K. D. Beyer

Schneckenpost


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Situationen zu katapultieren. Niemand nahm ihm dies übel, während Nora tausend Richter- und Henkeraugen auf sich spürte, wenn sie auch nur den Hauch einer Idee eines Wunsches in sich verspürte, sich aus der Affäre zu ziehen. Nora legte die Hände um Frodo und kraulte ihn so innig, dass er wie auf Knopfdruck damit begann, voller Inbrunst für Nora zu schnurren.

      „Was braucht man mehr, als ein Wesen, das schnurrt …!“, dachte Nora zufrieden und schloss wieder die Augen.

      „Nein!“, rief sie unglücklich, als Frodo sich plötzlich losriss, auf den Boden sprang und gerade noch durch die Terrassentüre entwischen konnte, bevor die Türe mit einem lauten Knall zuschlug.

      „Huhu! Ich habe jemand mitgebracht!“ hörte sie eine laute, fröhliche Stimme rufen.

      Nora überlegte angestrengt.

      Um wen oder was könnte es sich handeln?

      Nora überlegte noch angestrengter.

      Sie kannte die Stimme, aber der Name war ihr entfallen?

      „Ach, hast du dich hingelegt? Haben wir dich geweckt?“ Offensichtlich hatte Arno kein schlechtes Gewissen. Es war für ihn, im Gegensatz zu ihr, kein Verbrechen, Menschen zu wecken, die scheinbar grundlos um zwölf Uhr mittags auf dem Sofa liegen, inmitten von zusammengeknautschten Wäschestücken.

      Ach ja – die Kinder!

      Sie hatten irgendwie und irgendwann völlig vergessen auszuziehen, weil es so bequem, praktisch und sicher bei Nora war.

      „Du bist ja immer noch da!“, brabbelte Nora ziemlich leise in Richtung Wohnzimmerdecke.

      Arno schaute verwirrt von seiner Mutter zu seiner Tante Martina, die er, durch und durch Familienmensch, irgendwo unterwegs, wahrscheinlich beim Joggen, aufgegabelt und freudestrahlend mitgeschleppt hatte.

      „Nora, wie meinst du denn das?“ fragte Martina ihre ewig kleinere Schwester mit strengem Blick und dann stach sie ungerührt mitten hinein in das familieninterne Wespennest:

      „Hast du nichts Besseres zu tun, als hier faul rumzuliegen und Löcher in die Luft zu starren?“

      „Ich glaube, Mama geht’s nicht gut. Sie war heute Morgen schon so seltsam blass um die Nase“, schaltete sich nun Luisa, die Tochter des Hauses, in die Diskussion ein.

      Nora überlegte, wieso Luisa schon wieder zu Hause war. Wahrscheinlich waren ihre seltenen Vorlesungen mal wieder ausgefallen.

      „Kinder – worauf wartet ihr denn eigentlich noch: ruft schnell einen Krankenwagen!“ Die Tante sprach endlich ein Machtwort!

      Wie schnell der Weg von ihrem samtweichen Wohnzimmersofa in ein hartes, steriles Krankenhausbett sein konnte, hätte Nora sich nie träumen lassen.

      Dies war seit Jahrzehnten ihre erste Fahrt, bei der sie nicht selbst am Steuer saß. Halbnackt wie sie war, nur dürftig in einen viel zu weiten Bademantel gewickelt, ging die wilde Fahrt mit Blaulicht und Martinshorn durch die verstopften Straßen der Stadt.

      „Ich will nach Hause – mir geht es super!“, maulte sie beleidigt, während sie mit letzter Kraft versuchte, aus dem gruseligen Bett zu flüchten. Doch nun glaubte nicht einmal mehr Noras Körper ihr dieses Lügenmärchen und ihr ausgelaugtes Knochengerüst fiel in sich zusammen, wie ein Kartenhaus.

      „Machen Sie die Augen auf! Sehen Sie mich an!“ Ein harscher Befehlston drang in Noras Gehirn.

      Doch Nora hatte sich vorgenommen, nie wieder zu gehorchen und hielt sich auch jetzt eisern daran, auf der Schwelle zum Tod.

      Kapitel 3

      Susanne machte einen Kontrollgang durch ihren Garten. In einer Ecke zeigten sich bereits die ersten Schneeglöckchen. Zum Glück war nichts erfroren und sie hegte die leise Hoffnung, dass die Kiwi-Ernte wieder so reich ausfallen würde, wie im letzten Jahr.

      Die Früchte waren zwar sehr, sehr klein; nur ungefähr so groß wie eine Weintraube, aber sehr süß und schmackhaft. Das lästige Schälen fiel weg, weil die Haut so dünn war, dass man sie ohne weiteres mitessen konnte.

      Mit den ersten Sonnenstrahlen erwachte auch ihre Lust auf Gartenarbeit. Nur widerwillig ging sie ans Telefon, als es unerbittlich klingelte.

      Es war ihre Freundin Eva.

      „Nora hatte einen Herzinfarkt!“, kreischte Eva am anderen Ende der Leitung.

      „Wie? Was? Aber, aber …!“ Susanne fiel der Gedankensprung von Kiwi-Konfitüre zum verstopften Herzen ihrer Freundin äußerst schwer.

      Erst vor wenigen Tagen hatten die Freundinnen noch einen sehr lustigen Kinoabend zusammen verbracht.

      „Wie geht es ihr?“ Susannes Beine waren weich wie überreife Kiwis.

      „Ich wollte sie gerade im Krankenhaus besuchen …!“, sagte Eva zögernd.

      „Ja, und?“ kreischte Susanne. Ihr Geduldsfaden drohte zu zerreißen.

      „Sie hat mich rausgeschmissen, weil ich ihr was zum Anziehen besorgen und sie so schnell wie möglich abholen soll. Du musst mir dabei helfen, Susanne!“

      „Niemals! Und du lässt das kleine, raffinierte Biest auch schön dort, wo sie gerade ist. Ich glaube, noch mehr Aufregung können wir jetzt alle nicht gebrauchen!“

      Kapitel 4

      „Jetzt halt‘ doch endlich die Klappe!“ war der einzige Gedanke, an den Nora sich später noch erinnern konnte.

      Man hatte sie operiert.

      Aufgeschlitzt und wieder zugenäht.

      Es war nun Noras Hauptaufgabe, diese Tatsache zu akzeptieren.

      Eigentlich war Nora eine Meisterin darin, Tatsachen zu akzeptieren, um sie danach ganz schnell komplett zu verdrängen. Doch in diesem Fall stieß sie, aus unerklärlichen Gründen, an ihre Grenzen.

      Plötzlich hatte Nora nur noch einen Wunsch: wieder gesund sein!

      So wie früher!

      Seltsam, als sie noch einigermaßen fit war, hatte sie so viele unerfüllte Wünsche. Und nun waren diese vielen, vielen kleinen Wünsche zusammengeschrumpft auf einen einzigen, übergroßen und sehr mächtigen Wunsch.

      Sollte ihr Leben etwa gar nicht so schlimm gewesen sein, wie sie es immer befürchtet hatte?

      Es tat sehr weh, zu lachen.

      Das Lachen schmeckte bitter und blieb ihr im Halse stecken.

      Sie würde nie wieder so gesund sein, wie damals, als sie die Treppen hinunter in die Waschküche gegangen war, um nach der Waschmaschine zu schauen, die da so laut und penetrant piepste.

      „Sie haben Glück gehabt! Wir konnten Sie gerade noch retten! Der Eingriff war ganz klein und Sie können schon bald wieder nach Hause!“ War das der Weihnachtsmann, der mit dieser lustigen Micky Maus Stimme mit ihr sprach? Wieso hatte er einen weißen Kittel und keinen roten Mantel an?

      Erst langsam registrierte Nora, dass nicht sie die komplizierte Herz-Operation über sich hatte ergehen lassen müssen, sondern die arme Patientin, die kurz zuvor zur Türe herein geschoben wurde, frisch von der Intensivstation.

      Nora schielte immer wieder heimlich rüber zu ihr.

      Das bleiche Gesicht wirkte sehr abwesend, während ihr Besucher verzweifelt um Fassung rang.

      „Steht unter Drogen – bestimmt Morphium!“, flüsterte Luisa ihrer Mutter zu.

      Als sie den Blick ihrer Mutter sah, musste sie lachen.

      „Jetzt schau‘ nicht so neidisch drein! Dir haben sie bestimmt auch irgendein Medikament verpasst. Sonst würdest du nicht so brav im Bett liegen bleiben!“

      Kapitel