Christina Geiselhart

Die Bluthunde von Paris


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wieder aus dem Unterholz des Waldes und ritt in gestrecktem Galopp auf die Mutter zu. Das goldbraune Haar strahlte in der leuchtenden Luft, die blendend weiße Mähne des Pferdes tanzte im Wind. Fasziniert folgten Leas Augen den beiden schönen Geschöpfen. Sie genoss den Anblick intensiv, denn die gemeinsamen Spaziergänge mit Philippine waren in letzter Zeit seltener geworden. Das Mädchen bevorzugte die Einsamkeit, seit ihre Schwester Alberta auf geheimnisvolle Weise verschwunden war. Das märchenhafte Bild der beiden Gestalten, die dem Himmelsblau zu entsteigen schienen, besänftigten Lea und unerwartet heftig wurde sie von einer zärtlichen Liebe zu Natur und Mensch überflutet. Solch seltene Momente öffneten für Sekunden Leas verhärtetes Herz und durchwehten es mit jener Melancholie, die sie zutiefst fürchtete, weshalb sie stets alles vermied, was sie dieser Sanftmut ausliefern könnte. Doch manchmal war der leise Wind stärker als ihre Furcht. Er trug den Geruch nach warmer Milch mit sich. Er umarmte sie, wiegte sie, und sie ahnte, dass es irgendwann Liebe in ihrem Leben gegeben hatte. Blind und empfindungslos geschlagen von den harten Kinder- und Jugendjahren blitzten diese Momente dennoch auf, gerade hier im schönen Bild der Tochter. Und als diese sie erreicht hatte, sagte sie nachdenklich:

      „Weißt du, schönes Kind, ich glaube doch an eine Höhere Kraft, an ein Höchstes Wesen. Wenn ich mich allerdings täuschen sollte und es doch einen Schöpfer gibt, den sie Gott nennen, dann hat dieser Schöpfer nicht den Menschen erschaffen, sondern allein das Tier. Vielleicht sogar nur das Pferd, denn kein anderes Tier ist so edel und so schön wie das Pferd.“

      Philippine lachte und beugte sich ein wenig zu ihrer Mutter herunter.

      „Mama, du sprichst wie Albano! Der Mensch ist so schlecht, dass nur der Teufel ihn erschaffen haben kann, sagte Albano. Das Pferd aber ist gut. Es ist stark, edel, es nützt uns und es liebt und dankt uns, weil wir für es sorgen.“

      „Er war nicht dumm, der Albano. Nur schade, dass er nicht mehr kommt.“

      „Oh, ja! Er ist sehr klug. Darum kommt er nicht mehr, denn es gibt Besseres zu tun, als einem zwölfjährigen Mädchen reiten beizubringen ...“

      ... und es einer dreißigjährigen Frau zu besorgen, dachte Lea resigniert, indessen Philippine weiterredete. „Damit er nicht wie sein Vater endet, geht er in die Stadt, will Geld verdienen und alles tun, um ein wichtiger Mann zu werden.“

      „Wie soll er das schaffen? Er kann kaum lesen, schreibt und rechnet jämmerlich. Das ist nicht genug, um wichtig zu werden.“ In einem Ruck stand Lea auf und schüttelte ihren Rock sauber.

      „Er ist gewandt, Mama. Wir werden sicher noch von ihm hören.“

      Anerkennend blickte die Mutter an der Tochter hoch. Sie redet so geschult, die Kleine, dachte Lea stolz. So manierlich, als habe sie nur in Adelshäusern gelebt. Sie ist wahrhaftig auf vielen Gebieten begabt. Wenn sie nun noch im Bett so leidenschaftlich reitet wie auf ihrem Pferd, liegen ihr die dummen Aristokraten zu Füßen.

      „Nun, wie sieht es mit dem neuen Schuhwerk aus?“, fragte die Mutter.

      „Der Arzt in Paris hat Zeichnngen von meinem Fuß gemacht. Dann will er Holzschuhe anfertigen lassen, in denen ich immer laufen muss, die aber jedes Jahr gewechselt werden, weil ich ja wachse. Das alles ist teuer, sagt der Pfarrer.“

      „Er soll den Mund halten. Ich zahle alles.“

      Verwundert sah Philippine ihre Mutter an. Diese wollte lästigen Fragen ausweichen und wechselte eilig das Thema:

      „Wie steht’s mit deiner Suche nach Alberta?“

      Über Philippines Gesicht fiel ein Schatten.

      „Ich hab überall gesucht und kann es mir nicht erklären. Aber ein bisschen Hoffnung machte mir der Nachbar. Er wundert sich, warum er noch immer keine Antwort von seinem Sohn hat und kann es sich plötzlich vorstellen, dass die Beiden abgehauen sind. Alberta fühlte sich verlassen, niemand hat sich um sie gekümmert. Auch ich ...“. Sie stockte, ihre Züge verhärteten sich.

      „Du hast getan, was du konntest!“, tröstete sie ihre Mutter. Philippine schüttelte den Kopf.

      „Hingegen war der Junge nett zu ihr. Aber litt unter der Arbeit in der Ziegelfabrik. Und zu Hause fühlte er sich auch nicht wohl. Beide hatten das Leben hier satt.“

      „Na, und da haut man so einfach mir nichts dir nichts ab, was? Wenn es aber nun mal so ist, hat sie vielleicht ihr Glück gefunden und du brauchst nicht mehr weiter zu suchen.“

      Philippine hob skeptisch die Schultern. Unwillkürlich streifte ihr Blick zum Himmel, dann über das weiter Feld. Sie seufzte:

      „Ach Mutter, wenn du nur Recht hast. Ruhe dich noch etwas aus. Ich will noch einmal ganz durch den Wald und zurück an einem Stück galoppieren. Es ist ein wunderbares Gefühl und Vraem ist leicht wie eine Feder. Mit ihr wachsen mir Flügel.“

      Lea war zufrieden. So konnte sie noch ein Weilchen vor sich hin dösen. Sie ließ sich wieder ins Gras sinken und ihre Gedanken in die Vergangenheit reisen. In den Sommer des Jahres 1773. Wie heute war sie auch damals hinaus gelaufen, hatte sich ins Gras geschmiegt, ihre Kleider gelockert, ihre Bluse geöffnet und ihre Brüste von der Sonne wärmen lassen. Und plötzlich hatte sie Pferdegetrappel gehört. Sie erschrak, als sie den Mann heranpreschen sah und bedeckte rasch ihre Blöße. Als er sie entdeckte, machte er abrupt Halt, wobei sich sein Pferd auf die Hinterhufe stellte. Im ersten Moment fürchtete sie sich vor dem Fremden, denn mit herrischer Miene wollte er wissen, wer sie sei und warum sie am helllichten Tage faul im Schatten läge, statt zu arbeiten wie andere Frauen.

      Auf seine Worte hin stand Lea auf und ging auf ihn zu. Der Reiter war vermutlich etwas älter als sie, aber noch jung genug, um ihr zu gefallen. Sein dichtes Haar fiel locker auf das helle Hemd, über das er eine Weste gestreift hatte. Er trug die Hosen der feinen Leute und Seidenstrümpfe. Lea wusste um ihre Anziehungskraft. Die sechs Geburten hatten weder ihr prachtvolles Haar noch ihre Körperformen beeinträchtigt.

      Sie hatte zwar vier Zähne verloren, doch das war kaum zu sehen. Ihre vollen Lippen lenkten davon ab. Und weil sie um ihre Wirkung wusste, war sie ehrlich. Sie sagte dem Reiter, dass sie alleine sei und es ihr an liebevoller Zuwendung fehle. Deshalb flüchte sie oft in die freie Natur, die nach Blumen und Gräser rieche. Hier, auf diesem Hügel verborgen zwischen den Birken, küsse würzige Luft ihr Haar, streichle der Wind ihre heißen Wangen und rasch würde sie sich besser fühlen. Sie sei die Geliebte des Windes, hatte sie gescherzt. „Der Wind verrichtet seine Arbeit nur halb“, hatte der Fremde geantwortet und war abgestiegen. Es war der schönste Tag in ihrem Leben. Und dieser Tag zog sich in die Länge. Er dauerte einen Sommer, denn der Fremde schien Gefallen an ihr zu finden. Erst als die Temperaturen kühler wurden, blieb er fort. Lea sah ihn nur einmal wieder. Er hingegen beachtete sie nicht. In Begleitung eines bedeutenden Mannes aus der Gironde machte er Halt an der Poststation von Saint-Ouen und hatte keine Augen für seine Umgebung.

      Der Herbst kam, da fühlte sie Leben in ihrem Bauch. Bis heute hatte sie den Fremden nicht vergessen können.

      „Mutter, wach auf, ich bin zurück!“

      Lea hatte tatsächlich die Augen geschlossen, um das Bild ihres einstigen Liebhabers im Geiste festzuhalten.

      „Lass uns zu Hause sein, ehe Vater kommt, Mutter!“

      Auf dem Rückweg trottete Lea melancholisch gestimmt neben den beiden her. Philippine hatte die Zügel gelockert und den Kopf an Vraems Hals geschmiegt. Schweigend gingen sie eine Weile durch den Wald, die Tochter ließ sich wie auf einer Welle treiben, die Mutter dachte an den geheimnisvollen Reiter. Der Wunsch, ihn irgendwann wiederzusehen, erwachte von Neuem. Vielleicht lebte er mittlerweile in Paris, und es war durchaus möglich, ihm zu begegnen. Aber dazu brauchte sie feine Kleider, schöne Stiefel, Hüte, eine Dienerin und eventuell eine Kutsche. Ganz unrealistisch war die Erfüllung ihres Wunsches nicht, denn allmählich klingelte es in ihrer Kasse. Es war eine ihrer besten Ideen gewesen, Frieda zur Hure zu machen.

      *

      In dieser Zeit machte ein Bauer des Nachbardorfes eine grässliche Entdeckung im Weiher. Das schwimmende Haar mit Schilfpflanzen verwoben, den leblosen Körper von Blättern und Wasserlilien umspült