Wilhelm Thöring

Raju und Barbara


Скачать книгу

und drückt seine Lippen auf ihre Stirn.

      „Morgen musst du mit mir in die Stadt fahren, Bärbel. Ich kann mich ohne dich nicht entscheiden.“

      „Wozu musst du dich entscheiden?“

      Er legt ihr einen Finger auf den Mund. „Nicht fragen, sich einfach überraschen lassen ...“

      Raju fällt in einen Sessel, in dem er es aber nicht aushält. Unruhig und voller Spannung läuft er die Terrasse in ihrer ganzen Größe ab, dass der Hund vor ihm in den Garten flüchtet. Er nimmt das Gartenbuch, schlägt es aber nicht auf; er besieht abwesend die zum Kreis eines Jahres angeordneten Blumen auf dem Deckel, dann legt er es gleich wieder auf den Tisch.

      „Wenn du so etwas liest, Bärbel, dann hast du auch etwas vor“, sagt er nach einer Weile. „Willst du hier in Indien den Landschaftsgärtner spielen?“

      Was sie ihm darauf antwortet, hört er nicht. Raju muss sich bewegen, er muss laufen, als müsse er sich von irgendeinem Druck befreien.

      Barbara ist in der Küche, sie kocht Tee; jetzt ist Raju in den Garten gegangen, und der Hund winselt vor der Tür, weil er sich vor dem unruhigen Mann ängstigt. Sie wird nicht weiter in ihn dringen – sie kennt ihn und hat es gelernt, zu warten. Morgen wird er ihr offenbaren, welches Geheimnis ihn so sehr in Unruhe versetzt hat.

      Vor dem Dunkelwerden hat Raju am nächsten Tag eine Taxe kommen lassen, die beide ins Zentrum fahren musste, direkt vor das Haus eines Autohändlers. Dass das Geheimnis ein Auto sein wird, das hat sie vermutet. Denn ohne Wagen ist das Zentrum Kolkatas von ihrem Wohnort so weit entfernt, wie Indien von Deutschland, oder der Mond von der Erde, hat er einmal geäußert. Ohne Auto würde das Leben für sie sehr, sehr schwierig sein.

      Unterwürfig, die Hände an der Hose abreibend, läuft ein Verkäufer herbei, der sich vor Barbara verneigt und Raju wie einen Bekannten begrüßt. Zielsicher geht Raju auf einen japanischen Geländewagen zu. Raju lehnt sich dagegen und sagt, fast ein wenig enttäuscht:

      „Bärbel, du sagst gar nichts dazu!“

      „Ich habe geahnt, was du im Schilde führst.“

      „Ach ja, deine scharfen, sensiblen Sinne ... Wie findest du den Wagen? Im Preis ist er äußerst günstig, denn das ist ein Vorführwagen. Bärbel ...“

      „Raju, ist er nicht ein bisschen groß? Wir sind nur zwei Personen ...“

      „Noch sind wir zu zweit. Aber wenn die Eltern bei uns wohnen – wir werden sie doch auf die eine oder andere Tour mitnehmen. Und dann sind da noch die beiden Hunde.“

      Als sie in der Taxe nach Hause fahren, ist Barbara sehr still. Mit dem Autokauf war sie sofort einverstanden; aber es reißt ein großes Loch in das, was ihnen von ihrem Ersparten geblieben ist; wiederum hat Raju recht: Ohne Wagen geht es hier nicht.

      Raju, der vorne neben dem Fahrer sitzt, dreht sich besorgt nach ihr um. „Was bedrückt dich, Bärbel?“

      „Der Verkehr. An solches Gewühl bist du nicht gewöhnt, Raju. Ich werde immer in Sorge sein, wenn du mit dem Wagen in die Stadt fährst. Diese Gelassenheit“, sie nickt zum Fahrer hin, „die hast du wohl nie besessen. Und wenn – dann hast du sie in Europa verloren.“

      Raju lacht. „Auch das wird sich lösen lassen.“

      3

      Raju hat das Fahren mit dem Auto auf seine, auf Art eines reichen Inders gelöst – er hat einen Chauffeur angeworben: Kali, einen Mann von etwa dreißig Jahren, dessen Sippe aus Südindien stammen muss, denn er ist viel dunkler als die meisten Inder, denen Barbara bisher begegnet ist; Kali ist beinahe schwarz wie ein Afrikaner. Er wirkt ruhig und immer etwas langsam, wenn er sich bewegt; doch hinter dem Steuer zeigt er Courage, und er fährt ebenso schneidig wie die meisten Taxifahrer, die sich vor nichts zu fürchten scheinen. Auch er kann das Hupen an den roten Ampeln nicht lassen, denn hier hupen alle. Und im dichten, bedrohlichen Verkehr kurbelt er das Seitenfenster herunter und streckt seinen Arm nach draußen, um andere Autofahrer auf Abstand zu halten. Wenn Raju sich beunruhigt oder erschreckt zeigt, dann wird er mit einem leisen, doch strengen: „Sir!“ an die Kontenance gemahnt, die ein Mann seines Standes zu wahren hat. Dieses ‚Sir’ ist wohl das einzige englische Wort, das Kali kennt. Das wenige, das er zu sagen oder zu fragen hat, das sagt er auf Bengali. Bei einer Fahrt aufs Land erzählt er Raju, dass er vorher Chauffeur für die Frau eines steinreichen Juwelenhändlers gewesen wäre. Viele Jahre hätte die Lady ihren Wagen allein gefahren, ein großes und luxuriöses amerikanisches Modell wäre das gewesen. Eines Tages, die Lady fuhr gegen die tiefstehende Sonne, sei es zu einem Unfall gekommen: Etwas flotter als erlaubt, hätte sie vor einer Kreuzung einen Ochsenkarren überholt. Auf der Kreuzung stand ein Polizist, der den Verkehr regelte, den die Lady nicht gesehen haben will. Sie hätte warten müssen. Um nicht in den Querverkehr zu fahren und den Polizisten zu gefährden, wäre es zu einer Vollbremsung gekommen. Ihr Wagen hätte sich quer gestellt, und in die Fahrerseite habe sich die lange Deichsel des Ochsengespanns gebohrt und die Lady verletzt. Als sie sich wieder auf die Straße und in ein Auto wagte, habe der Juwelier ihn zum Fahren seiner Frau angeworben. Ja, und vor einiger Zeit wäre die Lady gestorben, vielleicht an den Folgen des Unfalls – Kali weiß es nicht.

      Mit dieser Begebenheit hat Kali so viel erzählt, dass es für die nächsten Wochen reichen musste.

      Wenn Barbara ihr Grundstück verlässt, und das kommt selten vor, dann ist Raju an ihrer Seite. Eine weiße Frau geht nicht ohne ihren Mann aus, sagte er gleich in den ersten Tagen, als sie in Indien angekommen war. Sie hält das für Angst oder Eifersucht und bleibt hinter der weißen Mauer, denn bis jetzt verspürte sie kein Verlangen, allein durch das öde Land zu spazieren. Zudem kommen ihr manche Männer unheimlich vor, so dass sie sich vor ihnen fürchten würde, wenn sie ihnen an einem entlegenen Ort begegnen würde. Aber jetzt, da sie den Wagen und Kali haben, fahren sie alle paar Tage in die Stadt hinein, um einzukaufen, zu bummeln, in einen Restaurant zu sitzen, dem Treiben auf der Straße zuzusehen und es sich gut gehen zu lassen. Hin und wieder sind sie auch zum niederländischen Hundezüchter gefahren, um ihren Hund zu begutachten, um zu sehen, wie er heranwächst und sich zwischen seinen quirligen Geschwistern behauptet. Und vorgestern war es so weit, dass sie ihren Hund abholen konnten. Während der Heimfahrt musste Kali doch hin und wieder an seine Aufgabe erinnert werden: Er hatte die Augen mehr hinten beim Hund, den Barbara auf dem Schoß hielt, als beim Verkehr. Verwundert zeigte er sich auch darüber, dass der Hund ins Haus, dass er frei herumlaufen und sich in einen Sessel oder auf die Couch legen durfte. Hunde würden mit einem Strick an einen Baum oder an den Türpfosten gebunden, sagte er zu Raju, dieser jedoch lebe im Haus wie ein Kind.

      Raju lachte darüber, aber er fand auch, dass Barbara mit beiden Tieren beinahe wie mit kleinen Kindern umging; dem kleinen Schnauzer gab sie den Namen Brombeere.

      „Ich finde, er sieht aus wie eine überreife Brombeere“, sagte sie. „So schwarz und hier und da mit steifen Borsten...“

      Und damit hatte sie auch gleich einen Namen für den verletzten, zugelaufenen Hund: er wurde Himbeere gerufen. Brombeere will sie zu einem Schutzhund abrichten, erklärt sie Raju, damit sie, wenn sie einmal das Grundstück verlassen muss, um beim Fisch- oder Gemüsehändler einzukaufen, an verlassenen und stillen Stellen dahin sicher sein kann.

      Ob sie denn hier draußen mit einem Hund gehen wolle?

      Ja, denn auch dafür hätten sie ihn. Er soll das Grundstück bewachen und er soll sie beschützen.

      In den ersten Tagen, da Brombeere im Hause war, musste er in den Garten, wenn Ninu kam, und die Türen wurden zugesperrt. Sie fürchtete sich vor ihm und kreischte, wenn er an ihr hochsprang; sie ist sogar auf einen Stuhl geflüchtet und wäre auf den Tisch gestiegen, wenn Barbara nicht dazugekommen wäre.

      An ihren Bruder in Deutschland hat Barbara eine Liste geschickt, welche Blumen sie gerne in ihrem Garten hätte, und er schrieb zurück, dass er alles, was sich auf eine so weite und lange Reise schicken ließe, besorgen, würde.

      Raju meinte, da Bärbel jetzt im Ruhestand lebe, sollte es auch in jeder Form ein Ruhestand sein: Keine schwere,