Maik Bohn

Bevor er tötet


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      Mackenzie suchte nach Beweisen dafür, dass es sich nicht um ein Sexualdelikt handelte. Sie sah keine Kratzspuren oder blaue Flecken an ihren Brüsten oder am Hintern, auch fand sie kein Blut an ihrem Schambereich. Dann schaute sie die Hände und Füße der Frau an und fragte sich, ob es sich vielleicht um einen religiösen Mord handeln könnte, doch weder an den Handflächen, Fußknöcheln noch an den Füßen konnte sie Anzeichen einer Kreuzigung feststellen.

      In dem kurzen Bericht, den sie und Porter erhalten hatten, stand, dass die Kleider des Opfers noch nicht gefunden wurden. Mackenzie hielt es für Wahrscheinlich, dass sie der Mörder entweder noch bei sich oder schon entsorgt hatte. Das deutete darauf hin, dass er entweder sehr vorsichtig oder fast schon grenzwertig besessen war. Wenn man hierzu noch die Tatsache hinzuzählte, dass seine Tat in der letzten Nacht sehr wahrscheinlich nicht aus einem sexuellen Motiv heraus begangen hatte, dann erhielt man einen schwer fassbaren und kalkulierenden Mörder.

      Mackenzie zog sich zum Rand der Lichtung zurück, um die gesamte Szene in sich aufzunehmen. Porter warf ihr einen Seitenblick zu, dann ignorierte er sie einfach und wandte sich wieder seinem Gespräch mit Nelson zu. Sie bemerkte, dass die anderen Polizisten sie beobachten. Zumindest einige von ihren verfolgten ihre Arbeit. Sie hatte ihre Stelle mit dem Ruf, außerordentlich klug zu sein und war von der Mehrzahl ihrer Ausbilder auf der Polizeiakademie geschätzt worden. Hin und wieder stellten ihr jüngere Polizisten – sowohl Männer als auch Frauen – ernstgemeinte Fragen und holten ihre Meinung über einen Fall ein.

      Andererseits war ihr auch bewusst, dass ihr einige der Männer, die sich ebenfalls auf der Lichtung befanden, anzügliche Blicke zuwarfen. Sie wusste nicht, was schlimmer war: die Männer, die auf ihren Hintern starrten, wenn sie vorbeiging, oder diejenigen, die hinter ihrem Rücken das kleine Mädchen auslachten, das die Rolle eines knallharten Detectives spielen wollte.

      Als sie die Szene betrachtete, überkam sie wieder der nagende Verdacht, dass etwas hier einfach nicht stimmte. Sie hatte das Gefühl, ein Buch zu öffnen und die erste Seite einer Geschichte zu lesen, von der sie wusste, dass sie voller Intrigen stecken würde.

      Und das ist gerade erst der Anfang, dachte sie.

      Ihr Blick wanderte zu dem Dreck um die Stange und sah ein paar Fußabdrücke, die aussahen, als ob jemand beim Gehen seine Füße nicht richtig hochgehoben hätte, doch daraus konnte man keine Abzüge erstellen. Ebenfalls entdeckte sie fast schon geschwungene Linien auf dem Boden. Sie ging in die Hocke, um sich die Spuren näher anzuschauen. Dabei fiel ihr auf, dass die geformten Abdrücke nebeneinander verliefen und den hölzernen Pfahl umrundeten, sodass der Eindruck entstand, dass ihr Verursacher mehrmals um ihn herumgegangen sein musste. Dann betrachtete sie wieder den Rücken der Frau und bemerkte, dass die Striemen auf der Haut in etwa die gleiche Form hatten wie die Spuren auf dem Boden.

      „Porter“, sagte sie.

      „Was ist denn?“, fragte er, verärgert, dass sie ihn einfach unterbrochen hatte.

      „Ich glaube, ich habe die Spuren der Waffe gefunden.“

      Porter zögerte einen Moment, bevor er zu der Stelle ging, an der Mackenzie im Dreck kauerte. Als er neben ihr in die Hocke ging, stöhnte er leicht auf und sie konnte hören, wie sein Gürtel knirschte. Er wog etwa fünfundzwanzig Kilo zu viel, was sich immer deutlicher machte, je weiter sich diese Zahl der dreißig näherte.

      „Eine Art Peitsche?“, vermutete er.

      „Schaut so aus.“

      Sie untersuchte den Boden, wobei sie den Spuren im Sand bis hin zum Pfahl folgte – dabei fiel ihr etwas Anderes auf. Es war so unauffällig, so klein, dass sie es fast nicht gesehen hätte.

      Sie ging zu dem Pfahl, darauf bedacht, die Leiche nicht zu berühren, bevor die Forensiker sie nicht untersucht hatten. Wieder ging sie in die Hocke, doch diesmal bekam sie die volle Nachmittagshitze zu spüren, die sie niederdrückte. Unerschrocken rückte sie mit ihrem Kopf näher an den Pfahl heran, so nah, dass sie ihn fast mit ihrer Stirn berührte.

      „Was zur Hölle tun Sie da?“, fragte Nelson.

      „Hier ist etwas eingeritzt“, sagte sie. „Es schaut aus, als wären es Zahlen.“

      Porter trat heran um nachzuforschen, doch er konnte sich nicht noch einmal hinunterbeugen. „White, dieses Holzstück ist locker zwanzig Jahre alt“, meinte er. „Diese Einkerbungen schauen genauso alt aus.“

      „Vielleicht“, entgegnete Mackenzie. Aber das glaubte sie nicht.

      Porter, der schon das Interesse an ihrer Entdeckung verloren hatte, ging zurück zu Nelsen, mit dem er die Informationen abglich, die ihm der Bauer, der die Leiche gefunden hatte, gegeben hatte.

      Mackenzie holte ihr Handy hervor und fotografierte die Zahlen ab. Sie vergrößerte das Bild, wodurch sie deutlicher wurden. Sie so detailliert zu sehen, verstärkte das Gefühl, dass all das hier der Anfang etwas viel Größeren war.

      N511/J202

      Die Zahlen sagten ihr gar nichts. Vielleicht hatte Porter Recht, vielleicht bedeuteten die Zahlen überhaupt nichts. Vielleicht stammten sie von dem Holzfäller, der den Pfahl geschaffen hatte. Vielleicht hatte ein einsames Kind irgendwann im Laufe der Jahre die Nummer eingeritzt.

      Aber all diese Vermutungen fühlten sich nicht richtig an.

      Nichts davon fühlte sich richtig an.

      Und tief in sich drinnen wusste sie, dass dies erst der Anfang war.

      KAPITEL ZWEI

      Mackenzie spürte einen Knoten im Bauch, während sie aus dem Auto schaute und die neuen, aufgereihten Vans sowie die Reporter sah, die um die besten Plätze kämpften, um sich auf sie und Porter zu stürzen, sobald sie vor dem Polizeirevier halten würden. Als Porter parkte, beobachtete sie, wie mehrere Nachrichtensprecher über den Rasen der Polizeiwache rannten, hinter ihnen eilen schwerbeladene Kameramänner her.

      Mackenzie sah, dass Nelson bereits an der Eingangstür war und sein Bestes tat, um die Medien zu beruhigen. Man merkte deutlich, dass er sich nicht wohl fühlte und dass er ziemlich aufgebracht war. Sogar von hier aus konnte sie den Schweiß auf seiner Stirn glänzen sehen.

      Nachdem sie ausgestiegen waren, holte Porter sie ein, um sicherzustellen, dass sie nicht der erste Detective wäre, den die Medien sahen. Als er an ihr vorbeilief, meinte er: „Sagen Sie den Blutsaugern bloß nichts.“

      Bei seinem herablassenden Befehl erfasste sie eine Welle der Empörung.

      „Das weiß ich, Porter.“

      Die Traube aus Reportern und Kameras erreichte sie. Mindestens zehn Mikrofone stachen aus der Menge hervor und in ihre Gesichter, während sie an ihnen vorbeigingen. Fragen prasselten wie ein Schwarm Insekten auf die beiden ein.

      „Haben Sie schon die Kinder des Opfers benachrichtigt?“

      „Wie reagierte der Bauer, als er die Leiche fand?“

      „War es sexueller Missbrauch?“

      „Ist es denn sinnvoll, dass eine Frau diesen Fall ermittelt?“

      Die letzte Frage traf Mackenzie ein wenig. Natürlich wusste sie, dass sie einfach nur eine Reaktion hervorrufen wollten, und auf eine kurze und dennoch sensationsreife Aufnahme für die Nachmittagssendung hofften. Es war gerade einmal vier Uhr, wenn sie schnell waren, dann hätten sie vielleicht ein Stück exklusiver Informationen für die sechs Uhr Nachrichten.

      Als sie sich ihren Weg durch die Menge bahnte und in das Gebäude eintrat, hallte diese letzte Frage wie ein Donner in ihrem Kopf wider.

      Ist es denn sinnvoll, dass eine Frau diesen Fall ermittelt?

      Sie erinnerte sich daran, wie gefühllos Nelson die Informationen zu Hailey Lizbrook vorgelesen hatte.

      Natürlich ist es das, dachte Mackenzie. Es