Ludwig Witzani

Die kleine Posaune der Freiheit


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es ihr Leben.“

       „Hört sich etwas traditionell an“, wandte ich ein.

       „Nein, das hört sich wunderbar an“, widersprach Stefan. „Aber leider war das nur der Anfang. Denn bald kam sie dahinter, dass ich ein Langzeitstudent und keineswegs so vermögend war, wie sie angenommen hatte. Und auch ich erkannte, dass sie von jeder Art Examen noch meilenweit entfernt war. Sie war einfach aus Sofia abgehauen, hatte in Frankfurt bei entfernten bulgarischen Verwandten gelebt und sich gedacht, dass sie bei mir festen Boden unter den Füßen bekommen könnte.“

       „Das hätte doch klappen können. Warum seid ihr denn nicht beide arbeiten gegangen?“ fragte ich.

       „Ging nicht, ich versuchte mich gerade an einem zweiten Anlauf zum Jura-Examen, aus dem mit dieser Liebesgeschichte natürlich nichts mehr wurde. Und sie verfolgte immer deutlicher nur ein Ziel: ich sollte sie heiraten, damit sie die deutsche Staatsangehörigkeit erhalten würde, denn ihre Aufenthaltserlaubnis lief ab.“

       „Hast du sie denn geliebt?“

       „Ich glaube, ja.“

       „Und warum hast du sie nicht geheiratet?“ fragte ich.

       „Ich weiß auch nicht, Plötzlich traute ich ihr nicht mehr. Die Sache schien mir gar zu durchsichtig. Ich zögerte. Und dann war sie eines Tages weg.“

       „Wie das?“

       „Eines Tages kam ich nach Hause, und ihre Sachen waren weg. Über eine Freundin erfuhr ich später, dass sie nach Paris gefahren war, wohin sie ohnehin bald hatte reisen wollen. Dort hat sie innerhalb kürzester Zeit einen Franzosen geheiratet.“

       „Das ist bitter.“

       „Nein“, antwortete Stefan. „Nur lehrreich.“

       „Und warum versuchst Du es mit den baltischen Frauen nun noch einmal?“

       „Weil man aus Fehlern eben nicht lernt.“

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       Nach zweieinhalb Tagen hörte der Regen endlich auf. Noch immer hingen die Wolken wie eine feuchte Decke über der Küste, doch nun konnte man immerhin durch die Stadt spazieren und über den Strand laufen. Vom feuchten Wind der Ostsee umweht, besuchten wir das Estonia- Denkmal von Pärnu, ein groteskes Stahlgewirr, das zum Gedenken an den Tod von achthundert Esten bei dem Untergang der Fähre „Estonia“ im Jahre 1994 errichtet worden war. Ich erinnerte mich noch gut an das Aufsehen, dass dieses Unglück damals in der Presse des Westens verursacht hatte, begriff aber erst jetzt, welche Katastrophe der Tod von 800 Menschen für eine Ethnie bedeutete, die ohnehin nur noch 800.000 Menschen zählte. Umgerechnet auf die Bevölkerung Deutschlands hätte ein proportional vergleichbares Desaster die unfassbare Zahl von 80.000 Opfern fordern müssen.

       Gleich neben dem Estonia Denkmal befand sich am Rande eines Wohnkomplexes in Strandnähe ein Stahlgebilde von etwa dreißig Metern Höhe. Etwa auf halber Höhe erkannten wir beim Näherkommen zwei Kinder, die scheinbar sorglos und ungezwungen in riskanter Höhe an den Eisenstangen herumkletterten. Ihre Mutter, eine rothaarige junge Frau, mit Pelzjacke und weißen Stiefeln bekleidet, saß auf einer Bank neben dem Stahlgerüst und rauchte.

       Erst dachte ich, dass sie zu ängstlich sei, die Kinder herunterzuholen und erbot mich, das für sie zu erledigen. Doch sie winkte ab. „Die kommen schon zurecht“, sagte sie in tadellosem Deutsch. „Aber woher kommen Sie?“

       So begann ein Gespräch, bei dem ich nervös die tollkühnen Kinder im Auge behielt und erleichtert feststellte, dass sie langsam herunter kamen, während sich ihre Mutter eine Zigarette nach der anderen anzündete.

       Ihr Name war Anna, sie hatte Germanistik studiert und weilte nun schon seit einem Monat zur Sommerfrische in Pärnu. Wie sie offenherzig bekannte, hing ihr die Betreuung der Kinder inzwischen zum Hals heraus und sie hätte nichts dagegen gehabt, wenn die kleinen Biester abgestürzt wären.

       Als sie unsere betroffenen Mienen sah, lachte sie laut auf. „Mein Gott, das war doch nur ein Scherz.“ Dann veränderte sich urplötzlich ihr Gesichtsausdruck, und sie blickte mir tief in die Augen, am Herzen vorbei direkt ins Eingemachte. Ich spürte es ganz deutlich, mir lief es kalt den Rücken herunter, während ich mich fragte: Ist das Osteuropa?

       Da hatten wir endlich eine schöne baltische Frau, aber ganz anders als erwartet. Von dankbarer Unterwürfigkeit war hier nichts zu erkennen, stattdessen hatte ich das Gefühl, als wäre es das Selbstverständlichste von der Welt, wenn ich als dekadenter Westling auf der Stelle meine Brieftasche und meine Scheckkarte auspacken und dieser Frau zu Füßen legen würde. Ihre Wangen waren edel geschwungen, hinter ihren üppigen Lippen sah ich den Schmelz traumhaft weißer Zähne, und ihre Augen waren so groß und dunkel, dass ich auf der Stelle in ihnen zu versinken drohte. Mir war, als würde ein Netz ausgeworfen, und als würde ich im nächsten Augenblick die Kontrolle verlieren.

       Gerade wollte ich nach ihrer Adresse fragen, als mich Stefan rüde von der Seite anstieß. „Los, komm, wir müssen weiter, gleich fängt es wieder an zu regnen.“

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       LETTLAND

       oder:

       Die Russen

       sind an allem Schuld

       Manche Grenzen gleichen Inszenierungen des Übergangs. An der Grenzstation von Belize und Guatemala wird der Reisende von knapp zwei Meter großen schwarzen Zollbeamten verabschiedet und von kleinen, rundlichen Indiobeamten in Empfang genommen, die kaum größer als mehr als ein Meter sechzig sind. Am Amur kontrollieren große blonde Russen die Pässe der agilen und kleingewachsenen Chinesen beim Grenzübertritt zwischen Russland und China.

       An der estnisch-lettischen Grenze zeigten lediglich zwei Flaggen und ein Zollhäuschen, dass der Bus eine internationale Grenze überfuhr. Estland und Lettland gleichen sich wie ein Ei dem anderen, sagen die Russen, und jeder Blick aus dem Busfenster zeigte, dass diese Aussage nicht übertrieben war. Es war der gleiche Menschenschlag, das gleiche Meeresufer, es waren die gleichen Städtebilder und alles in allem auch die gleichen Physiognomien, die es an den Haltestellen in Estland und Lettland zu betrachten gibt. Die 800.000 Esten und zwei Millionen Letten diesseits und jenseits der Grenzen verbindet nicht nur die gleiche Herkunft aus dem Innern Asiens, eine ähnliche Sprache, Geschichte und Küche, sondern auch die gleiche enthusiastische Liebe zu ihrer baltischen Heimat.

       Natürlich war auch das Wetter in Estland und Lettland identisch. So setzte sich der Regen, der uns in Pärnu die Nerven strapaziert hatte, auch während unserer Reise nach Lettland fort. Grau und nass erstreckte sich die Küstenstraße den Golf von Riga entlang nach Süden, immer neue Regenschauer rauschten von der Ostsee über das Land, und als wir die Peripherie von Riga erreichten, verschwanden die endlosen Plattenbauten in einem geradezu amphibischen Dunst. Auf dem Busbahnhof eilten die Menschen mit Regenjacken und Rucksäcken durch die Hallen, nasse Hunde liefen bellend über den Vorplatz. Überall saßen Frauen mit Kopftüchern, Wollwesten und Plastiktüten in den Wartehallen.

       Doch so schlecht das Wetter in Riga auch war, an Gästen schien es der Stadt nicht zu mangeln, denn alle preisgünstigen Unterkünfte, die wir ansteuerten, waren voll. Schließlich führte uns der Zufall in die Bahnhofsgegend zum "Aurora", einem Etagenhotel mit düsterem Treppenhaus, langen Fluren und einem Empfangschef, der uns mit kaum verhohlener Skepsis musterte. Ich konnte es ihm nicht verdenken, denn wir sahen nach der langen Tagesreise stark mitgenommen aus, und die nassen Hosen und Hemden, die uns am Körper klebten, machten unsere Erscheinung nicht einladender. Außerdem waren wir doch Westler. Was also machten wir in dieser Absteige für fliegende Händler, Liebespaare und Halunken? Ich wusste es auch nicht, war aber trotzdem dankbar, als er uns nach einigem Zögern endlich den Schlüssel zu dem letzten freien Zimmer gab.