Wilhelm Thöring

Raju und Barbara


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und seit längerer Zeit steht ihm mit Veena eine umsichtige und couragierte, eine tüchtige und bewährte medizinisch-technische Assistentin zur Seite. Diese Frau ist verlässlich und hat in vielem Erfahrung sammeln können, so dass Rahul ihr nicht nur für Stunden, sondern auch für einen Tag die Praxis überlässt. Wenn er nicht bei den Eltern sitzt, dann trifft er sich mit Freunden, um mit ihnen zu trinken; und gelegentlich, wenn er ausreichend Geld hat, besucht er einen Salon, in dem schöne, gebildete Damen musizieren, die die Kundschaft mit Gesang, mit Getränken und anderen Lustbarkeiten unterhalten. Es kommt vor, dass er sich in solchen Etablissements eine ganze Nacht hindurch ergötzen kann und erst im Morgengrauen nach Hause kommt. Danach ist er den Tag über nicht anzusprechen, er sieht nicht einmal nach, wie es in der Praxis steht, da wirkt Veena, die fähige Assistentin, die ihn in unbedeutenden Dingen vertritt und die Patienten auf den nächsten Tag vertröstet. Savita, seiner schönen, seiner müßigen Frau kam zu Ohren, wo ihr Mann manche Nacht verbrachte und großzügig sein Geld ausgab, doch sie schwieg dazu und ließ ihn gewähren.

      Wenn Barbara nach Besuchen bei den Schwiegereltern mit Raju von dem sprach, was sie dort erfahren und er ihr erzählt hatte und wie sie sich selbst, in ferner Zukunft, ihr Leben vorstellte, lachte Raju nur:

      „In Deutschland leben wir gut! Hier ist das Leben nicht eng und eingeschnürt wie in den indischen Familien. Glaube mir, ich bin nur von der Hautfarbe her ein Inder. Hier drinnen, in meiner Brust, da bin ich ein überzeugter Deutscher. – Und sollten wir trotzdem einmal nach Indien ziehen, dann, Bärbel, dann muss es sehr weit weg von Kolkata sein. In indischen Familien lebt es sich anders als in Europa. Eine indische Frau hat alle indischen Männer der Sippe über sich, dazu die Schwiegermutter und die älteren Schwägerinnen!“

      Das schrecke sie nicht, hat Barbara ihm geantwortet. Sie sei überzeugt, dass man von ihr, einer Frau aus dem Westen, keinen Gehorsam, keine Unterwerfung erwarte. Außerdem wisse sie sich zu wehren und sie rechne mit seinem Beistand, hatte sie hinzugefügt. Wenn Raju sich eindeutig und unmissverständlich an ihre Seite stelle, dann habe sie weder seinen Vater, noch seinen Bruder oder seine Mutter zu fürchten. Im Übrigen kämen seine Eltern ihr überaus freundlich entgegen, wenn sie in Kolkata sind, hatte sie gemeint.

      Ja, das mag so sein, wie sie sage. Aber er verlasse Deutschland nur ungern, hatte Raju ihr darauf geantwortet. An alles hätte er sich in den vielen Jahren, die er hier lebe und arbeite, gewöhnt, sogar an das unfreundliche Wetter und an die vielen mürrischen Gesichter in den vollgestopften Straßen. Er lebe gerne hier und würde bis an sein Ende in diesem Land bleiben; einen besseren Ort könne er sich nicht vorstellen, schon gar nicht in Indien. Doch wenn es einmal so weit ist, dann könne die ganze Sache neu überlegt werden. Egal, wie die Entscheidung ausfallen werde – „Bärbel, ich denke, es wird ein Schritt in die richtige Richtung sein!“

      Vor zwei Jahren ist diese Entscheidung gefallen, als für Barbara nur noch eine Zeit von gut eineinhalb Jahren bis zum Ruhestand blieb. Sie haben errechnet, dass sie von dem Altersgeld, das sie beziehen wird, beinahe fürstlich in Indien leben können. Raju erhoffte sich noch kleine Nebenverdienste in einem Ingenieurbüro, von denen es nicht wenige in Kolkata geben soll, wie er sagte. Und so sind sie in diese Stadt gereist und haben sich nach einem geeigneten Grundstück umgesehen. Rajus Vater, der alte Doktor Sharma, der um Hilfe gebeten worden war, hat Verwandte und Freunde eingeweiht und einige Objekte ausfindig machen können; und es hat nicht lange gedauert, bis sie auf dieses Grundstück gestoßen sind und sich dafür entschieden haben. Barbara ist daraufhin allein nach Deutschland zurückgeflogen, während Raju in Kolkata geblieben ist und mit dem Bau dieses Hauses begonnen hat.

      Ihr Haus, das sie sich seit heute einrichten und in dem sie auf den Schlaf wartet – es ist geradezu ein Palast zu nennen, weit draußen am Rande Kolkatas, in einer abgelegenen, wenig besiedelten Gegend, umgeben von alten Bäumen, in die sich manchmal neben absonderlichen Vögeln sogar Rhesusaffen verirren. Dieses Haus ist nicht vergleichbar mit dem schlichten Reihenhaus in der alten Heimat, der sie den Rücken gekehrt haben, weil sie an eine gute und glücklichere Zukunft für sich und für Raju in diesem Land glaubt.

      Mit Raju ist sie übereingekommen, nach etwa einem Vierteljahr, wenn alles an seinem Platz steht und das Haus nach ihren Vorstellungen eingerichtet ist, seine alten Eltern, die in einer engen, herabgekommen Wohnung weit unten im südlichen Bezirk hausen, zu sich zu holen. Für die Alten haben sie in der ersten Etage zwei Zimmer vorgesehen, dazu ein eigenes Bad und eine von den indischen Toiletten, an die sie gewöhnt sind. Hier unten, am Rande Kolkatas hat der alte Doktor Sharma einmal viel Land und ein Haus im englischen Stil besessen, bis Raju nach Deutschland gegangen ist. Von dem Moment an betrachtete Rajus älterer Bruder sich als alleiniger Erbe. Rahul beschaffte den Eltern in der Stadt eine enge und dunkle Wohnung, damit er sie besser erreichen könne – wie er sagte – eine Wohnung, die von der alten Mutter nicht mehr sauber gehalten werden konnte und bald vor Schmutz und Ungeziefer strotzte. Rahul verkaufte Land und Haus, verkaufte auch seine Praxis an einen Kollegen und fuhr für Monate nach Nordindien in die Berge, wo er und seine schöne, müßige Frau ein luxuriöses Leben führten. Erst als seine Barschaft zusammenschmolz, als seine Frau nicht mehr wusste, wie ein Hausstand zu führen ist, ließ Rahul sich wieder bei den Eltern blicken, ließ sich von ihnen durchfüttern und beklagte, dass ihm die gut gehende Praxis abgeluchst worden wäre und er fürchte, in einigen Jahren mittellos zu sein.

      Und eines Tages waren Rahul und Savita wieder verschwunden, und niemand wusste, wohin. War Savita mit ihm gegangen? Hatte er sich von ihr getrennt und sie zu ihren Eltern zurückgeschickt? Sind sie in einen Ashram gezogen? Ja, lebten sie überhaupt noch? Solche Gedanken beunruhigten die alte Frau Sharma sogar in den Träumen. Nur Doktor Sharma wollte an so etwas nicht glauben. Rahul wäre ein gescheiter Mann, sagte er. Der hätte nie etwas Unüberlegtes getan. Der wird ins Ausland gegangen sein, wie er es bei seinem jüngeren Bruder gesehen hat. Als Arzt, das wüsste er, könne man auch in Amerika oder Europa Karriere machen. Geld besäße Rahul genug – Ja, die alte Mutter seufzte, das wollte sie auch glauben.

      Unter dem Fenster schnüffelt ein Tier, und als Barbara das hört, fängt sie mit einem Schlage an zu frieren, als wäre sie mit eisigem Wasser übergossen worden. Nein, müde ist sie noch immer nicht, aber sie braucht Wärme, braucht Rajus immer glühenden Körper neben sich. Leise schließt sie das Fenster, und sofort hört das Tier mit seinem Schnüffeln auf. Barfuß steigt sie die Treppe nach oben, immer eine Stufe auslassend.

      So, wie Raju sich am Abend ins Bett gelegt hat, so liegt er noch. Er bewegt sich nicht einmal, als sie sich, zitternd und durchgefroren, an ihn schmiegt. Lange wird sie nicht mehr schlafen können, weil in aller Frühe Ninu kommt. Sie kann die Räume, in denen die Möbel schon an ihrem Ort stehen, reinigen. Später soll sie Gläser und Geschirr, Besteck und die Töpfe spülen, denkt Barbara, so dass ich alles an seinen Platz räumen kann. Damit hat Ninu erst einmal genug zu tun.

      Langsam durchzieht Rajus Wärme auch ihren Körper. Ein wohliges Gefühl überfällt sie, und es dauert nicht lange, da ist Barbara müde geworden. Im Halbschlaf glaubt sie Geräusche auf der Fensterbank draußen zu hören. Doch jetzt, da sie sich an Rajus Körper schmiegen kann und ihren Hausstand um sich hat, hat sie keine Angst. Ihr ist, als würde alles,

      was sie nach Indien mitgebracht hat, Sie wie eine Schutzmauer umgeben. Aber das wirklich Beruhigende, das ist Raju, denkt sie.

      2

      „Raju, du musst der Ninu erklären, was sie tun soll!“

      Barbara steckt sich die Haare fest, die sie nervös machen, weil sie ihr immerzu ins Gesicht fallen. Sich mit beiden Armen auf die Tischplatte stützend, lacht Ninu sie an und bewegt die Lippen, als könnte sie nicht sagen, was sie loswerden möchte.

      „Was soll sie denn tun“, fragt Raju vom oberen Treppenabsatz, wo er in ihrem eigenen Bad Spiegel und Konsolen anbringt. Die Bohrmaschine noch in der Hand, voll weißen Staubs, kommt er herunter, setzt sich auf die vorletzte Stufe und schüttelt den Kopf über Barbaras festgeklemmte Haare.

      „Du siehst fremd aus“, sagt er. „Die Frisur steht dir nicht!“

      „Sie soll zuerst die Gläser spülen, danach das Geschirr, zuletzt Besteck, Töpfe, die Pfannen ...“

      Raju