Margret Datz

Zwei Minuten vor der Zeit


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in ihrer Stimme mit: Man muss ja so aufpassen, dass man nicht bestohlen wird. Du kannst keinem trauen. Wie in Ravensbrück. Dort musstest du deine Sachen auch immer im Auge behalten, sonst kamen sie einfach weg, einfach so!

      Sie schnippte verärgert mit den Fingern.

      Selbst das Brot haben sie dir dort geklaut. Ich war fünf Jahre in Ravensbrück, bis 45, aber ich bin keine Zigeunerin, das kannst du mir glauben. Ich war krank, davon ist meine Haut so dunkel geworden. Früher war ich ganz hell, genau wie du. Ich bin eine richtige Deutsche, ich kann's dir beweisen. Irgendwo muss doch mein Ausweis stecken! Er war ganz bestimmt hier drin.

      Sie warf ihre Habseligkeiten zurück in die Tasche und begann erneut mit der Suche, zerrte hektisch Stück für Stück wieder heraus.

      Lassen Sie, sagte ich beschwichtigend, das geht schon in Ordnung, ich glaube Ihnen das doch!

      Wirklich, ich bin keine Zigeunerin! In Ravensbrück war ich wegen meinem Vater. Der ist von den Nazis umgebracht worden. Mein Bruder auch, auch meine Mutter und meine Schwester. Ich hab' Glück gehabt, weiß nicht warum. Ich hab's überlebt.

      Jetzt faltete sie mit zitternden Fingern jedes einzelne Papier auseinander, legte es auf ihren Schoß und strich es mit kurzen, fahrigen Bewegungen glatt. Steffen, der bisher unbeweglich am Fenster gestanden und hinausgeschaut hatte, wandte sich mir zu:

      Ich muss wieder nach oben. Könnten Sie darauf achten, dass sie hier bleibt? Sie vergisst nämlich, dass sie einen Termin hat. Gestern ist sie einfach weggerannt, und wir mussten sie überall suchen.

      Kommen Sie, sagte ich, nahm ihr die Papiere aus der Hand und steckte sie zurück in die Handtasche. Ich weiß ja, dass Sie keine Zigeunerin sind. Das sieht man doch, Zigeuner haben glattes Haar und Sie haben Locken!

      Sie sah mich dankbar lächelnd an, und ihr grell geschminktes, knochiges Gesicht wirkte plötzlich weich und glücklich. Die Tür zum Chefarztzimmer ging auf, und sie wurde hereingerufen. Sie drehte sich noch einmal um und flüsterte verschwörerisch:

      Ich bin wirklich keine Zigeunerin, du hast recht!

      Ich griff zu meinem Buch, das neben mir auf der Bank lag, und fühlte ein Blatt, das ihr vom Schoß gerutscht sein musste.

       Ailina C., geb. 1921 in Belgrad,

       z.Zt. wohnhaft in Eisenach

       Der von Ihnen beantragte Sanatoriumsaufenthalt wurde bewilligt.

       Die Kosten übernimmt der Verein der Opfer des Naziregimes. Die

       Einweisung erfolgt durch das für Sie zuständige Sozialamt der

       Stadt Eisenach.

       ZENTRALRAT DER SINTI UND ROMA, Heidelberg, März 1994

      Ich bin keine Zigeunerin. Darauf bestand sie. - Ich hätte weinen mögen!

      Bekenntnisse eines Sport-Muffels

      spORT war für mich immer ein Ort unaussprechlicher Qualen! Schon als Kleinkind war mir jede Art mutwillig erzeugter Bewegung suspekt, und lange Zeit befürchtete man, irgendeine geheimnisvolle Krankheit hemme meine Muskulatur. Im Winter saß ich mit Wonne stundenlang auf einer Decke in der warmen Stube, spielte mit einer prallgefüllten Knopfkiste, die einen schier unerschöpflichen Vorrat an Knöpfen verschiedener Farben, Formen und Größen barg, legte bunte Gärten, Häuser und Städte, erträumte mir Freundinnen und Geschichten, die ich mit ihnen erlebte, und legte mir eine Welt zurecht, in der ich die tolldreistesten Abenteuer sitzend bestehen konnte. Im Sommer genügte mir für diese Aktivität ein schattiges Plätzchen im Hof, von dem aus ich meine imaginären Scharen dirigierte. Ich redete dabei mit verschiedenen Stimmen, und wer mich nicht sah, musste den Eindruck gewinnen, ich sei von Menschenmassen umgeben. Zwar hatte ich schon mit neun Monaten laufen gelernt, war aber nicht sehr oft in der Laune, diese Kunst auch anzuwenden. „Mit dem Kind stimmt etwas nicht!“, mutmaßte die Verwandtschaft so lange, bis meine Mutter mich zum Arzt schleppte und sich attestieren ließ, dass mit mir sehr wohl alles stimme, bis auf eine im zweiten Lebensjahr entwickelte Faulheit der unteren Extremitäten. Überaus aktiv dagegen seien meine Phantasie und mein Mundwerk!

      Von nun an wurde ich aus gesundheitlichen Gründen (das Kind braucht frische Luft und Bewegung!) regelmäßig ins Freie geschickt. Im Winter musste ich mich mit einem Schlitten bewaffnet auf den Weg zum Hügel am Sportplatz machen, der zwar um die Ecke in Sichtweite des Hauses lag, mir aber meilenweit entfernt schien, so dass ich, wenn ich dann endlich am unteren Ende der sanft ansteigenden Rodelbahn angelangt war, mit nassen Füßen und frierend schon die Lust am Aufstieg verloren hatte, geschweige denn, irgendwelche Begierden verspürt hätte, den schwindelerregenden Höhenunterschied von zwei Metern auf dem Schlitten in die Tiefe rasend zu überwinden, wobei außerdem noch die Gefahr bestand, von wilden Zehnjährigen mutwillig gerammt zu werden, mein Gefährt zu verlieren und auf dem Hosenboden durch die weiße, feuchte Pracht schliddern zu müssen. Nein, das war nicht mein Fall, und mir fehlte jegliches Verständnis für die johlende und vor Freude kreischende Meute, die in immer schnelleren Manövern den Hügel bezwang. Ich zog den feigen Rückzug vor und verschwand mit meinem Schlitten im Schuppen hinter dem Haus, wo ich mit meinen imaginären Freundinnen in eine Decke gehüllt die Kaninchen bekämpfen und die Katze zum Tiger machen konnte.

      Lieber von der sicheren Brücke aus sah ich auch den Schlittschuhläufern zu, die über den zugefrorenen Bach glitten, die Beine streckten oder hockend dahinsausten, sich verrenkten, übereinander purzelten und gegen die Böschung krachten, sich aber nie zu verletzen schienen, sondern lachend wieder aufstanden, während ich dort oben aus sicherer Entfernung bei ihrem bloßen Anblick Todesqualen erlitt. Im Sommer, wenn der Bach sich zum reißenden Strom von zwanzig Zentimetern Untiefe verwandelt hatte und alle anderen sich jauchzend mit dem kühlenden Nass bespritzten, zog ich es vor, am Ufer in Blätter gehülltes Schlammeis gegen Steine als Währung zu verkaufen, die ich sehr genau abzurechnen wusste. Wasser war eben nicht mein Element, weder in gefrorenen noch in flüssigem Zustand!

      Die sportlichen Aktivitäten in der Grundschule waren erträglich, denn in Ermangelung einer Turnhalle konnten sie nur im Sommer bei gutem Wetter stattfinden und beschränkten sich auf Grund des schmalen Etats der Dorfschule, in dem Turngeräte und andere Folterwerkzeuge nicht vorgesehen waren, auf Kreisspiele und den einen oder anderen Reigentanz. Damit ließ es sich recht gut leben, weshalb in den Zeugnissen dieser Jahre hinter dem Fach „Leibesübungen“ auch noch ein moderates Befriedigend glänzte.

      Schlimmer wurde es dann im Gymnasium. Die „Leibesübungen“ waren offiziell dem „Sport“ gewichen, es gab die Folterkammer Turnhalle und eine Sportlehrerin, die sich laufend neue Torturen für uns ausdachte. Es begann schon damit, dass man sich in Sportkleidung werfen musste, an sich schon lästig genug, aber es handelte sich auch noch um extravagante Pumphosen in Schwarz, die Beine mit Gummizug abgeschlossen, und ebenso extravagante weiße Pullis, deren Ärmel den Oberarm halb bedecken mussten. Anschließend hieß es, sich der Größe nach aufzustellen, und während der gesamten Leidenszeit kam ich über den vierten Platz in der Reihe nicht hinaus. Das wäre ja gerade noch angegangen, wenn dann nicht noch schwereres Geschütz aufgefahren worden wäre: Kästen, die zu überspringen waren, an denen meine Knie aber regelmäßig hängen blieben, Barren, über die man elegant schwingen sollte, für mich und meine drei Vorgängerinnen in der Reihe zu hoch waren, so dass unsere Kniekehlen sich darin verfingen und wir wie kranke Fledermäuse hin und her pendelten. Die Böcke waren bockig genug, sich uns in den Weg zu stellen, Flugrollen endeten unsanft ohne Flug auf dem Genick, der Schwebebalken in schwindelnder Höhe von dreißig Zentimetern über dem Erdboden glich einem Hochseil, das meinem Gleichgewichtssinn sehr abträglich war, und das Reck habe ich vorsichtshalber erst gar nicht berührt. Kiloschwere Medizinbälle bedrohten mein Leben, wenn sie in rasender Geschwindigkeit auf mich zurollten, den prallen Bällen beim Völkerballspiel entging ich nur, indem ich mich hinter den Kameradinnen versteckte, da ich sie weder fangen, noch ihnen schnell genug hätte ausweichen können. Überhaupt erschien es