– konnte sie bis jetzt jedenfalls nicht jammern, egal, wie sehr die Suttner sich über dieses Thema beklagte. Aber noch waren die alle ja auch nicht volljährig, also mussten ihre Eltern sie entschuldigen…
Doro packte ein, was sie für den Kurs brauchte, und stapelte alle anderen Mappen und Bücher säuberlich an ihrem Platz auf. Viel Bewegungsfreiheit hatte man hier nicht, dieses Lehrerzimmer war für etwa sechzig Kollegen gedacht und damit gut um 50 % überbelegt. Etwa in der Größe eines DIN A 3 – Blatts durfte man sich ausbreiten. Wie zwei Käfighennen, dachte Doro, während sie ihre Tasche kontrollierte. Ja, alles drin.
Zufrieden kam sie nach der Doppelstunde zurück: Interessante Diskussionen über den Streit der beiden Königinnen, über das Verhältnis der Dramenfigur zur realen Mary Stuart, über das Konzept der schönen Seele und ihr Verhältnis zu den Ideen der Aufklärung. Guter Kurs. In der Zehnten mussten die – zum Teil wenigstens – einen exzellenten Unterricht genossen haben.
Sie setzte sich wieder, um erneut umzupacken, denn in der fünften Stunde stand die Neunte in Deutsch auf dem Programm – Geheimnisse effektvollen Argumentierens, Rückgabe einiger Übungsaufsätze (die nur mäßig gelungen waren).
Danach aß sie den einen von zwei Äpfeln, die sie für heute eingepackt hatte, und sah sich müßig um. Ziemlich viel Betrieb im Lehrerzimmer für die vierte Stunde. Waren irgendwelche Klassen nicht im Haus?
Hilde Suttner heftete etwas ans Informationsbrett für die Oberstufe. Doro betrachtete ihren Rücken in dem rehfarbenen Tweedblazer. Schickes Teil. Und die schmale braune Stoffhose passte genauso gut dazu wie die darunter gerade noch erkennbaren rehbraunen Stiefeletten.
Die Suttner war immer sehr gut gestylt. Die Wintrich auch, fiel Doro ein. Und die Herzberger. Ob die drei zusammen shoppen gingen? Alle drei groß, schlank, elegant und immer so – naja, so englisch gekleidet?
Sie sah etwas mutlos an sich herab: Jeans, wenn auch ordentliche, irgendwelche Loafers. Passten braune Schuhe eigentlich zu dunkelblauen Jeans? Hätte sie nicht doch besser die schwarzen…?
Und das weiß-blau karierte Flanellhemd – war das zu lässig? Hätte sie es vielleicht etwas sorgfältiger bügeln sollen?
Sie sah sich um. Die anderen trugen alles Mögliche, meist Jeans und Blusen/Hemden/Sweatshirts. Manche sahen wirklich ganz schön ungepflegt aus…
Die Herzberger kramte in ihrem Fach. Die war auch nett. Und ebenfalls in schönen Klamotten, grauer Blazer und grau/schwarz/weinrot karierte Hose. Wenn sie sich mal umdrehen würde, könnte man auch sehen, ob sie eine passende dunkelrote Bluse dazu trägt, überlegte Doro.
An seinem Platz neben der Tür zur Teeküche saß der Ederer. Der sollte sich wirklich mal die Haare waschen - und sie sich nicht so klätschig in die Stirn kämmen! Sah aus wie ein Depp. Und der wild gemusterte Pulli war scheußlich. Glaubte er, sowas machte schlank?
„Frau Fiedler?“
Doro sah, aus ihren Styling-Betrachtungen gerissen, alarmiert hoch. „Ja? Oh, guten Morgen, Frau – Echterding, nicht?“
Die Fachbetreuerin für Geschichte und Sozialkunde grinste kurz. „Sehr gut! So fix war ich mit Namen seinerzeit nicht. Ich fürchte, in der Fachsitzung am Freitag werden Sie das Protokoll schreiben müssen. Schlimm?“
„Ach wo. Ich bin von den Seminarsitzungen her ja noch gut im Training. Kein Problem. Huch, was ist jetzt los?“
Am linken Eingang gab es Getümmel, Bücher fielen zu Boden und ein voller Leitzordner wurde ins Lehrerzimmer geschleudert. „Ich bring sie um!“, kreischte eine Stimme. Wer war das denn?
„Die Mendel, die blöde Nuss“, stellte Frau Echterding mit müder Stimme fest. „Was hat sie denn jetzt wieder? Hat es jemand gewagt, ihr Arbeit aufzutragen? Gott behüte gar eine Vertretungsstunde?“ Doro unterdrückte ein Kichern. „Ist die so krass drauf?“
„Noch schlimmer. Manchmal ist es schon tragisch, dass man Beamte nicht so einfach feuern kann. Kaum sind wir die Merz endlich los, rastet die Mendel aus. Dabei ist die seit Jahren schon hier, die müsste doch Routine haben?“
„Was hast du denn?“, fragte eine sanfte Stimme, die Doro in all dem Gewühl nicht richtig zuordnen konnte. „Die Wintrich hat meine Abrechnung nicht genehmigt!“
„Abrechnung? Warst du auf Studienfahrt oder was? Fortbildung?“
„Blödsinn, wozu denn! Nee, meine Büroartikel!“
„Die kann man einreichen? Das wusste ich ja gar nicht!“
„Kann man auch gar nicht“, warf die Echterding ein. „Es sei denn, man hat was für die Schule gekauft.“
„Was mischen Sie sich ein?“, fuhr die Mendel sie an. „Und Sie da, grinsen Sie nicht so dämlich!“ Doro versuchte vergeblich, ihr Gesicht in teilnahmsvolle Falten zu legen.
„Was hast du denn gekauft?“, wollte die sanfte Stimme wissen. Ach so, die Steinleitner. Gutmensch durch und durch, jedenfalls kam es Doro so vor. Und schrecklich bieder. Fast schon eine Karikatur.
„Na, Schreibblöcke. Und Stifte.“
„Für die Schule? Also, für die Materialvorräte?“
„Was? Wie käme ich dazu? Für mich natürlich!“
„Warum soll die Schule das dann bezahlen?“, wollte eine Männerstimme wissen. Wer war das jetzt wieder? So groß war die Schule auch wieder nicht, aber bis man hier mal das ganze Kollegium auf dem Schirm hatte…
Doro erspähte zwischen all den anderen Köpfen ein paar dunkle Löckchen. Ach so, dieser Spanischtyp. Putz oder Pütz oder wie auch immer.
„Sind Sie bescheuert oder was? Ich brauch den Krempel doch bloß für die Schule! Müsste ich nicht hier schuften, bräuchte ich doch keine Schreibwaren!“
„Also, wer hier bescheuert ist… Den Kram können Sie von der Steuer absetzen, aber mehr nicht. Wie kommen Sie bloß auf diese abwegige Idee?“
„Werden Sie nicht unverschämt, ja?“
„Sie haben mich zuerst als bescheuert bezeichnet!“
Ein Fauchen, Getümmel – und der Chef: „Was ist hier los? Herr Pütz, haben Sie sich verletzt?“
„Ich mich nicht. Frau Mendel hat mir ihre Krallen ins Gesicht geschlagen.“
Dr. Eisler seufzte. „Frau Mendel, was ist denn seit Neuestem mit Ihnen los? Sie waren doch bisher eine zuverlässige Kraft? Bitte kommen Sie mit.“
Sie folgte dem Chef laut murrend nach draußen.
Doro sah die Echterding ratlos an: „Hat die einen an der Waffel? Warum sollte die Schule ihren Krempel bezahlen? Ich dachte ja erst, vielleicht Burnout – aber das geht doch wohl weit darüber hinaus!“
„ Sie haben ganz Recht. In den letzten Wochen hat sie wirklich mit allen Krach angefangen – das muss tatsächlich ein ernsthaftes psychisches Problem sein. Sie streitet mit all ihren Klassen, mit dem Chef, mit dem Finanzamt…“
„Steuern zahlt sie also auch nicht?“
„Ich glaube, Sie wollte ihre Supermarktrechnungen absetzen, sie hat mal über so etwas Ähnliches schwadroniert.“
„Wäre bei solchem Realitätsverlust nicht langsam die Geschlossene anzuraten?“
„Zu ihrem eigenen Schutz, meinen Sie? Das halte ich für eine sehr gute Idee.“
Pütz, mit seidenweicher Stimme und perfide lächelnd. Der hatte ein niedliches Grübchen neben dem Mundwinkel. Und er wirkte irgendwie hinterfotzig. Denk nicht „irgendwie“, tadelte Doro sich selbst – einmal Deutschlehrer, immer Deutschlehrer. Auf der Wange hatte er eine ziemliche Schramme.
„Das sollten Sie vielleicht desinfizieren“, schlug sie ihm vor.
Pütz lachte. „Falls die Mendel tollwütig ist? Wäre natürlich auch eine Erklärung… Aber