auf ihn zulaufen.
„Papa, Papa, da liegt ein Mann!“
Christophe nahm seine Tochter in den Arm und beruhigte sie.
„Wo liegt ein Mann, Kleines?“
Pierrette zeigte mit der Hand den Weg hinunter. Pascale war inzwischen bei den beiden eingetroffen. Sie nahm ihre Tochter an die Hand und blieb stehen. Christophe ging langsam den Weg weiter hinunter und achtete sehr genau auf alles was sich links und rechts befand. Er war etwa 200 Meter weitergegangen, als er zwei Schuhsohlen sah, die steil nach oben zeigten. Christophe trat näher heran und konnte jetzt auch eine graue Hose erkennen. Das Sakko des Mannes der hier vor ihm lag war geöffnet und das blaue Hemd darunter blutverschmiert. Die früher einmal blaue Krawatte war blutverschmiert und schmutzig und hing quer über seine rechte Schulter. Die Augen waren weit aufgerissen und in seiner Schläfe klaffte ein Loch.
Es gab keinen Zweifel, hier lag ein Mordopfer. Christophe hörte, wie Pascale und Pierrette näherkamen. Er wandte sich um und rief Pascale zu:
„Bleib mit Pierrette stehen, kommt bitte nicht näher.“
Dann griff er zu seinem Handy und wählte die Notrufnummer.
Kapitel 3
Ewen Kerber genoss den Nachmittag in seinem Garten. Carla lag auf ihrer Liege und sonnte sich genussvoll.
In den letzten drei Wochen war das Wetter regnerisch und kalt gewesen. Das Frühjahr zeigte sich nicht unbedingt von seiner schönsten Seite. Im Januar und Februar waren fast täglich gewaltige Stürme über die Bretagne hereingebrochen. Windgeschwindigkeiten zwischen 100 und 180 Km/Std hatten das Meer aufgepeitscht und gewaltige Wellen waren mit zerstörerischer Wucht gegen die Küste gestürzt. Täglich wurde in den Nachrichten von neuen Schäden berichtet und die Bevölkerung war aufgerufen worden die Küste zu meiden. Drei Menschen hatten ihre Neugierde bereits mit dem Leben bezahlt. Sie waren an den Stränden unterwegs gewesen und von den gewaltigen Wellen erwischt und hinaus aufs Meer gezogen worden. Manche Wellen waren weit über zehn Meter hoch und hatten teilweise die Befestigungen entlang der Küste zerstört. Da war es kein Wunder, dass die Menschen sich nach Sonne und Wärme sehnten und die ersten Boten genossen.
Ewen las ein Buch über die Geschichte der bretonischen Sprache, das er vor einiger Zeit zufällig gefunden hatte, Carla genoss einen Kriminalroman. Einen kleinen Sommervorrat hatte sie bereits vor einigen Tagen gekauft. Die friedliche Stille in ihrem Garten, die von dem Gezwitscher der Vögel begleitet wurde, war ein Genuss. Es ist ein Stück vom Glück dachte sie sich, als sie von ihrer Lektüre aufsah und in den strahlend blauen Himmel blickte.
„Wir haben es sehr schön hier, Ewen! Meinst du nicht auch?“
Ewen sah von seinem Buch auf und nickte zustimmend, als er Carla ansah.
„Die Bretagne kann sehr schön sein, nur mag sie sich nicht immer so zeigen.“
„Ach, Ewen, was wäre die Bretagne ohne die Stürme und ohne den Regen? Zu der Wildheit gehört eben auch das rasch wechselnde Wetter. Ich liebe es so.“
Das Klingeln des Telefons brach fast wie ein Gewitterdonner in diese harmonische Situation ein. Ewen nahm sein Mobiltelefon, das neben seinem Stuhl auf dem kleinen runden Gartentisch lag. Er sah auf dem Display, dass das Kommissariat anrief.
Er nahm den Anruf entgegen. Ausgerechnet an diesem Wochenende hatte er Rufbereitschaft.
„Kerber“, meldete er sich und lauschte, was der Anrufer ihm zu sagen hatte.
„Bonjour, Monsieur le Commissaire, wir haben soeben die Information von der Notrufzentrale erhalten, dass ein Passant einen Toten im Park vom Schloss Trévarez gefunden hat. Es ist eindeutig ein Verbrechen. Der Tote hat eine Schusswunde in der Schläfe.“
„Haben Sie schon die Spurensicherung und den Pathologen verständigt?“
„Beide sind bereits unterwegs nach Trévarez, Monsieur le Commissaire.“
„Gut, ich mache mich auch sofort auf den Weg.“
Ewen Kerber legte das Telefon zur Seite und sah zu Carla hinüber.
„Du brauchst nichts zu sagen, Ewen, die Pflicht ruft schon wieder?“
„So ist es, ich habe leider Dienst an diesem Wochenende. Es passiert ja nicht oft etwas rund um Quimper. Aber wenn das Wetter einmal so schön ist, dann treibt es anscheinend auch die Verbrecher raus. Im Park von Trévarez hat man eine Leiche gefunden. Ich versuche, nicht allzu lange wegzubleiben.“
Ewen erhob sich aus seinem Stuhl und ging zu Carla, gab ihr einen flüchtigen Abschiedskuss und machte sich auf den Weg nach Trévarez.
Die Fahrt zum Schloss von Trévarez, das in der Nähe der kleinen Ortschaft Saint-Goazec lag, dauerte fast 40 Minuten. An der Pforte zum Schlosspark zeigte Ewen seinen Ausweis und bat, mit seinem Fahrzeug zur Fundstelle der Leiche fahren zu können.
„Selbstverständlich, Monsieur le Commissaire.“
Der Mann zeigte ihm den Weg zum hinteren Eingang des Parks.
„Wir haben bereits für ihre Kollegen den Zugang geöffnet. Die Fundstelle der Leiche liegt unmittelbar hinter dem rückwärtigen Eingang.“
Ewen wendete seinen Wagen und fuhr um das große Areal des Parks herum zum hinteren Eingang. Er hatte das große eiserne Tor gerade durchfahren, als er auch schon die Fahrzeuge der Spurensicherung und des Pathologen sah. Er sah seinen Freund Dustin Goarant bei der Arbeit mit den Kollegen. Es war Dustin wohl genauso ergangen wie ihm. Auch er durfte bei diesem wunderschönen Wetter Dienst tun. Ewen stieg aus und ging auf die Absperrung zu. Sein Blick fiel auf das majestätisch wirkende Schloss auf dem Hügel.
Jetzt entdeckte er auch Yannick Detru, ihren Pathologen, der sich, aus dem Unterholz kommend, einen Weg an den Rhododendrenbüschen vorbeibahnte.
„Hallo Ewen, ich habe mir den Toten bereits angesehen. Der Mann ist erschossen worden, vermutlich aus nächster Nähe. Ein Schuss ist in den Brustkorb eingedrungen, ein anderer direkt in die Schläfe. Ich meine, dass der Mord hier passiert ist.“
„Wie lange ist er schon tot?“
„Ich schätze, dass er so gegen Mitternacht erschossen worden ist. Genauer kann ich es dir erst sagen, wenn ich ihn auf dem Tisch habe.“
„Vielen Dank, Yannick, ich sehe mir die Leiche auch noch an.“ Yannick Detru machte sich auf den Weg zurück nach Quimper.
Ewen Kerber ging unter der Absperrung hindurch und trat an den großen purpurfarbenen Rhododendronstrauch heran. Dort lag die Leiche, ein Mann mittleren Alters, vielleicht Mitte 40. Seinem Anzug und der Krawatte entnahm Ewen, dass es sich wohl um einen Geschäftsmann handelte. Sein volles und dunkles Haar war erst kürzlich geschnitten worden.
„Hallo Dustin, hast du schon etwas gefunden?“
„Etwas? Das ist gut, hier wimmelt es nur so von weggeworfenen Zigarettenstummeln, Blechdosen und Taschentüchern, schnell entsorgt, anstatt sie die wenigen Meter bis zum nächsten Abfallkorb zu tragen. Ausweispapiere haben wir bei dem Toten keine gefunden. Seine Geldbörse fehlt, wie auch sein Handy und sein Schlüsselbund.“
„Raubmord?“ Ewen sah seinen Kollegen fragend an.
„Könnte sein, aber das herauszufinden wird deine Aufgabe sein.“
„Nun ja, dann fange ich am besten gleich an.“
„Seine Fingerabdrücke nehmen wir in der Pathologie, ich habe mit Yannick bereits gesprochen. Vielleicht helfen sie uns bei der Identifizierung.“
„Danke, Dustin.“
Ewen ging näher an den Toten heran. Er sah die kleine Schleifspur im Gras, von der Dustin gerade Fotos nahm. Der Mann musste direkt am Weg erschossen worden sein, war in den Rhododendronbusch gefallen und dann wohl noch zwei Meter weiter nach hinten gezogen worden, damit der Leichnam nicht sofort entdeckt