Norbert Johannes Prenner

Der Besucher


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die aus dem ersten Stock durch den Stuck der Decke strömte, begann Norman Moll mit Angst zu erfüllen. Er trank rasch einen Schluck Kognak, den er bisher noch nicht angerührt hatte und ertappte sich dabei, plötzlich selber an Sauerstoffmangel zu leiden, ja, beinahe das Atmen zu vergessen - begann plötzlich die Panik drohenden Erstickens am eigenen Leib zu erfahren, vielleicht aus Solidarität mit Rabitschs bedau-ernswerter Gattin? Es verengten sich ihm bereits die glatten Muskeln seiner vom Tabak gereizten Bronchien, deren innere Schichten zu schwellen begannen – zähen Schleim absondernd - die Atemwege schienen enger und enger zu werden, Moll musste sich anstrengen . Ein- und Ausatmen gerieten zur Qual - er stützte seine Arme in die Hüften, um leichter Luft zu bekommen. „Ist Ihnen etwa nicht gut?“, fragte der Graf besorgt, der Moll beobachtet hatte. „Wie? Äh – nein, nein! Es ist nichts.“ Da endlich tat der Kognak seine ersehnte, muskel-entspannende Wirkung.

      Moll war es auf einmal wieder möglich, frei durchzuatmen. Sicherheitshalber nahm er noch einen größeren Schluck, schließlich konnte man nicht wissen... Noch immer war Rabitschs Stimme von oben zu hören, wie er offensichtlich auf seine Frau einredete, vielleicht etwas gedämpfter also zuvor. Doch immerhin schienen die Intervalle der Hustenanfälle jetzt langsam länger zu werden. Indessen hatte auch Traunstein ein Glas Rotwein bei Fräulein Trixi bestellt, die, beinahe zu Tode erschrocken über den ungewohnten Vorfall bei den Rabitschs das elegante Glas mit zittrigen Händen am Tisch abstellte und heiser ein „Sehr zum Wohl!“ lispelte, worauf sie bleich und grußlos wieder verschwand. Moll griff gedankenverloren zur Pfeife, zündete den Tabak an, um sofort heftig am Mundstück zu ziehen. Dicker Qualm stieg auf. Der Graf sah Moll aufmunternd an. „Hm!“, machte er, „hervorragende Raumnote! Vorhin dachte ich, Sie würden mir jeden Moment.... na, es geht Ihnen wieder gut, wie ich sehe, und rieche!“, lachte er. Moll mochte seine Stimme gut leiden. Eigentlich sympathisch, dachte er, kein Vergleich mit Rabitsch, dem Ekel. Fräulein Trixi war erneut in den Salon gekommen, um die weißen Teelichter in den kompottschalenartigen, nach oben geschlossenen Glasgefäßen an den Tischen anzuzünden. Als sie sich der Kerze an Molls und des Grafen Tisch näherte, und sich weit über die Mitte des Tisches beugte, um diese mittels Streichhölzer höchst umständlich zu entzünden, bot sich den beiden Herren, völlig unerwartet, ein deliziöser Ausblick in eine sanft geschwungene, fahle Bucht, welche der Ausschnitt ihrer Bluse großzügig freigegeben hatte. Moll nahm den Grafen unauffällig ins Visier, der beinahe Stielaugen bekam, und eben dabei war, eine offensichtlich ganz ausgeklügelte Strategie zu entwickeln, die es ihm gestatten sollte, dem ihm mittlerweile ach so selten vergönnten Schauspiel so nah wie möglich beiwohnen zu können und einen, für die kurze Dauer des Ereignisses durchlauchten Blick zu positionieren, indem er sich in seinem Fauteuil blitzschnell so gerade aufsetzte, wie es ihm seine ramponierte Wirbelsäule, wohl nur in ganz seltenen Fällen sicherlich, für einen sehr begrenzten Zeitraum gestattete, ohne sofort gleich Opfer eines irreparablen Bandscheibenvorfalles zu werden, jedoch immerhin in der Hoffnung, mit dem, wenn auch noch so geringen Erfolg belohnt zu werden, noch ein einziges Mal ungestraft die verbotenen Früchte des Paradieses zu schauen.

      Fräulein Trixi bemerkte in ihrer infantilen Naivität von all dem nichts, lächelte die beiden Herren unschuldig an und entfernte sich nach getaner Arbeit wieder. „Charmant!“, flüsterte der Graf kaum hörbar, „charmant!“ Er sah zu Moll hin, der kaum merkbar die Mundwinkel zu einem Lächeln verzog und fragte: „Lieber Moll, so versunken? Woran denken Sie? Hören Sie noch was von da oben?“ Moll schüttelte den Kopf. „Das Schlimmste dürfte vorbei sein, hoffentlich“. „Möge Gott, dass Sie Recht haben“, sagte Traunstein, und fuhr fort, „ach, unser Gespräch betreffend – ich wollte dazu noch etwas anmerken. Wir haben es uns also zum Ziel gemacht, dem toten Recht“, er stockte, „übrigens nicht nachvollziehbar, jetzt, wo wir in einem vereinten Europa – Sie verstehen? Was also anderswo gestattet ist, und gerade hierzulande – na ja“. An dieser Stelle machte er eine kleine Pause, nahm sein Glas und trank bedächtig etwas vom rubinfarbenen Rotwein, um es vorsichtig wieder auf den Tisch zu stellen, ganz langsam, so, als ob es nie dort ankommen sollte, wobei das Aufsetzen des Glases nicht das geringste Geräusch verursachte. „Sehn Sie?“, sagte er dann, „ganz ruhig da oben. Nun gut! Andererseits aber verdrießt es, dass es genau in diesem Lande mit dem Rest der Kultur nicht so besonders bestellt ist. Wenn ich dabei an die jüngsten Aufführungen in manchen Theatern denke, grauenhaft so etwas! Für so einen Mist gibt man Geld aus! Und dafür muss man sich auch nicht schämen! Und wenn Sie genauer hinsehen, dann sehen Sie lauter Schweinereien, direkt ekelhaft! Schauderhaft das, nicht wahr? Und ich bin Abonnent! Verstehen Sie, was ich meine?“

      Der Graf musste husten. „Wissen Sie, Herr Moll, ich hab‘ ja diesen Kerl da nie gemocht, der sich hier für die Serben stark gemacht hat. Ich mein‘, man kann ja in niemanden hineinschauen, nicht wahr, aber fragen wird man ja wohl noch dürfen? Was geht in diesem Menschen vor? Und die Serben sind uns weiß Gott nicht bloß einmal in den Rücken gefallen!“ War das eine ernst gemeinte Frage, dachte Moll, und was sollte er antworten? Er hatte sich mit dieser Sache nie beschäftigt, irgendwo vielleicht diese Rede überflogen, und als Normalverbraucher nichts sonderlich Auffälliges daran finden können, außer Langeweile. Die Zeitspanne, in der er antworten sollte, wurde immer länger. Hatte es überhaupt noch Sinn, zu antworten? Wartete Traunstein tatsächlich darauf, dass er dazu Stellung nehmen sollte? Aber da waren auch die Gedanken an Sybilla Trinks, mit ihrer Art, und ihrem Wahnsinns-körper, dazu bestimmt, nicht aus seinem Kopf verbannt werden zu können. Er fühlte, er sollte jetzt wirklich aufstehen und endlich auf sein Zimmer gehen, für den Anfang sollte es genug sein, an Gesellschaftlichem, und dann sagte er endlich „Aber jetzt wollen Sie womöglich ein Gesetz durchboxen, dass Ihnen erlaubt...“. Traunstein unterbrach ihn: „Schauen Sie, es ist ein Gesetz, das ja doch nie exekutiert wurde, und schließlich sind wir kein Gesangsverein, sondern gewissermaßen – äh, wie Sie schon vorhin angedeutet haben, tatsächlich eine soziale Gruppe. Ja! Es ist ein Privileg, und das ver-pflichtet zur Verantwortung, zu Führungsaufgaben, verstehen Sie?“ „Ja, wollen Sie jetzt Landeshauptmann werden?“, scherzte Moll, aber Traunstein winkte ab und lachte herzlich.

      „Sie wissen doch, man hat uns doch damals verboten, in der Republik politische und gesell-schaftliche Verantwortung zu übernehmen. Das ist außerordentlich diskriminierend, nicht wahr? Aber in Wirklichkeit sind wir am Zeitgeschehen beteiligt, wie sie und jeder andere auch, und das ist doch der springende Punkt, nicht wahr!“ Moll wurde nachdenklich. „Dann sind Sie also Monarchist?“, fragte er den Grafen. „Also – jedes politische System hat seine Vor- und Nachteile. Schauen Sie sich nur die letzten Jahre demokratischen Fuhrwerkens genauer an – eine Verantwortungslosigkeit sondergleichen! Daher könnte ich mir durchaus eine moderate Kontinuität an der Spitze des Staates vorstellen, die sich nicht nach halber Arbeit einer Legislatur klammheimlich aus der Verantwortung stiehlt, nicht wahr? – und sich gemütlich in ihr wohlfinanziertes Privatleben zurückzieht“, erwiderte der Graf. Moll presste nachdenklich seine Lippen aufeinander. Das hätte er vor Vertretern der wahren Demokratie wohl nicht ungestraft sagen können – die hätten ihm schon ihre Meinung gesagt, und ihn über seine wahre Stellung in der Historie unterwiesen, aber er, Moll? Privatier von Gnaden, was hätte er schon Gewichtiges zu entgegnen? Nichts, wenn er es sich genau überlegte, nichts von Belang. Dann aber, beinahe schon im Begriff zu gehen, fragte er neugierig: „Und? Wer hat in dieser Sache Mitspracherecht?“ Der Graf überlegte etwas, und meinte schließlich: „Nun, nicht ein jeder, nicht wahr? Da bleiben wir ganz unter uns! Ein Unter-schied wird’s wohl noch sein dürfen? Wenn’s keinen Unterschied gäbe, bräuchten wir uns ja dafür nicht einzusetzen, oder?“, lachte er. Moll schüttelte den Kopf.

      Da sprang die Tür auf. Rabitsch war wieder da, fröhlich, und unbekümmert, so, als ob nichts geschehen wäre. „Meine Herren!“, trat er selbstbewusst auf und blickte, die Brauen hochgezogen, auf die beiden von oben herab. „Und?“, fragte Traun-stein, „wie geht’s ihrer Gattin? Besser?“ „Ja ja! Überhaupt kein Grund zur Besorgnis. Wir kennen das ja schon lange, nicht? Damit muss man eben umgehen können. Ein kleiner Anfall eben, wie schon so oft. Kalt wäre ihr, hat sie gemeint, lächerlich! Ich bitte Sie, wir haben Mai! Ich habe den Heizkörper abgedreht. Man kann ja in der Nacht überhaupt nicht schlafen, wenn es so warm ist im Zimmer. Außerdem gibt es jede Menge Decken. Und schließlich können wir auf diese Weise so auch etwas zum Energiesparprogramm beitragen, finden sie nicht, meine Herren?“ Er lachte lauthals über seine eigenen Worte.