Adriana Wolkenbruch

So viel kann nicht jeder von sich haben


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oder auch nur, weil man dann meistens auf Bäume blicken kann. Jeder Baum ist auf seine Art und Weise schön und ähnlich wie bei Menschen sieht man an ihrer Wuchsform ihren Charakter. Und wenn sie im Wind ihre Äste schaukeln, bildet man sich manchmal ein, sie winken oder tanzen und das ist schon sehr niedlich und nur durch den Wind können sie sich so schnell bewegen.

      Eines Tages stand ich einmal wieder am Fenster in dem Zimmer der Psychiatrie. Doreen war vor ein paar Tagen entlassen worden und ich genoss es, nun das Zimmer für mich allein zu haben. Ich fühlte mich schon wieder relativ stabil, etwas weniger panisch. Ich stand also am Fenster und schaute hinaus. Unten vor dem Gebäude befand sich eine gepflasterte Fläche, ein breiter Weg an den eine Rasenfläche grenzte und der zu dem Eingang des Gebäudes führte. Die Frühlingssonne strahlte hell. Da nahm ich einen Krankenwagen wahr, der von mehreren Polizeiautos eskortiert wurde. Seltsam. War die Einfahrt für den Krankenwagen nicht auf der anderen Seite des Gebäudes? Interessiert beobachtete ich, wie der Polizeiauto- Krankenwagen- Zug die Einfahrt herauf rollte. Sie hielten auf dem breiten Weg, unweit des Einganges in das Psychiatrie- Gebäude. Ich hielt den Atem an, wand mich einen kurzen Moment vom Fenster ab, als hätte ich schon in dieser Sekunde voll erfasst, was jetzt geschah. Aber gleichzeitig war mir bewusst, dass ich die Situation genauso wenig vergessen könnte, wenn ich sie nicht WIRKLICH gesehen hatte. So blieb ich am Fenster stehen und schaute gebannt nach unten, auf den gepflasterten Weg mit dem Polizeiauto- Krankenwagen- Zug. Aus den Polizeiwagen sprangen schwarz angezogene Personen mit schwarzen Mützen, die sie über ihren Kopf gezogen hatten und die nur über den Augen frei waren, so dass sie freie Sicht hatten, aber gleichzeitig nicht als sie selbst zu erkennen waren. Sonder- Einsatzkommando, hallte es in meinem Kopf, jetzt die Wahrheit benannte. Mein Herz polterte. Warum stiegen sie nicht aus. Warum sprangen sie aus den Polizeiautos? Und sie hielten Maschinengewehre in ihren Händen. Alles an ihnen, wie sie die Gewehre hielten, wie sie sich bewegten, verriet, dass sie zum Äußersten bereit waren. In meinem Kopf spielte eine Trommel ihren Marschrhythmus. Dann öffneten die Männer den Krankenwagen. Zu neunt wuchteten sie eine Bahre heraus. Viele weitere maskierte Sonder- Einsatz- Kommando- Kräfte überwachten den Vorgang aus nächster Nähe. Man konnte die Bahre kaum erkennen unter dem riesigen Körper, der auf ihr lag, der über sie hinaus reichte. Ein nackter Körper mit einem Bauch, der das Geschlechtsteil überlagerte, der wie ein großer Ballon nach oben und zu den Seiten reichte. Ein Körper, dessen riesiger, runder Kopf lange, braune, leicht gelockte Haare besaß und einen dichten, langen, braunen, leicht gelockten Bart. Die Augen waren geschlossen, die Arme und Beine hingen leblos herunter. Die Haut war weiß. Warum war er nicht fixiert, gefesselt, wenn er doch sehr gefährlich sein musste? Und dann zuckte ein Blitz durch mich. Ich war unmaskiert. Er könnte geblinzelt und mich hier oben gesehen haben. Schaulustig. Nein ich war ganz und gar nicht SCHAULUSTIG. Besser, ich hatte gesehen, wer so spektakulär eingeliefert worden war. In meinen Gedanken hätte er viel grausamer ausgesehen. Ich drehte mich um und setzte mich ermattet auf mein Bett. Ich wusste, er würde jetzt ein Stockwerk über mir sein. Auf der geschlossenen Station. Und unter dieser, der offenen Station waren viele ältere, verwirrte Menschen, deren Rufe manchmal zu hören waren, wenn man abends das Fenster geöffnet hatte. Wie sollte ich jetzt unterscheiden können, ob einer dieser Rufe nicht von ihm kam?

      Ich genoss das Abendessen, die Brote, den Tee. Es gab auch ein paar Paprika- Stücke und Tomaten. Ich genoss sie. Dann holte ich mir meine Tabletten. Sie wurden in einem kleinen Raum, der sich nahe der Tür zur offenen Station befand, ausgegeben.

      Jeder Patient stand dann in der Schlange, das kleine weiße Plastikdöschen in der Hand. Der vordere, der Kopf der Schlange, trat dann immer ein in den „gläsernen“ Raum. Bei einigen wirkte es feierlich, wenn sie ihre Tabletten entgegen nahmen, andere wirkten gelangweilt oder genervt. Wieder andere wirkten völlig gleichgültig oder verschämt. Ich wollte sie einfach haben, meine Tabletten, um die nötige Ruhe zum Einschlafen zu bekommen. Ich hasste es, so nahen Kontakt zu fremden Menschen zu haben. Nicht, weil ein paar sehr ungepflegt aussahen und teilweise unangenehm rochen. Oder weil ihr Blick starr war und man überhaupt nicht einschätzen konnte, wie sie sich fühlten. Vermutlich wussten sie es selbst nicht einmal. Es war eine erzwungene Nähe, die ich schwer aushalten konnte.

      Unwirklich. Und dennoch besser, als vollkommen auf sich allein gestellt. Man wusste, wann man frühstücken musste, Mittagessen und Abendbrot essen. Und die über den Tag verteilten Therapien waren teilweise erleichternd und wohltuend.

      Ich wollte jetzt nur noch auf mein Zimmer gehen und die notwendige Ruhe erreichen, um einschlafen zu können. Da kam mir Dietmar auf dem Flur entgegen. Groß und stämmig, strahlte dabei aber etwas Vertrauenserweckendes, Gutmütiges aus. Er stoppte neben mir und ich blieb automatisch stehen. Er sagte. „Ich weiß nicht, was ich machen soll. Ich liebe Cameron Diaz.“ Ich überlegte kurz. Ich erkannte, dass er es wirklich ernst meint. „Ja, dann schreib ihr doch mal“, sagte ich, plötzlich leicht belustigt. „Ja, komm… das wird doch sowieso nichts, “ sagte er. Ich konnte ihm nur Recht geben und merke plötzlich, wie ein Interesse an mir in ihm aufkeimte. Ich musste Grinsen und hätte mich im nächsten Moment dafür erdolchen können. Hier puzzelte jeder mehr oder weniger an seiner Persönlichkeit, damit mindestens der Rand wieder vollständig war. „Aber Dich finde ich auch sehr toll“, sagt er. Gut, dass er so offen war. „Nee, nee, daraus wird nichts. Ich mag Dich, aber daraus wird nichts, wirklich“, sagte ich und ging etwas zu bemüht, entspannt zu wirken, die letzten Meter zu meinem Zimmer. Öffnete die Tür, schlüpfte hinein.

      Ich liege in meinem Bett, denke an alle Buddhistischen Mönche Tibets, danke ihnen und stelle mir vor unter ihnen zu sein, in einem Kloster. Alle sagen Gebetstexte auf und ich murmele einfach mit. „MMMMamelgansigmumelbogindasang….“, ich kann ja kein tibetisch. Und es macht auch Spaß, tibetisch neu zu erfinden, denn alles, was ich murmele heißt, dass alles eins ist, alles ist eins…. Da schießt plötzlich Panik in mir hoch. Es musste jemand vor der Tür stehen, ich spürte es. Groß und dringend. Drei Sekunden später klopfte es an der Zimmertür. Mein Herz raste, polterte. Dietmar. Meine Mitbewohnerin schläft wie ein Stein. Ich habe das schon einmal erlebt und kann mich jetzt auch nur wieder tot stellen. So wie ich es zwei Jahre lang immer wieder tat. Abends vor dem Einschlafen. Nein, schreie ich innerlich, jetzt ist Schluss damit. Ich bin mir sicher, dass er nach einer kurzen Wartezeit wieder gegangen ist. Die Tür ist frei. Ich raffe mich schlagartig hoch, schlüpfe in meine Schlappen und verlasse das Zimmer. Meine neue Mitbewohnerin schläft wie ein Stein. Ich wandere zu dem kleinen Zimmer der Pfleger, dass am Rande des Flures liegt und durch die große Glasfront von allen Seiten einsichtig ist. „Frau Kunert, ich habe solche Angst“, rufe ich ihr entgegen. „Meine Stimme klingt schleppend. In mir rauscht ein panischer Bach, unter dem alle Sinne begraben werden. Sie sieht mich streng an. „Ich weiß nicht, ob ich nicht noch etwas zur Beruhigung brauche…“ Sie sieht mich an und sagt: „Ist etwas Bestimmtes vorgefallen?“ „Nein, nein. Er hat nur an der Zimmertür geklopft, er wollte bestimmt nur mit mir reden, aber ich habe solche Angst, dass ich nicht geschützt bin, wenn jemand in mein Zimmer geht….“ Sie scheint nachzudenken. „Ich sehe ja von hier aus den ganzen Gang in dieser Richtung. Ich bin die ganze Nacht hier.“ Hoffnung für mich. „Das ist gut, ich glaube, jetzt kann ich schlafen.“ Ich habe ihr die Verantwortung abgegeben, weil ich sie als vertrauenswürdig und kompetent einschätze.

      Heute heißt es umziehen. Ich werde in ein anderes Zimmer verlegt. Zwei junge Frauen, beide ungefähr in meinem Alter haben zwei der drei Betten belegt. Sie sind nett, sie sind… Verdammt, was machen sie hier? Sie scherzen, sie reden, sie telefonieren mit Verwandten oder Bekannten. Ich fühle mich unendlich alt. Ein grauer alter Stein. Bei mir ist alles eingefroren. Dabei bin mag ich sie, unterhalte mich gern mit ihnen. Was trennt uns? Ich kann nicht normal sein. Ich bin intelligent, aber trotzdem zu fast allem unfähig, was Intelligenz ausdrückt. Ich habe Abitur gemacht, ich hatte Freundinnen, ich habe Scherze gemacht und gelacht. Aber damals habe ich mich ähnlich gefühlt, wie jetzt. Damals. Als ich mit drei anderen Mädels auf dem Ponyhof war und sie mich veralbert haben. Sie mochten mich, aber sie haben sich über mich lustig gemacht. Ich war die Jüngste. Kann ja auch ein Bonus sein. Und als wir umgezogen sind. Da habe ich anfangs keine Freunde gehabt. Ich höre die beiden lachen und reden und fühle mich sofort schlecht und allein. Ich kann sehr schlagfertig sein. Und kenne schnell die wunden Punkte meines Gegenübers. Aber auf verbale Angriffe kann ich schlecht reagieren. Und immer wieder kommt es durch meine defensive