Kristina Schwartz

Joe & Johanna


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mädchenhafte Gestalt vor sich gesehen hatte – Sandra.

      Was eine eventuelle Übersiedlung aufs Land und alle damit verbundenen Konsequenzen betraf, wollte sie sich noch nicht festlegen. Vielleicht sollte sie noch ein paar Mal darüber masturbieren, ehe sie eine Entscheidung traf. Bei diesem Gedanken trat ihre nächste Patientin in die Ordination.

      Eigentlich sollte die Grippezeit Anfang April schon vorüber sein. Trotzdem trudelten tagtäglich Frauen, Männer und Halbwüchsige bei ihr ein, die die klassischen Symptome zeigten. Joes Gefühl nach steckte ein MP3-Player in ihrer Kehle und spielte ständig die gleichen Sätze ab: Ich gebe Ihnen dieses pflanzliche Mittel für ihre Stirnhöhlen. Das müssen Sie aber selber zahlen, das zahlt die Kasse nicht. Für die Nase nehmen Sie am besten diesen Spray. Der macht sie frei, die Nase. Damit Sie nicht durch den Mund atmen müssen. Sonst stehen Sie nächste Woche gleich wieder mit einer Halsentzündung, einer Bronchitis oder noch etwas Schlimmerem da. – Was wäre denn schlimmer? – Das werden Sie dann schon sehen. Machen Sie sich eine Hühnerbrühe. Trinken Sie warmen Tee. Legen Sie sich ins Bett und wenn Sie das Gefühl haben, es zerreißt Ihnen gleich den Schädel, dann stellen Sie einfach den Fernseher ab. Alles klar!? Dann wünsche ich Ihnen gute Besserung. Der Nächste bitte!

      Am Abend dieses Freitags schmerzte Joes Kopf, dass sie das Gefühl hatte, es könnte ihn jeden Augenblick zerreißen. Sie nahm ein Bio-Hanfbier aus dem Kühlschrank und leerte in einem Zug die halbe Flasche. Das half ihr dabei wieder runterzukommen, sich zu entspannen und ihre Patienten dort zu belassen, wo sie hingehörten, jenseits dieser Mauer, die das Privatleben vom Beruflichen trennte. Mit jedem Schluck wuchs die Mauer um ein paar Ziegelreihen. Der Dämon in ihrem Schädel wurde sanfter, bis sie, bei leerem Glas sitzend, dachte, ihn vollständig vertrieben zu haben. Müde fiel sie auf ihre Matratze.

      Am nächsten Morgen erwachte sie bereits in aller Herrgottsfrühe. Voll Tatendrang sprang sie aus dem Bett, bereitete sich ein üppiges Frühstück aus Schinken, Eiern, Müsli, vier Scheiben Vollkornbrot und Kaffee. Eine Stunde später überquerte sie in ihrem Smart die Landesgrenze von Wien nach Niederösterreich. Als sie fünfzig Minuten später bei der Mühle ankam, sah alles so aus, wie eine Woche zuvor. Nur die letzten, spärlich verteilten Schneereste waren mittlerweile auch noch verschwunden.

      Erst einmal wollte sie dem Holzofen etwas Wärme entlocken. Nachdem sie unter das Holz feinere Späne geschlichtet hatte, zerknüllte sie die Doppelseiten einer alten Kronenzeitung und drapierte diese um ihren liebevoll errichteten Scheiterhaufen, ehe sie ihn ansteckte. Anfangs brannte nur das Papier, dann qualmte es. Joe begann in ihrem Kopf schon eine möglichst logische Erklärung für die Feuerwehr zusammenzuzimmern, warum es keine Brandstiftung gewesen sein konnte. Denn so wie sie sich ihre Nachbarn vorstellte, würden diese sofort die Männer vom Löschtrupp alarmieren, sobald sie bemerkten, dass die Großstadttussi mit offenem Feuer hantierte. Doch nichts geschah. Das Holz gloste, der Rauch verzog sich und kurze Zeit später begann sich die Vorstufe zur Behaglichkeit zwischen den alten Mauern auszubreiten. Der Ofen knackte und ein Duft nach Weihnachten kroch ihr in die Nase. Zuerst nahm sie sich die Küche vor und durchsuchte sie nach Gerätschaften und Geschirr, das sie noch nutzen oder wegen eines gewissen nostalgischen Werts aufzuheben gedachte. Sie fand eine Kaffeemühle, die Urgroßmutter einer digitalen Küchenwaage mit dazupassenden Gewichten, sowie die rudimentären Überreste eines Meißner Porzellan Services, das ursprünglich einmal für sechs Personen vorhanden gewesen war. In der Wohnecke fand sie nichts, das sie auch nur einigermaßen ansprach. Der Fernseher war alt, das Sofa verschlissen, die Bilder kitschig. Einzig und allein das Büchlein aus dem Jahre 1953, in dem Johanna handschriftlich ihre persönlichen Ausgaben verzeichnet hatte, wollte sie behalten. Plötzlich spürte sie, wie sie umfangen wurde von einer schleichenden Kälte. Richtig, die mittelalterliche Zentralheizung wollte ja regelmäßig mit Holz gefüttert werden. Das Feuer war schon weit heruntergebrannt und Joe legte ein paar Scheite nach. Dann ging sie nach oben, um auch das Schlafzimmer einer gründlichen Inventur zu unterziehen. Alte Pullover, ihrer fachmännischen Meinung nach selbst gestrickt, lagen penibel gestapelt im Kasten neben neu aussehenden Blusen mit Löchern, die vermutlich vom letzten Mottenbankett herrührten; daneben weiße Unterhosen und originalverpackte Strumpfhosen in Altweiberanthrazit. Joe hasste diese Farbe, war es überhaupt eine? Dieses hässliche Anthrazit, irgendwo zwischen Schlamm und Grau. Wie abstoßend. Sie spürte, wie ihre Zehennägel sich aufrollten. Ganz hinten im obersten Fach des Kleiderschranks fand Joe einen Schuhkarton, dessen Etikett behauptete, bei dem Inhalt handle es sich um hochhackige Pumps der Größe neununddreißig. Vermutlich hatte ihre Großmutter die Schachtel in einer stuntmanähnlichen Aktion, herumturnend auf einem Sessel oder einer zweistufigen Treppe, sich mit einer Hand festhaltend, mit der anderen den Karton balancierend, an diesem schwer zugänglichen Ort deponiert. Oder befand sie sich schon seit längerer Zeit an diesem Platz? Seit einer Zeit, als Johanna noch jung und gelenkig gewesen war und es ihr weder Mühe bereitete, noch eine Herausforderung für ihren Gleichgewichtssinn darstellte, zwischen den verschiedenen Etagen ihres Kastens herumzuturnen. Joe rückte den neben dem Bett stehenden Sessel heran und versuchte auf Zehenspitzen den Karton zu fassen zu bekommen. Langsam, um zu verhindern, dass der Fang, den sie gerade gemacht hatte, wieder von ihrer Angel hüpfte und neuerlich in den Tiefen des Schranks verschwand, zog sie ihn zu sich heran.

      Joe konnte es fühlen, das Adrenalin, wie es durch ihre Venen pumpte. Sie war gespannt darauf, wie sie wohl aussahen, diese Pumps mit den hohen Absätzen, in denen ihre Großmutter irgendwann einmal herumgestöckelt war. Oma Johanna und High Heels? Das war, selbst wenn die Schuhe damals noch nicht diese wohlklingende Bezeichnung trugen, ein Widerspruch in sich. Hier auf dem Lande noch dazu. Wann hätte sie wohl einen Anlass gehabt, diese Schuhe zu tragen? Am Kirtag?

      Joe setze sich, den Karton auf ihrem Schoß, und öffnete vorsichtig den zerknautschten Deckel.

      Groß war die Enttäuschung, als sie statt jener, an den Füßen zu tragenden Folterwerkzeuge, die ein vergrämter Schuhmacher irgendwann einmal ersonnen haben musste, um sich an seiner ihn nervenden weiblichen Klientel zu rächen, nichts weiter fand als Bücher.

      Bücher? Joe schlug das oberste auf. Dem Anschein nach ein Tagebuch. Elegant floss die Frauenhandschrift königsblau über Papier von der Farbe gesprenkelter Eierschalen. Aufzeichnungen aus dem Jahre 1956. Vollgeschrieben von der ersten bis zur letzten Seite. Darunter lagen noch drei weitere Bücher gleichen Aussehens. Möglicherweise fanden sich darin ja Indizien, um …

      Der Vater von Joes Mutter war, so schien es jedenfalls, mit einem Mal aus der Versenkung aufgetaucht, hatte Oma Johanna geschwängert und war sofort wieder in selbiger verschwunden, noch ehe der Standesbeamte dessen Namen in die Geburtsurkunde des Mädchens eintragen konnte. Großmutter hatte um die Identität dieses Mannes immer ein größeres Geheimnis gemacht als um das legendäre Rezept ihrer Ribiselschnitte. Selbst wenn sie einen über den Durst getrunken hatte, was bei ihr, nach Joes Wissen, ungefähr einem halben Glas Wein entsprach, ließ sie sich nicht hinreißen, Details über seine Person auszuplaudern.

      Was Joe aber am Boden des Kartons fand, ließ ihre Hand mitten in der Bewegung erstarren.

      Kapitel 2

      Sie atmete viel zu schnell, ihr Puls raste und zittrige Hände suchten nach dem winzigen Fläschchen in ihrer Handtasche. Fünf Tropfen davon auf die Zunge. Joe hatte sie noch gar nicht richtig geschluckt, als sie schon meinte eine sedative Wirkung zu verspüren. Die von ihr geschaffene Welt aus wohlwollenden Erinnerungen und sepiafarbenen Vorurteilen über die gute alte Zeit war gerade im Begriff einzustürzen. Die Entdeckung, die sie eben gemacht hatte – Joe, warum musst du auch überall deine Nase hineinstecken, warum nur? – war für sie ebenso niederschmetternd, als hätte eine gläubige Katholikin herausgefunden, dass der Erzbischof von Wien eine Affäre mit seinem Frisör hatte. Enttäuscht darüber, so gar nichts über ihre Großmutter gewusst zu haben, ließ sie die Luft aus den Lungen strömen. Dabei war sie überzeugt gewesen, zu ihr ein innigeres Verhältnis als zu ihrer Mutter gehabt zu haben. Sie warf alles wieder in den Schuhkarton zurück und setzte rasch den Deckel drauf. Wenn du es nicht siehst, Joe, ist es nicht da. Dann existiert es nicht. Und außerdem, um es ganz korrekt zu formulieren, es hat nie existiert. Gut gemacht, Joe!

      Als sie die Türe zu ihrer Wohnung aufschloss, fragte sie