März 2004 fällte das Bundesverfassungsgericht (AZ: BVZ 784/03) allerdings ein überaus bedeutsames Urteil: Ein Heiler, der durch geistige Kräfte oder energetische Methoden die Selbstheilungspotenziale seiner Klienten aktiviert; der durch Handauflagen, Gebet, Radionik, Meditation oder Übertragung positiver Gedanken und Energien Heilung oder zumindest eine Verbesserung der körperlich-seelisch-geistigen Verfassung bewirkt, muss jetzt nicht mehr Arzt oder Heilpraktiker sein, um diese Tätigkeit ausüben zu können. Die Richter folgten dem Grundsatz: Wer heilt, hat Recht. Gegen dieses Urteil gibt es grundsätzlich einen nicht zu unterschätzenden Widerstand, der die alten Strukturen zu erhalten bestrebt ist – ob in der klassischen Medizin oder generell hinsichtlich der zwar reflektierten, aber letztlich akzeptierten ökonomischen Grundlagen und deren Verteilungsschlüssel in der Gesellschaft. Gegenwärtig ist zu beobachten, dass aus allen Ecken die Probleme massiv in die gesellschaftliche Mitte geraten, deren symbolischer und faktischer Zeigefinger sich immer tiefer in die ethischen und moralischen Grundlagen von politischen und wirtschaftlichen Entscheidungen bohrt. Je mehr man versucht ist, sie zu bagatellisieren, desto größer werden die Probleme, Folgen, Schmerzen und Leiden: in Natur und Mensch. In den westlichen Kulturen haben einige Wenige ihren Reichtum mittels Gefühlsverleugnung und Gefühlsabspaltung im beruflichen Bereich erringen können. Dass sie ihre Motive nicht wissen wollen, wo sie gegen so viele andere Menschen mit Druck, Macht, Kriegen und (teilweise) kriminellem Wirtschaftsverhalten ihre Interessen durchgesetzt haben und wie diese unter ihren Entscheidungen leidenden Menschen leben, versteht sich von selbst. Ökonomie wurde an Natur, Mensch und Menschlichkeit vorbei konzipiert. Kapitalismus reduzierte den Menschen auf Arbeitskraft und Körper, Medizin reduzierte den Menschen auf den Körper. Ebenso wurde Sexualität zu einer folgenlosen und unverbindlichen körperlichen Aktivität. Alles wurde käuflich und verkäuflich. Der Verleugnung der Gefühlswelt, des Leidens und Lebens, dem Überdecken von Schreckensschreien und Schmerzen wurden öffentlich die technischen Errungenschaften und ökonomischen Erfolge gegenübergestellt. Zwei Seiten einer Medaille, wobei der Glanz der ökonomischen Seite gegenwärtig rapide verblasst, während die Seite der Schäden ins Tageslicht tritt. Das hindert die Wirtschaft aber nicht daran, Riesengewinne einzufahren, da diese erst auf der Basis von Not und Leid anderer Menschen verwirklicht werden konnten. Dieses (Miss-)Verhältnis von Menschen zu ihren Lebensgrundlagen in der Beziehung zu Leid, Not, Tod und Profit ist zu klären. „Mord“ allein reicht nicht, wie man seit den Freud’schen Ausführungen zum Ödipuskomplex weiß. Vielmehr sind Wissen, Einsicht, Mitgefühl, Nähe und Vergebung notwendige Prozesse, auf denen wahrhafte Demokratie aufgebaut werden kann.
Das „Wissen“ über die vorangegangenen Zeilen ist nicht neu, aber das Bewusstsein mit gesellschaftlichen Prozessen umzugehen, erweitert sich. Es ist an der Zeit, an einem Tisch zu sitzen, an dem jeder seinen Platz hat und sprechen kann, ohne sofort politisch beargwöhnt und bedroht zu werden. Denn es ist zu konstatieren, dass Menschen rund um die Welt heute einen völlig anderen politischen und informativen Horizont haben als die Generationen vor uns. Insofern sind wir alle aufgerufen, auch andere, neue Lösungen zu finden. Es werden Zeugen gebraucht – und Zuhörer mit Mitgefühl und Einsicht. Egal, ob in Natur oder Mensch, in Wohnvierteln, Beziehungen oder Arbeitsverhältnissen – oder in der Einschränkung des Berufsrechts für Psychologische Psychotherapeuten und Ärzte mit entsprechend eingeschränkten und Abhängigkeiten erzeugenden Honoraren … Jegliche gesellschaftliche Entscheidung und Zielfindung muss dem Menschen und der Heilung dienen: sowohl in der Kultur als auch in einer umfassenden Medizin, die den Menschen nicht in Fachbereiche zerlegt. Dafür ist ein neues Paradigma, ein Heilungsparadigma, von Nöten.
Jeder Mensch hat ein Recht darauf, unter Heilungsperspektive behandelt zu werden – im Gesundheitswesen und in der Gesellschaft. Und Ärzte wie Psychologische Psychotherapeuten müssen das Recht haben, getreu ihrem Gewissen und im Sinne des Hippokratischen Eides (be-)handeln zu können. Sie müssen – ganz im Gegensatz zur gegenwärtigen Realität – von Politik und Wirtschaft dahingehend unterstützt und geschützt werden.
Die klassische Medizin hat keine neuen Ziele, keine neuen Inhalte, keine neuen Strukturen oder gar neue Ideen. Die klassische Medizin kann auch kein neues Paradigma entwickeln, wie der Mensch zu sehen, zu verstehen und zu behandeln ist, damit er gesund wird: Denn sie lebt bereits Jahrhunderte von diesem Cartesianischen Paradigma und hat darauf „ihre“ Medizin aufgebaut. Die klassische Medizin hatte immer „nur“ den Körper des Menschen. Wenn sie den aufgibt, hat sie nichts mehr.
Medizin war von Anbeginn an Ökonomie – die Metapher „Körper“ eine Schablone, mittels derer man Geld verdiente. Dies wurde von vielen Autoren in immer wieder neuen Variationen der Fokussierung aufgezeigt. Niemand fällt mehr auf diese Art von Medizin herein, wäre in Anlehnung an Attali zu sagen. Weder der Arzt noch der Kranke, noch der Staat oder die Wirtschaft: Der erste heilt nicht, der zweite wird nicht geheilt, und der dritte garantiert keineswegs das Wissen. Die Wirtschaft schweigt: Sie verdient, wächst und kauft nun die Medizin und Universitäten auf.
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