Adriana Wolkenbruch

So viel kann nicht jeder von sich haben


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deren Blick ganz starr ist.

      Meine Mutter fährt mit dem Auto vor die Schranke des Klinikgeländes. Sie drückt den Knopf, sagt ihren Namen und dass sie zum Gebäude zwölf möchte. „Ja, bitte“, kommt als Antwort und die Schranke öffnet sich kurz darauf. Ich fühle mich wie eingefroren und als ob ich jahrhundertelang so überleben könnte. Ohne zu essen, abwechselnd dösend und schlafend. Vielleicht liegt das an den Tabletten, die der Psychiater mir verschrieben hat. Die Tabletten haben mir ein Gefühl der Erleichterung gegeben, weil mein Herz nicht mehr ständig rast, weil ich nicht ständig diese Angst habe, nicht ständig diese diffusen Vorstellungen, Vermutungen und Bilder, Worte…. Aber sie haben mich auch gleichgültiger gemacht. Nein, eigentlich nur kraftloser. Ich muss mich aufraffen, um zu Denken und zu Sprechen. Wenn ich daran denke, wie viel ich vor dem Auslandsaufenthalt gedacht, geredet und gelacht habe, beginnt eine heiße Quelle in mir zu brodeln. Sie produziert salziges, heißes Wasser, das mit großem Druck in meinen Kopf gepumpt wird und sich von innen gegen meine Augen quetscht. Und dann, dann legt sich ein großer Schatten über mich, eine große, endlose Traurigkeit.

      Aber die Aussicht auf ein Gespräch mit einem Psychologen beflügelt mich, erleichtert mich ungemein. Er wird nicht überrascht, nicht betroffen reagieren. Er wird mein Inneres vielleicht verstehen können und es wird ihn nicht verwirren. Ich kann ihm alles erzählen.

      Wir fahren einmal über das gesamte Klinikgelände, auf dem viele, viele Gebäude stehen. Einige sind älter, andere sehen eher nach Neubauten aus. Einige haben so etwas wie einen Garten, der eingezäunt ist. Mit einem dichten, hohen Zaun.

      Meine Mutter versucht einen klaren Kopf zu behalten, das sehe ich ihr an, das spüre ich. Sie hat auch eine heiße Quelle in sich.

      Sie parkt den Wagen auf einer der Parkbuchten vor einem Hochhaus. Es steht am hintersten Rand des Klinikgeländes. Wir steigen aus und meine Mutter zerrt meine Reisetasche aus dem Fahrzeug. „Die trage ich schon“, murmele ich und nehme ihr den Griff aus der Hand. Hinter einem Zaun stehen riesige Tannen. Ein ganzes Waldstück. Ich atme ein und wieder aus. Mein Körper beginnt zu kribbeln. Wir gehen den kleinen Hügel hinauf und stehen bald vor einer Schiebetür, die sich automatisch öffnet. Helles Licht, bunte Bilder an den Wänden und rechts von uns ein Schalter. Meine Mutter wirkt hektisch. „Guten Tag. Wir möchten zur Station 12.2, bitte“, sagt sie. Es klingt fast schnippisch. Die Frau mit den kurzen Locken und der Brille sagt: „Dort durch die Tür und geradeaus ist ein Aufzug…“ Ich starre sie panisch an… „oder die Treppe, gleich daneben“, sagt sie. Die Treppe, sage ich und gehe mit meiner Mutter durch die Tür. Wir gehen drei Treppen hinauf. Für jede Treppe brauche ich fünf Schritte, einen Schritt mit jeweils zwei Stufen. Oben angekommen atme ich schwer. Ich habe mich in den letzten drei Wochen sehr wenig bewegt. Meine Mutter ist nicht so aus der Puste. Sie geht ja auch regelmäßig joggen, mit ihrem Lauftreff. Zwei Männer in Jogginganzügen drängen sich an uns vorbei. Der eine hat ein an und für sich gut riechendes aber zu dick aufgetragenes Aftershave, der andere eine schief sitzende Brille und einen Drei- Tage- Bart. Ich muss betroffen aussehen. Meine Mutter grüßt die beiden freundlich und sie grüßen kurz und knapp zurück. Dann stößt sie die große Glastür auf. Es riecht wie in einer Jugendherberge, finde ich und in der Luft knistert eine Mischung aus Angst, Stillstand und Verwirrung. Ein paar Meter von uns entfernt befindet sich eine Art Schalter, wie unten in dem Eingangsbereich des Gebäudes, wie an jedem Bahnhof. Aber das warme Licht hier und die geschmackvoll gekleideten Krankenschwestern und Pfleger (niemand trägt hier einen weißen Kittel!) in dem Glasschalter, der wohl so eine Art Anmeldung ist, signalisieren: „Ankunft. Aufenthaltsort erreicht“. Ich bin so müde, so unendlich müde von all den Eindrücken, dass mir ganz schwindelig zumute ist und ich sofort liegen möchte. Liegen und schlafen, ganz lange schlafen, und dann sehe ich weiter. Meine Mutter meldet mich an und ein Krankenschwester in geschmackvoller Kleidung spricht mich an: „Frau Baum?“ „Ja“, hauche mit der Andeutung eines Lächelns. „Kommen Sie mit, ich zeige Ihnen ihr Zimmer“. Ich stelle meine Reisetasche ab und meine Mutter beginnt sofort, meine Kleidungsstücke in den Schrank einzuräumen. Ich ziehe meine Jacke aus und hänge sie über den Stuhl. Dann lege ich mich auf das Bett.

      Es gibt hier für jeden Patienten einen Stundenplan. HLT- Hirnleistungstraining, Sport, Ergotherapie und so weiter. Ich möchte in den ersten Tagen nur Schlafen, kann mich aber zu einigen Angeboten aufraffen.

      Insgesamt bin ich sechs Wochen hier. Es hat mir insgesamt gesehen gut getan. Aber einige, der Menschen, die ich hier kennengelernt habe, werde ich wohl nie vergessen können. Genauso wenig wie die Menschen, die ich im Ausland kennengelernt habe.

      Zum Beispiel Peter. Er ist ein sehr gewissenhafter Mensch, seine karierten Hemden sind ordentlich gebügelt, seine Hände gepflegt. An seiner linken Hand fehlen zwei Finger. Ein Unfall im Sägewerk, wo er lange gearbeitet hat. Das läge schon viele Jahre zurück. Er sagt, er hätte seinen Namen noch nie gut gefunden. Peeeter, sagt er genervt, wie Peeeterchen von Peterchens Mondfahrt. Er hätte sich immer zusammengerissen, aber jetzt sei Schluss damit. In den nächsten Tagen beschwert er sich ständig über Kleinigkeiten.

      Oder Fabienne. Sie ist die Jüngste hier auf der Station. Sie erzählt sehr viel und sie lacht ständig über etwas. Oft auch über ihre eigenen Witze. Sie ist nicht richtig dick, hat aber einen kräftigen Körperbau. Man sieht sie oft essen. Aber genauso häufig macht sie Sport: Joggen, Inliner fahren, Schwimmen. Wenn wir kurz erzählen sollen, wie unser Wochenende war, hat Fabienne meistens an beiden Tagen Sport gemacht. Und noch vieles andere. Als ihre Eltern sie besuchen kommen, wirken sie ganz grau und klein und traurig neben ihrer Tochter.

      Dann habe ich auch noch Hermine kennengelernt. Oft wünschte ich, ich wäre ihr nie begegnet. Sie war in vielen meiner Albträume die Hauptdarstellerin und vermutlich auch die Auslöserin. Ursprünglich war sie ein Mann und ich finde, sie sieht noch immer aus wie ein Mann. Sie hat eine Glatze und eine recht piepsige Stimme. Sie erzählt aus ihrem Leben, in dem eine Herrin vorkommt und andere ungewöhnliche Menschen. Es spielte sich alles in der Sado- Maso- Szene ab. Menschen, die beim Sex erhöhte Lust empfinden, wenn sie andere quälen oder gequält werden. Manchmal geht es auch nur um den Schmerz. Hermine hat ständig Diskussionen mit Pflegern und Krankenschwestern, weil sie ihren Bettbezug gegen einen Latexbettbezug ausgetauscht hat. Irgendwann kommt sogar der Oberarzt und verbietet ihr das. Aber Hermine ist neben Dörte die einzige, die Romme´ spielen kann und will. Und Dörte ist eine Sozialarbeiterin mit Burnout. Ein vertrauenswürdiger Mensch. Also spielen wir drei manchmal Romme´ zusammen. Und nachdem ich Hermine zum zweiten Mal deutlich gesagt habe, dass ich über die Szene, in der sie sich bewegt, nichts mehr hören möchte, hält sie sich auch daran.

      Und dann ist da noch dieser hinterlistige Kettenraucher. Es zieht einen förmlich in einen Sog, wenn man sich mit ihm unterhält. Aber anschließend kommt man sich vor, wie eine gerauchte Zigarette. Ich halte mich von ihm fern.

      Dann gibt es noch Ella, die über fünfzig ist und zierlich wie ein Mädchen. Sie hat ihre langen, seidigen Haare oft zu zwei Zöpfen geflochten. Ich dachte, ich sehe nicht richtig, als sie eines Tages mit Hermine händchenhaltend über den Flur tänzelt.

      Ella kam von der geschlossenen Station, ein Stockwerk höher. Sie sagte, dass es dort sehr schlimm war. Sie hätte sich all ihre Kleidungsstücke auf links angezogen, weil sie sich so fühlte, als wäre ihr Innerstes Außen. Keine Privatsphäre. Auf dieser- der offenen Station- kann man sein Zimmer auch nicht abschließen. Aber auf der geschlossenen Station schauen die Schwestern und Pfleger auch noch alle fünf Minuten nach einem. Dort sind ja auch die als sich selbst oder fremd- gefährdenden Menschen untergebracht.

      Dann ist da noch Doreen, mit der ich mir das Zimmer teile. Sie dreht ständig Zigaretten für ihren Freund und bringt ihm diese dann zwei Mal wöchentlich vorbei. Sie wirkt sehr verkrampft.

      Natürlich gibt es auch unauffälligere Menschen auf der Station. Auch viele, die sich sehr zurückziehen und sehr schüchtern, sogar scheu sind.

      Und es gibt ein unzertrennliches Dreiergrüppchen: drei stark geschminkte, stark gebräunte Frauen, die viel miteinander tuscheln. Sie sind alle in einem Zimmer einquartiert.

      Die Begegnung in der Psychiatrie, die mich am meisten aufgewühlt hat, war die mit der größten