Ed Belser

Die Frauen von Schloss Blackhill


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      Prolog

      General Wade verneigte sich vor dem König. „Eure Majestät haben mich rufen lassen. Ich stehe zu Euren Diensten.“

      König George I. wies auf einen Stuhl. „Nehmt Platz, General. Ich habe einen neuen Auftrag für Euch. Doch setzen wir uns zuerst über die Ausgangslage ins Bild.“ Der König hatte einen starken deutschen Akzent.

      Der Sekretär tunkte seine Feder in die Tinte und wartete aufmerksam.

      Als die vierte Person im Raum auf das Zeichen des Königs die Stimme erhob, erkannte Wade den Premierminister: „Die Jakobiten haben vor einigen Jahren versucht, unseren König zu stürzen. Sie werden es wieder versuchen. Das müssen wir verhindern.“

      „Wir müssen auch damit rechnen, dass sie sich einmal mehr mit den Franzosen verbünden“, warnte der König.

      Der Premierminister sah ihn kurz an und wandte sich wieder an Wade: „Wir haben den Süden Schottlands einigermaßen im Griff. Aber der unwegsame Norden und die westlichen Inseln sind ein Problem. Wir kommen da fast nicht hin.“

      Die Feder des Sekretärs kratzte.

      „Die großen Clans sind eine Gefahr für uns“, fuhr der Premierminister fort, „sie haben nach wie vor eigene Armeen. Es ist uns nicht gelungen, sie zu entwaffnen. Seine Majestät will, dass wir Garnisonen errichten und die Highlands mit Straßen und Brücken erschließen. Das wäre Ihr Auftrag, General Wade. Außerdem müssen Sie die Entwaffnung durchsetzen.“

      Der König erhob sich. „Wir nennen das Friedenssicherung. General, ich ernenne Euch hiermit zum Oberkommandierenden der Armee für Nordbritannien. Viel Glück!“

Kapitel I: Lucas Creamore

      1

      Lucas war sechs Jahre alt, als er sein erstes Messer in der Hand hielt. Es hatte einen kurzen Horngriff mit einem Riss und eine schmale Klinge. Er reinigte es im Wasser und schliff mit einem Stein den Rost ab.

      Er hatte es gefunden, als er am Bach spielte, an seinem Lieblingsplatz. Ein Stück weiter draußen, dort wo das Wasser schneller floss, ließen sich manchmal Perlmuscheln finden. Als er nach ihnen gestöbert hatte, war plötzlich der Knauf zum Vorschein gekommen. Der Fund des Messers hatte ihn glücklicher gemacht, als wenn er ein paar Muscheln entdeckt hätte.

      An der Rückseite des Hauses fand er ein Versteck für das Messer. Gregor hätte ihm den Besitz nicht erlaubt. Er hätte gesagt: „Du sollst nicht töten, also brauchst du kein Messer.“ Immer, wenn Lukas das Haus verließ, holte er es hervor. Es gehörte ihm, und es gehörte zu ihm.

      Gregor war der Dorfpfarrer, katholisch, wie alle hier.

      Lucas war meistens mit sich allein beschäftigt, seit seine Mutter gestorben war. Die kirchlichen Obliegenheiten nahmen Gregor völlig in Anspruch, und wenn er sich Lucas widmete, dann um ihm Lesen und Schreiben beizubringen und ihn zum Gebet anzuhalten. Es kam selten vor, dass Lucas ihn begleiten durfte. Vielleicht gerade mal zum Hafen, wenn ein Schiff einen Toten zurückbrachte.

      Kaum waren sie am Meer, wies Gregor mit der Hand in die Ferne und erklärte: „Dort drüben liegt Frankreich. Dort lebt unser rechtmäßiger König. Wir wollen für ihn beten, dass er den Weg zurück nach Schottland findet.“

      Doch Lucas interessierte sich mehr für die Körper der Toten, und wenn er sich nicht beobachtet fühlte, berührte er sie mit spitzem Finger.

      Meistens war Lucas allein, und er war nicht einmal unglücklich darüber. Wenn er sich sehr einsam fühlte, dachte er an seine Mutter und an ihre warmen, fast schwarzen Augen. Dann kamen ihm meistens die Tränen, die seine eigenen Augen noch dunkler erscheinen ließen. Seine Mutter hatte ihn stets nur Crea Amore gerufen, und für ihn war das sein wirklicher Name. Doch Gregor nannte ihn Lucas.

      Lucas hatte sich sein eigenes Reich aufgebaut. Der Bach, an dem er das Messer gefunden hatte, führte in einiger Entfernung vom Pfarrhaus hinunter zum Fluss und dann zum Meer, doch Lucas’ Welt lag oben im Tal, wo sich der Bach durch Eiben und Birken wand und in ein Waldgebiet führte. Wenn er dort ankam, waren seine Füße weißsauber, denn dort war das Wasser klar; weiter unten, in der moorigen Ebene, färbte der Torf die Bäche und seine Füße braun. Oben, über allem, in einer kleinen Lichtung, hatte sich Lucas in einem gespaltenen hohlen Baumstamm mit einigen kleinen Holzstücken ein Gestell gezimmert.

      Nach dem Tod seiner Mutter war eine andere Köchin in den Haushalt gekommen, und sie war es gewesen, die ihm jenen Anstoß gegeben hatte, ohne es zu ahnen. Es waren die Reste eines gebratenen Huhnes gewesen, die sie ihm mitgegeben hatte. Lucas hatte sie unterwegs verzehrt, die Knochen sorgfältig abgenagt und achtlos weggeworfen. Später kam er an der gleichen Stelle wieder vorbei und fand einige der Knochen sauber und weiß wieder, andere waren von Käfern und Maden besiedelt. Er hockte sich hin und beobachtete die Tierchen bei ihrem Werk. Lange hatte er die Knochen von allen Seiten betrachtet und befühlt, wunderte sich über die vielfältigen Formen und fragte sich nach ihrem Sinn und ihrer Funktion. Doch die fehlenden Teile gaben ihm keinen Aufschluss darüber.

      Das führte dazu, dass er sich eine kleine Schaufel besorgte, im Wald eine Grube anlegte und die Käfer und Maden mitsamt den Knochenstücken hineinwarf. Als Nächstes fand er eine tote Maus. Auch sie legte er in die Grube und deckte diese mit Ästen zu. Von Zeit zu Zeit schaute er nach ihr, und als er nur noch das saubere Skelett vorfand, bewahrte er das erste Stück seiner Sammlung sorgfältig auf.

      Wochen später — Lukas hatte inzwischen das Gestell gezimmert — stand er davor und betrachtete seine Schätze. Zuoberst lag das Skelett der Maus, daneben das von zwei Vögeln, darunter das von einem Hasen und zuunterst dasjenige eines Dachses. Für heute hatte er sich vorgenommen, die Armknochen der Tiere zu untersuchen und zu vergleichen. Als er die Knochen für die gleiche Funktion erkannte hatte, tastete er seine eigenen Glieder ab und staunte über die vielen Gemeinsamkeiten. Doch er konnte nicht sehen, was die einzelnen Knochen zusammenhielt und ihnen ihre Spannkraft gab. Mit den Fingern ertastete er seine Muskeln und Sehnen und folgte ihnen bis zu ihrer Befestigung an den Knochen.

      Die Köchin vermisste inzwischen das eine oder andere kleine Messer. Lucas hatte eines davon zum Dorfschmied gebracht und ihn gebeten, die Klinge zu verkürzen und zu schärfen. Es diente ihm bei seinen weiteren Untersuchungen, die er am toten Körper einer Krähe vornahm. Ihre Eingeweide hatte er entfernt und einzelne Muskeln sorgfältig freigelegt. Nach und nach eröffnete sich ihm das Zusammenwirken von Knochen, Muskeln und Sehnen. Schritt um Schritt und Schnitt um Schnitt wagte er sich an größere Tiere. Mit der Zeit konnte er auch die Innereien auseinanderhalten. Herzen, Lebern, Mägen, Gedärm, Nieren und Blasen konnte er inzwischen erkennen, doch ihr Zusammenspiel blieb ihm noch vorenthalten. Als er selbst größer wurde, erstreckte sich sein Interesse mehr und mehr auf größere Tiere. Der Dorffleischer wohnte nicht weit vom Pfarrhaus entfernt, und Lucas fiel bald auf, dass Schafe und Kühe dort hineingetrieben wurden, aber nicht mehr herauskamen. Und als er heimlich durch das Fenster beobachtete, wie der Metzger einem Schaf die Kehle durchschnitt und das Blut pulsierend herausströmte, glaubte er, auch das Leben begriffen zu haben.

      Abends im Bett drückte er sich die Schlagadern am Handgelenk zu, bis es schmerzte, und genoss die Erleichterung, wenn er wieder losließ. Nun hatte er eine Vorstellung vom Gerüst, vom Skelett der Lebewesen, von ihren Muskeln und Sehnen, spürte ihren Blutkreislauf. Als er dem Fleischer zusehen konnte, wie er das Schaf öffnete und die Eingeweide herausquollen, war für ihn auch klar, wo das Essen hinging und wo es den Körper wieder verließ.

      „Ich wünsche mir ein Pferd“, hatte Lucas zu Gregor gesagt.

      Dieser meinte nur: „Wozu brauchst du ein Pferd? Der Schöpfer hat dir Füße gegeben.“

      Mit der Zeit verbrachte Lukas die meisten Stunden, in denen Gregor mit den Kirchendiensten beschäftigt war, beim Fleischer. Gregor durfte es nicht wissen und dem Fleischer war es recht, denn so hatte er eine Hilfskraft, die ihn nichts kostete.