sehr geschäftig. Er sah undeutlich eine Gestalt hin und her gehen, der Schatten hob sich von den Gardinen ab. Als sich seine Augen an das Licht und die Vorhänge gewöhnt hatten, erkannte er Hanna. Sie war vollständig angekleidet und eifrig damit beschäftigt, einen Koffer zu packen, den sie auf ihr Bett gelegt hatte. Die leichte Nachtbrise wehte den Vorhang sekundenlang beiseite, so daß er in den Raum sehen konnte. Neben der Bettstelle standen noch zwei offene Koffer. Sie hatte ihre ganze Garderobe aus dem Schrank genommen.
Jim Ferraby zog die Stirne kraus. Das bedeutete etwas anderes als einen Wochenendausflug. Sie packte wie jemand, der sich für eine lange Reise vorbereitet. Eine ganze Stunde lang sah er ihr zu. Dann war sie fertig, und ihr Licht ging aus. Der Morgen dämmerte schon grau herauf. Jim fühlte sich plötzlich müde und hätte gerne geschlafen.
Als er sich eben ins Bett gelegt hatte, hörte er Töne, die ihn in Erstaunen setzten, und er mußte sich erst überzeugen, ob er nicht träume. Draußen sang jemand. Die Stimme kam aus dem kleinen Gehölz.
»Der maurische König reitet hin und wieder
durch Granadas königliche Stadt,
Ay de mi, Alhama!«
Der Sänger! Der Mann, der gestern Abend auf dem Rasen war! Im nächsten Augenblick schlüpfte er in seinen Mantel und stieg die dunklen Stufen zur Halle hinunter. Es dauerte einige Zeit, bevor er die Tür öffnen konnte. Aber schließlich gelang es ihm. Draußen war die ganze Luft von würzigen Düften erfüllt. Es war frisch und kalt, und das Gras unter seinen Füßen war feucht vom Tau.
Er stand bewegungslos und lauschte. Dann sah er eine stämmige Gestalt, die sich im Schatten des Gehölzes bewegte, und ging auf sie zu. Als er näher kam, hörte ihn der andere und wandte sich um.
»Ruhig...ruhig...stören Sie meinen Singvogel nicht!« hörte Jim eine leise Stimme. »Ich brauche ihn, um anthropologische Studien zu machen.«
Es war Super.
6
Gehen Sie wieder hinein, und ziehen Sie sich ordentlich an, ich brauche Ihre Hilfe. Alle meine Leute sind drunten in der Gegend von Farnham und werden noch den falschen Mann verhaften. Falls ich nicht hier sein sollte, wenn Sie wiederkommen, warten Sie auf mich.«
Jim kam der Aufforderung gerne nach, denn der Morgen war frostig kalt, und er zitterte. In fünf Minuten kam er zu der Stelle zurück, wo er den Oberinspektor verlassen hatte. Aber der tüchtige Mann war verschwunden und zeigte sich auch in den nächsten zehn Minuten nicht.
»Diesmal ist er weggegangen«, brummte er, als er wiederkam. »Er muß Sie gehört haben, als Sie sich einmischten.«
»Entwischt – wie?«
»Das Gehölz zieht sich bis zu den Grenzmauern hin. Auf der anderen Seite ist dichtes Gebüsch. Ich habe dort gehört, wie er durch das Unterholz ging. Ich will noch zu der Hauptstraße hinunterfahren – aber er ist so schlau wie ein Fuchs. Haben Sie irgend etwas Neues erfahren?«
»Hanna Shaw geht fort«, sagte Jim und erzählte ihm alles, was er während der Nacht gesehen hatte. Super kratzte sich seinen grauhaarigen Kopf.
»Ich möchte wetten, daß Cardew nicht weiß, daß sie für immer geht. Das wird die beste Nachricht sein, die der arme Kerl seit Jahren erhalten hat. Ich wünschte nur, ich hätte den jungen Caruso geschnappt.« Er schüttelte bedauernd den Kopf.
Er war die Einfahrtsstraße halb hinuntergegangen, als er wieder zurückkam.
»Haben Sie ein Auto, Mr. Ferraby?«
»Ja. Aber nicht hier, ich bin mit dem Zug gekommen.«
»Können Sie es nicht morgen Abend zu meinem Revier bringen? Etwa, wenn es dunkel wird? Ich beabsichtige, nach Pawsey zu gehen. Es gehört zwar nicht zu meinem Bezirk, und der filzige Vorgesetzte im Polizeipräsidium würde Himmel und Hölle in Bewegung setzen, wenn etwas davon herauskäme. Aber ich verachte ihn, und wenn ich jemand verachte, so ist das Grab seine, letzte Hoffnung. Ich möchte Sie bitten, mich zu begleiten und mit mir die Sache psychologisch zu ergründen; denn ich verstehe mich nicht recht darauf.«
Super schaute ihn lustig mit blinzelnden Augen an, dann lachte er laut.
Anscheinend hatte keiner im Haus den Sänger gehört. Jim kehrte zu seinem Zimmer zurück, ohne daß er jemand Rede und Antwort stehen mußte. Da er unmöglich noch schlafen konnte, rasierte er sich und kleidete sich sorgfältig an. Als die Sonne aufging, war er schon unten im Garten und machte einen Spaziergang um das Haus, um sich die Zeit zu vertreiben.
Von der Rückseite von Barley Stack aus konnte er Hill Brow, das Herrschaftshaus Mr. Elsons, sehen, die roten Ziegelmauern und den viereckigen, architektonisch schön ausgebildeten Turm, der das Gebäude krönte.
Was für eine wunderliche Laune hatte diesen Amerikaner bewogen, sich in einer Umgebung niederzulassen, die ihm nicht gefiel? Er war ein Selfmademan und besaß weder Kultur noch gute Umgangsformen. Als Jim zu dem Rasen zurückkam, sah er eine schlanke Gestalt in einem grauen Kleid vor sich, und sein Herz schlug schneller.
»Ja, ich bin früh aufgestanden – ich konnte nicht schlafen.«
Elfa gab ihm lächelnd die Hand, und er wurde einen Augenblick verlegen. Noch nie hatte er sie unter dem sonnigen Himmel in freier Natur zu einer so frühen Stunde gesehen, wo die Frauen sich nur ungern den kritischen Blicken der Männer aussetzen.
»Ist es gestattet, Ihnen meinen Arm anzubieten?« fragte er.
»Gestattet ist es schon, aber es ist nicht nötig«, sagte sie lächelnd und brachte ihn dadurch wieder außer Fassung. »Heute morgen bin ich sehr mutig. Haben Sie gut geschlafen?«
»Um die Wahrheit zu sagen, ich habe überhaupt nicht geschlafen«, gab er zu.
Sie nickte.
»Ich auch nicht. Mein Zimmer grenzt an das von Miss Shaw. Sie hat die ganze Nacht über in ihrem Zimmer herumgewirtschaftet.«
Er hätte ihre Beobachtung bestätigen können.
»Ich will froh sein«, fuhr sie fort, »wenn ich wieder in meine eigene kleine Wohnung zurückkehren kann. Barley Stack hat einen sehr wenig günstigen Einfluß auf meine Nerven. Ich habe früher nur einmal eine Nacht in diesem Haus zugebracht es ist schon ein Jahr her. Das war ein sehr unangenehmes Erlebnis. Langweilt es Sie auch nicht, wenn ich Ihnen das erzähle?«
Ob ihn das langweilte? Er hätte ihr den ganzen Morgen lang zuhören können. Und das sagte er ihr auch.
»Miss Shaw war in noch schlechterer Laune als gewöhnlich. Sie sprach weder zu mir noch zu dem armen Mr. Cardew. Sie hatte sich in ihrem Zimmer eingeschlossen und weigerte sich, an den Mahlzeiten teilzunehmen. Mr. Cardew erzählte mir, daß sie glaubte, er habe sie vernachlässigt. Dann hat sie etwas ganz Merkwürdiges getan. Als ich am Morgen sehr früh aufwachte und aus meinem Fenster schaute, sah ich, daß ein großer lateinischer Buchstabe ›B‹ auf dem Rasen lag. Er war aus dunklen Papieren zusammengesetzt, und es hatte eine sonderbare Bewandtnis mit diesen langen, schmalen Zetteln. Ich ging hinunter, um mir die Sache genauer anzusehen. Mindestens fünfzig Hundertdollarnoten waren mit langen, schwarzen Nadeln auf dem Boden befestigt.«
Jim sah sie nur ungläubig an.
»Hat Cardew das gewußt?«
»Ja, er hatte es auch von seinem Fenster aus gesehen und war sehr aufgebracht darüber.«
»Wohnte sonst noch jemand hier zu dieser Zeit?«
Sie nickte und machte ein ärgerliches Gesicht.
»Mr. Elson. Sein Haus wurde gerade von Handwerkern renoviert, und Mr. Cardew lud ihn ein, solange bei ihm zu wohnen. Ich glaube, er ist seit dieser Zeit bis gestern Abend nicht mehr hier gewesen. Miss Shaw hatte angeregt, daß er überhaupt kam. Er hat es mir selbst erzählt.«
»Aber woher wissen Sie, daß Hanna den Buchstaben auf dem Rasen zusammensetzte? Das kann doch auch eine verrückte Idee von Elson gewesen sein. Ich könnte