gewann beide Male. Dennoch herrschte keine Katerstimmung im Team. Jetzt stand noch der Teamwettbewerb der Zwölfjährigen an: hundert Meter Lagenschwimmen. Abby ging als Erste an den Start und klatschte als Dritte ab. Rebekka holte auf den Zweiten Platz auf, bevor Isabelle ins Wasser ging. Onta sah auf dem Startblock wie Isabelle kämpfte, aber immer mehr an Boden verlor. Als Fünfte schickte sie Onta ins Rennen. Mach es wie vorhin, dachte sie, als sie endlich ins Wasser eintauchte. Nur alle zehn Schläge atmen und diesen Rhythmus halten, nicht verhaspeln. Rosie, die Dritte von vorhin, lag vorne: eine volle Körperlänge. Onta, konzentrierte sich, wie eine aalglatte Lokomotive zog sie sich durch Wasser. Stückchen für Stückchen versuchte sie den Abstand zu verringern. Nach der Wende, lag sie auf dem vierten Platz. Ihre Arme taten ihr weh, ihre Lungen brannten, dennoch pflügte sie durchs Wasser, ohne nachzulassen. Ein Stöhnen ging durch die Menge auf der Tribüne. Onta hob kurz den Kopf aus dem Wasser. Da, die Giants-Schwimmerin brach ein und fiel zurück. Das Wasser schäumte vor Ontas Augen. Schlag um Schlag arbeitete sie sich vor. Der Beckenrand kam in Sicht: Anschlag und Aus. Müde und erschöpft ruhte sich Onta auf dem Begrenzungsseil aus und sah noch, wie die restlichen Schwimmerinnen anschlugen. Lough Neagh hatte gewonnen und feierte lautstark ihren Sieg. Armagh war Zweite und Onta hatte es geschafft, dass die Mourne-Schule nach zehn Jahren wieder Dritte im Lagenwettbewerb wurden. Frau Ellroy hatte so sehr geschrien, dass sie Onta und dem Team nur noch mit krächzender Stimme gratulieren konnte.
Jubelnd und unter lautem Gesang, stiegen sie nach der Siegerehrung in den wartenden Bus ein.
Onta streichelte immer wieder glücklich ihre zwei Medaillen. Es war ein guter Tag, dachte sie versonnen, als sie sich im Bus umblickte. Zoe, Clara und Megan schwenkten immer noch ihre Wimpel. Isabelle sah etwas geknickt aus, doch Frau Ellroy flüsterte ihr was ins Ohr, was sie sichtlich wieder auflächeln ließ. Der nächste Wettkampf würde erst in drei Monaten in Dublin stattfinden, überlegte Onta versonnen. Genug Zeit um besser zu werden
Der Bus rumpelte mit seiner singenden Schar über die Landstraße in Richtung Mourne Wall-Schule. Onta schaute mit einem Seufzer auf die Uhr in zwei Stunden würden sie daheim sein: Essen, Schlafen und morgen wieder … KAWUMM! Ein lauter Knall unterbrach Ontas Gedankengang. Alles verlangsamte sich, sie sah wie sich in Zeitlupe die Gesichter ihrer Mitschülerinnen veränderten: ungläubig, ängstlich schreien. Wie die Fensterscheiben Risse bekamen und der Bus zu kippen begann. Sie blinzelte, merkte, wie sie aufprallte, und konnte nichts dagegen tun, ihre Arme und Beine waren wie in Sirup eingeschlossen. Ein Schrei entkam ihren Lungen und ihre Umgebung wechselte von – von Zeitlupe zu Schnelldurchlauf. Sie spürte den Schmerz an ihrem Kopf und Beinen, roch das Blut, registrierte den Geruch von verschmortem Gummi. Raus hier, bevor der Bus brennt! Sie versuchte auf die Beine zukommen. Beim ersten Mal klappte es nicht, Glasscherben schnitten sich in ihre Beine, Grashalme und Schnee schauten aus dem blutigen Scherbenhaufen unter ihr heraus. Um sie herum stöhnte, ächzte und wimmerte es. Jeder der konnte versuchte herauszuklettern, über die Sitze und Armlehnen nach hinten. Jemand hielt ihr eine Hand hin - Rebekka - gemeinsam kletterte aus dem umgefallen Bus durch die zerschlagene Heckscheibe. Wie lange es dauerte, bis sie endlich am Straßenrand saßen, zusammengekauert und frierend, wusste sie nicht. Sie blickte sich um. Sie zählte kurz – alle dreißig Schülerinnen schienen, da zu sein, blutend mit Schnittverletzungen, aber am Leben. Kein Unterschied mehr zwischen der Schuluniform und dem eigenen Blut, der den Schnee verfärbte. Mrs. Ellroy ging von Grüppchen zu Grüppchen und sagte etwas, der Busfahrer versuchten das brennende Rad zu löschen. Der Bus war ein Scherbenhaufen. Blaue Lichter begannen auf dem Schnee zu flackern. Rettungskräfte fluteten die Umgebung: halfen, bargen, verarzteten und löschten den Brand. Ein Sanitäter kam zu ihr, behandelte sie notdürftig und hüllte sie in eine Rettungsdecke. Die ganze Zeit bewegte er seinen Mund, doch hören konnte Onta nichts. Komisch dachte sie noch und fing an zu giggeln, wie in einem Stummfilm, nur das niemand Textkarten hochhielt und erklärte, was geschah.
Große Schneeflocken, die wie Daunenfeder vom Himmel fielen, waren das letzte, was Onta sah, bevor sie später im warmen Rettungstransporter einschlief.
Sophie – Das Zuckerstückchen
Sophie stieg aus dem Bus. Weiße Wölkchen ausatmend, ging sie durch die verwinkelten Gässchen des mittelalterlichen Stadtviertels mit seinen schiefen Häusern. Sie schaute sich um, egal wie oft sie in den letzten Wochen diesen Weg genommen hatte, immer wieder konnte sie etwas Neues entdecken. Die Eisblumen auf den Fenstern im zweiten Stock der Metzgerei. Vorgetrieben Hyazinthen auf einer Fensterbank, die gefleckte Katze, welche die Straße beobachtete. Seit drei Monaten kam sie zweimal in der Woche in das Altstadtviertel, um zu arbeiten. In einer kleinen Confiserie: das Zuckerstückchen.
Goldenes Licht strömte aus den Schaufenstern in die hereinbrechende Dunkelheit, ein leichter Duft nach Schokolade und Zimt umwehten den Laden. Sophie schaute noch einen Augenblick durch das Schaufenster bevor sie mit einem Lächeln durch die alte Ladentür eintrat und „Guten Abend Frau Hummel“, rief. Früher war das Zuckerstückchen eine alte Apotheke gewesen, die Frau Hummel einfach umgebaut hatte. Statt Pillen und Salben beherbergten kleine Törtchen, Kekse unterschiedlichster Art, bunte Bonbons und gedrehte Lutscher ebenso wie Pralinen die durchgehende Verkaufstheke. Die beiden winzigen Tischchen, die an dem großen Schaufenster standen, erlaubten den Kunden gleich ihren Appetit auf Süßes zu stillen. Hinter dem Verkaufsraum befand sich die große Küche, in der Sophie zweimal die Woche Frau Hummel half. Mit einem „Hallo, da bist du ja“, begrüßte sie die kleine korpulente Frau Hummel. Nachdem die Ladentür abgeschlossen war, gingen sie gemeinsam nach hinten in die Küche. Dort zog Sophie ihren schweren Wintermantel und die Schuhe aus. Versonnen streifte sie sich den weißen Kittel über, setzte das Haarnetz auf, schlüpfte in die Pantoletten und wusch sich die Hände. Frau Hummel hantierte in der Küche und der Duft von heißer Schokolade durchzog den Raum. Während Sophie ihre Finger selig um den Schokoladenbecher legte und die aufsteigenden Duftschwaden einatmete, schaute sie sich um. Als war so sauber wie immer. Sie nahm einen tiefen Schluck und überlegte, was sie wohl heute machen durfte. Vielleicht Pralinen überziehen oder Bonbons schneiden? „Heute müssen wir Inventur machen“, riss Frau Hummel sie aus ihren Überlegungen. „Mach, nicht so ein Gesicht, einmal im Jahr muss es sein. Und jetzt kommen eh nicht so viele Kunden, so kurz nach Weihnachten“, fügte sie mit leisem Bedauern hinzu.
In den nächsten zwei Stunden zählten und katalogisierten sie, was sie in der Küche fanden: Zutaten, Geschirr, Formen, Pinsel, Geräte. Plötzlich durchbrach ein Telefonläuten die betriebsame Küchenatmosphäre.
Frau Hummel eilte so schnell sie konnte in die Diele zum Telefon. „Ja hier, das Zuckerstückchen. Frau Hummel am Apparat“, hörte Sophie sie noch sagen, bevor die Tür wieder zuging und sie alleine in der Küche stand.
Sie öffnete den letzten Schrank mit einem Seufzer der Erleichterung. Nachdem sie die Anzahl der Schüssel, Tortenringe und Tartletts in die Liste eingetragen hatte, machte sie sich um Frau Hummel Sorgen. Eine Dreiviertelstunde war seit dem Anruf vergangen und sie war immer noch nicht wieder zurück. Vorsichtig ging sie zur Dielentür und rief nach ihr. Keine Antwort. Behutsam drückte sie die Klinke runter und lauschte.
Niemand sprach, der Telefonhörer war aufgelegt. Hinter der Diele schloss sich das Treppenhaus an, das nach oben in die Wohnung von Frau Hummel führte. Sophie rief lauter nach Frau Hummel, erhielt aber wieder keine Antwort. In der Stille des Treppenflurs konnte sie, aus der Wohnung ein leises Weinen und Schluchzen hören. Sophie stieg die Stufen empor, klopfte an der angelehnten Tür und betrat die Wohnung.
Ein orangefarbenes Bild in der Diele setzte einen Farbakzent in der sonst weiß gehaltenen Wohnung. Sophie kam an alten schwarz-weiß Modefotografien aus den 50er und 60er Jahren vorbei, als sie tiefer in die Wohnung vordrang und dem Weinen folgte. Frau Hummel saß in ihrem Wohnzimmer, ein gefülltes Likörglas stand auf dem Tisch und sie hielt weinend ein Bild in der Hand. Als sie Sophie bemerkt, schniefte sie in ihr Taschentuch und legte das Bild mit einem „Oh, Sophie tut mir leid, ich habe dich ganz vergessen. Setz dich doch bitte“, ab. Zittrig nahm Frau Hummel einen Schluck aus dem Gläschen, trocknete nochmals ihre verweinten Augen und schaut Sophie an. Weiß, verheult und unendlich alt, wie Sophie schien. „Der Anruf war von meiner Schwester aus Irland. Es gab einen Anschlag. Auf einen Schulbus.“ Nach einem Schniefen