spiel sei erst letzte Woche gewesen und habe ein Trauma bei ihm ausgelöst. Fakt ist jedenfalls, wann immer der Vogelsbergbaron den Joker Schnellinger aus der Erzählkiste zieht, wird es intensiv, sehr intensiv.

      Ja, und so war es auch in dieser Nacht. Der gelernte Vorstopper, für den Fußball Arbeit, Maloche, Grass fressen, Birne hinhalten, Kampf Mann gegen Mann ist, landete noch einige Treffer in der Sektbar, aber auch meine Jungs hielten mit einer Mischung aus Härte und Herzlichkeit ordentlich dagegen. Zu später Stunde kramte der Nestor der deutsch-italienischen Freundschaft noch einmal das Pappschild hervor und es durften sich noch einige Liebhaber der berauschenden Substanz in die Torschützenliste eintragen. Man einigte sich auf ein Unentschieden und stimmte darüber überein, dass die überragenden Leistungen beider Teams ein Rückspiel in Berlin verdient hätten. Danach kroch man auf dem Zahnfleisch nach Hause beziehungsweise in die Garage.

      Das Pappschild hat übrigens einen Ehrenplatz in unserer Berliner Stammkneipe und noch heute wird in der Mannschaft unterschieden in diejenigen, die dabei waren und diejenigen, die sich die Geschichte bereits zum xten Male anhören mussten. Überflüssig zu erwähnen, dass der Handlungsablauf natürlich jedes Mal atemberaubender wird und die drallen Landfrauen knackiger und wilder.

      Apropos Kultstatus.

      Noch vor unserer Weiterfahrt nach Berlin hatte es Klaus, trotz erhöhtem Cholesterinbierspiegel, kleinem Filmriss und riesigem Kater noch geschafft, dem Fußball-Junkie die Ehrenmitgliedschaft beim FC Glasvoll anzubieten. Für Opa mit seinem traditionellen Verständnis von Teambuilding sind derartige Nächte überaus wichtig für sein System von Vertrauens- und Netzwerkbildung. Danach kann er ungehemmt menschliche Wärme zulassen. Eine symphatische Einstellung.

      Natürlich zögerte er keinen Moment und nahm dankend an.

      Bei unserem letzten Pfingstturnier wurde der bunte Hund als Ehren-Ranger begrüßt und durfte anschließend bei bestem Fritz-Walter-Wetter mit sichtbarer Rührung die Pokale während der Siegerehrung überreichen. Der "Schnellinger aus dem Vojelsberg” mit seinem Senioren-Street-Style hat in Berlin einen richtigen kleinen Fanclub und es vergeht kaum ein Training oder Spiel, ohne dass ich auf den Jux-und-Ulk-Senior angesprochen werde.

      Auch bei ehemaligen Schulfreunden, die mit mir früher