die Finnen jederzeit wieder in ihrer Hauptstadt sehen wollen.
Gerne hätte ich auf der obersten Stufe der großen Treppe auf dem Senatsplatz noch ein wenig über die Geschichte dieses erstaunlichen Volkes gegrübelt, doch der Regen wurde immer stärker. So blickte ich ein letztes Mal über die Dächer der Stadt, die so gar nichts Heldisches an sich hatte, sondern klein und überschaubar wirkte wie ein Freund, zu dem man auf Anhieb Vertrauen fasst. Langsam versank der große Platz im Regen, und die letzten Finnen, die den Arkaden des Engelsdomes gesessen und Trübsinn geblasen hatten, erhoben sich nach und nach - wahrscheinlich um nachhause zu gehen um zu sehen, was der Teppich macht.
ESTLAND
oder:
Was ist Osteuropa?
Die Umrisse Helsinkis entschwanden im Nebel, und das Fährschiff nahm Kurs auf hohe See. Dunkel und schwarz teilte sich das Wasser der Ostsee vor dem mächtigen Kiel, während im Schiff die Lampen angingen. Meine Reise in den Großen Osten hatte begonnen.
Überall lag Gepäck in den Gängen, Kinder plärrten, und gestresste Mütter und Väter versuchten so gut es ging, ihre Familien zusammenzuhalten. Vor der gerade erst geöffneten Bar drängten sich die finnischen Touristen, denn so preiswert wie auf einer estnischen Fähre konnte man sich in Finnland nirgendwo volllaufen lassen.
Bei einem Bier traf ich Stefan, einen deutschen Touristen aus Koblenz, einen blonden, groß gewachsenen Mann in späten Dreißigern, der auch das Baltikum bereisen wollte. Er besaß ein offenes Gesicht mit energischem Kinn, breite Schultern und kurz geschnittenes, glattes Haar, was ihm das Aussehen eines Soldaten auf Heimaturlaub gab. Was Stefan beruflich machte, war nicht zu erfahren, stattdessen plauderte er recht unverblümt über das Motiv seiner baltischen Reise. Stefan interessierte sich nicht für die Städte und Kirchen, nicht für Politik oder Geographie, sondern ihn interessierten die Frauen von Estland, Lettland und Litauen, die nach seinen Informationen zu den schönsten Europas zählten sollten. Daheim seien die Frauen zu schwierig, zu viel Zickenpotential, zu anspruchsvoll. Die baltische Frau dagegen, so Stefan, sei groß gewachsen, gut aussehend, belastbar und anschmiegsam, außerdem gebildet und dankbar. Das wisse er von seinem Onkel, der eine Baltin aus dem Katalog herausgesucht und schließlich geheiratet hatte.
Es war schon dunkel, als wir Estland erreichten. Alles war flach: die Ufer, das Meer, der Horizont, nur in der Mitte unterbrachen die Hochhaussilhouetten der Neustadt von Tallinn das eintönige Bild. Das war die schlechte Nachricht. Die gute Nachricht war, dass im Schatten dieser Hochhäuser die Altstadt lag, eine in ihrer Bausubstanz vollkommen erhaltene Bilderbuchsiedlung mit Wachtürmen, Wällen und holprigen Pflasterstraßen. Kein hässlicher Betonneubau beeinträchtigte den Anblick der alten Gildenhäuser, keine Auspuffgase verpesteten die Luft, wir betraten ein autofreies Miniatur-Prag im Baltikum. In der Altstadt von Tallinn war die Geschichte zur Erbauung der Touristen einfach angehalten worden, gerade so, als man hätte endlich alle Fremdherrscher aus der Stadt heraus geworfen und nur die Esten zurückgelassen, die nun als Kellner, Platzanweiser und Fremdenführern den westlichen Gästen zu Diensten stehen.
Ohne groß zu fragen, heftete sich Stefan an meine Fersen, als ich durch die Straßen der Altstadt lief. Ich suchte das "Vana Tom" eine in allen Travellerführern wärmstens empfohlene sogenannte "Low Budget Unterkunft" für Individualreisende. Das Hostel befand sich in der in unmittelbarer Nachbarschaft des Marktplatzes auf der ersten Etage eines unscheinbaren Hauses, in dessen zweiten Stock gerade ein Stripteaselokal eröffnet hatte.
Da nur noch ein Doppelzimmer frei war, teilten wir uns einen Raum mit zwei durchgelegenen Matratzen und einer einzigen Glühbirne an der Decke. Ich klopfte an die Wände und stellte fest, dass sie überwiegend aus Sperrholz bestanden. „Macht nichts“, sagte Stefan, „ich habe ausreichende Vorräte an Ohrstöpseln in meinem Gepäck.“
In der Gemeinschaftsküche, in der wir unser Abendbrot nahmen, trafen wir einen österreichischen Schauspieler, einen amerikanischen Studenten und zwei Finnen, mit denen ein munteres Geschnatter einsetzte. Verkehrssprache auf den internationalen Travellerpfaden war Englisch, auch wenn man davon oft nur sehr wenig verstand und sich manchmal nicht sicher war, ob der Gesprächspartner nicht vielleicht doch in seiner Muttersprache zu uns sprach. So war auch an diesem Abend nur sehr wenig zu verstehen, außer, dass es sich bei dem Gemeinschaftskühlschrank um das letzte Relikt des Kommunismus in Estland handelte - einem Gerät, in das die Guten und Fleißigen jeden Tag Eier, Butter, Käse Milch und Joghurt hineinlagerten, während die Bösen und Faulen diese Güter unbemerkt verzehrten.
Nach dem Abendessen verschwand Stefan in die Stadt. Ich las noch ein wenig in meinen Reiseführern und lernte, dass ich mich in einem regelrechten Zwergstaat befand, der auf der Landkarte immerhin die Größe der Schweiz oder der Niederlande erreicht, ansonsten aber nur 1,2 Millionen Einwohner zählt, von denen auch noch ein Drittel Russen sind. Wie ich weiter erfuhr, hatte die Geschichte den Esten ganz und gar nicht gut mitgespielt. Jahrhundert für Jahrhundert war das Land von Schweden und Russen derart malträtiert worden, dass die estnische Bevölkerung, die im Mittelalter genauso groß gewesen sein soll wie die finnische, immer weiter geschrumpft war, bis sie schließlich im 20. Jahrhundert nur noch ein Fünftel der finnischen Bevölkerung ausmachte. Angesichts der massenhaften Einwanderung der Russen nach Estland hätte wahrscheinlich nicht viel gefehlt, dass die Esten im Vielvölkerstaat der alten UdSSR einfach verschwunden wären. Eine der vielen Ethnien, die in der großen Suppe des Ostens verloren gingen und von denen heute keiner mehr spricht. Doch manchmal hält die Geschichte auch ein happy end bereit: kurz vor dem demografischen Verschwinden des estnischen Volkes brach die UdSSR zusammen, Estland wurde frei und rettete sich mit letzter Kraft in die NATO und 2004 sogar in die Europäische Union.
Inzwischen wurde der Lärm aus dem Stripteaselokal über dem Hostel immer lauter. Dumpfe Bässe wummerten durch die Wände, spitze Schreie waren zu hören, trotzdem fiel mir bald das Buch aus den Händen, und ich schlief ein.
Als ich am nächsten Morgen erwachte, lag Stefan schnarchend im Nachbarbett. Immerhin war er allein, hatte also bei den schönen Baltinnen noch keinen Stich landen können. Ich kochte mir einen Morgenkaffee in der Gemeinschaftsküche, duschte in der Gemeinschaftsdusche und begann meinen Rundgang durch die Stadt.
Es war noch früh am Morgen, doch der Marktplatz der Stadt war bereits von Buden zugestellt. Vor einer Apotheke aus dem Jahre 1422 unterhielt ein Schaukünstler die Passanten mit seinen Kapriolen, Eiscafés hatten geöffnet, und vor den Restaurants bedrängten Schlepper in die vorbeiflanierenden Touristen. Ich sah mich um und versuchte, eine bestimmte Atmosphäre zu erspüren. War das hier Osteuropa? Oder Skandinavien? Irgendwie sah alles so aus wie in Rothenburg ob der Tauber, nur die Männer kamen mir stämmiger vor, manche hatten Unterschenkel wie Kinderrümpfe, andere liefen im Unterhemd und mit der Bierflasche in der Hand breitbeinig über den Platz. An der Erscheinung der Frauen, die Stefan so gepriesen hatte, konnte ich keinen Unterschied zu denen aus Mitteleuropa feststellen, was vielleicht aber auch daran lag, dass die meisten, die ich an diesem Morgen sah, ohnehin Touristinnen waren.
Ich schlenderte ein wenig umher, wandte mich dann nach Norden und besuchte den Gottesdienst in der Dominikanerkirche von Tallinn. Vor der Reformationszeit hatten sich die Dominikaner in Estland um die Bildung der Landbevölkerung gekümmert, las ich in einem kleinen Faltblatt, das vor der Kirche auslag. Die Esten haben es den Dominikanern aber nicht gedankt, denn kaum hatte sich die Reformation in Estland durchgesetzt, wurde das Dominikanerkloster bis auf die Grundmauern zerstört. Die estnischen Frauen, die heute die wieder aufgebaute Kirche betraten, hatten sich Kopftücher über ihre Haare gelegt, sie sangen inbrünstig und hielten die Köpfe gesenkt, als der Priester den Segen sprach.
Am nördlichen Stadttor verweilte ich ein wenig bei der "Dicken Margarethe", dem berühmtesten Stadtturm der Befestigungsanlage von Tallinn. Vor ihr hatte im Jahre 1570 sechs Monate lang das Heer Iwans des Schrecklichen die Stadt belagert, ohne Tallinn wirklich einnehmen zu können. Dafür hatte dieser Zar etwa die Hälfte