Rosa Ananitschev

Andersrum


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„Auf dem wohnt auch so ein Mädchen wie du.“

      Lisa wird neugierig. „Ist es auch sechs Jahre alt? Heißt es auch Lisa?“

      Obwohl die Kleine sein Gesicht durch den schwarzen Stoff nicht sieht, ahnt sie, dass der Fremde lächelt, als er antwortet: „Nicht unbedingt Lisa – aber vielleicht … Asil?“

      „Oh ja – das ist mein Name, nur andersrum!“ Lisa lacht, der Name Asil gefällt ihr ausgesprochen gut.

      „Du bist ein kluges Mädchen!“, sagt der Fremde anerkennend.

      „Ist Asil auch manchmal traurig?“, will das Kind wissen.

      „Manchmal ja“, erwidert die Gestalt in Schwarz. „Besonders aber dann, wenn du traurig bist.“

      Lisa zupft leicht an dem Gewand des Mannes. „Woher weiß sie das?“

      „Nun, sie spürt es. Asil und du, ihr seid zwei Seelenverwandte.“

      „Was bedeutet das?“

      „Das ist wie bei Freunden. Zwei gute Freunde verstehen sich oft auch ohne Worte und fühlen, was der andere fühlt“, erklärt der Fremde.

      „Ich habe keine Freundin“, gesteht Lisa betrübt und senkt den Blick.

      „Die kommt noch – eines Tages“, verspricht der Dunkelgekleidete. „Du wirst es sofort wissen, wenn du sie siehst.“

      Schnell wechselt Lisa das Thema. „Sag mal, warum versteckst du dein Gesicht?“

      Der Fremde zögert ein wenig. „Ich sage es dir ganz ehrlich. Ich darf mein Gesicht den Erdlingen nicht zeigen. So sind die Regeln.“

      Beim Wort „Erdlinge“ blickt Lisa nach oben zu den Sternen, dann wieder in das schwarze Gesicht. Eine Erkenntnis leuchtet in ihren Augen auf, aber sie behält sie für sich, fragt stattdessen: „Kannst du denn gut sehen, wenn deine Augen verdeckt sind?“

      Ein Kichern ist zu hören und anschließend: „Oh doch, ich sehe alles sehr gut.“

      Lisa bemerkt etwas auf der Brust des Fremden und setzt an: „Was ist …?“ Dann stoppt sie die Frage und ihre nächsten Worte klingen ein wenig vorwurfsvoll: „Du hast mir noch gar nicht gesagt, wie du heißt.“

      „Stimmt. Entschuldige“, antwortet die schwarze Gestalt. „Du kannst mich einfach Duh nennen.“

      Lisa macht große Augen. „Duh … so wie ich und du?“

      „Ja, so ungefähr.“

      „Dein Name gefällt mir“, sagt Lisa zufrieden. „Also Duh, was ist das hier, das so grün leuchtet?“ Sie berührt die Stelle auf dem Umhang. „Es ist hart. Ist das ein Kästchen?“

      Bereitwillig erklärt Duh: „Das ist ein kleines Gerät, das meine Sprache für dich übersetzt und deine für mich.“

      Das Mädchen wundert sich. „Verstehst du denn kein Deutsch? Auch kein Russisch? Ich kann schon gut Russisch sprechen“, fügt sie stolz hinzu. „Kann das Kästchen auch andere Sprachen übersetzen?“

      „Ja, alle Sprachen der Welt.“

      Lisa schüttelt beeindruckt den Kopf und lehnt sich an Duhs Schulter: „Du riechst gut“, murmelt sie.

      „Ich habe mich extra für dich fein gemacht.“

      Lisa ist zwar erst sechs Jahre alt, aber versteht den Scherz und antwortet gespielt ernst: „Für Mädchen müssen die Jungs sich eben fein machen.“

      „Gut erkannt“, murmelt Duh.

      Lisa wird müde und der Fremde trägt sie wieder ins Haus, in ihr Bett. Sie löst sich nur ungern aus seinen Armen. Bevor der Schlaf sie endgültig überwältigt, flüstert sie: „Danke, Duh.“

      „Wofür denn, Kleines?“

      „Dafür, dass du so lieb bist.“

      Am nächsten Morgen – es ist noch früh – wird Lisa von lauten Geräuschen geweckt.

      Fremde Männer sind im Haus, die durch alle Räume poltern und einander Unverständliches zurufen. Sie sind dunkel gekleidet, haben merkwürdige Gegenstände in den Händen und große Kabelrollen über der Schulter hängen.

      Lisa erschrickt und denkt sofort an ihren nächtlichen Traum. Oder war es gar kein Traum?

      Mama erklärt ihr, dass die Männer bloß Monteure sind, die Elektroleitungen verlegen. „Bald werden wir Elektrizität im Dorf haben“, verkündet sie und Freude schwingt in ihrer Stimme mit. „Auch in unserem Haus wird es Licht geben“, schwärmt sie weiter. „Es wird im Dunkeln hell sein wie am Tage. Du hast doch gesehen, dass an der Straße die hohen Masten eingegraben wurden.“

      Stumm hört Lisa zu. Jetzt erkennt sie auch die Männer wieder. Sie hat vor Tagen zugesehen, wie sie auf die Masten kletterten, mittels ganz großer, eiserner Krallen, die sie an ihren Stiefeln befestigt hatten.

      Mamas Worte, es werde überall Licht geben, überzeugen das Mädchen keinesfalls und sie ist sich zudem nicht sicher, ob sie sich über helles Licht freuen soll.

      Diese ‚Licht-Sache‘ widerstrebt Lisa. Sie mag die langen Winterabende mit dem spärlichen Schein der Kerosin-Lampe. Im Halbdunkel fühlt sie sich wohler, es passt sich ihrem Inneren an, sorgt auf besondere Weise für einen Ausgleich, und ihre Last verliert ein wenig an Gewicht. Sie kann es natürlich nicht mit diesen Worten erklären, sie fühlt es einfach.

      Oft sitzt sie mit ihren Geschwistern unter dem Tisch und die Älteren erzählen einander Gruselgeschichten.

      Lisa hört sie gern, Furcht hat sie keine, denn sie weiß – es ist alles nur erdacht: Die Toten können nicht wieder auferstehen und die Lebenden angreifen.

      Oder sie hockt ganz allein in einer noch dunkleren, warmen Ecke am Ofen und lauscht dem Klang des Fußharmoniums, auf dem Papa Lieder aus dem alten, schwarzen Liederbuch spielt.

      Die Melodien haben eine besondere Wirkung auf das Mädchen. In ihrem Inneren macht sich zwar eine Traurigkeit breit, aber sie ist ungewöhnlich angenehm und hell. Melancholische Töne, die mit einem Bild sonnenheller Fröhlichkeit verschmelzen.

      Die Tage vergehen, wechseln im steten Rhythmus. Wann immer Lisa nachts wach wird, sieht sie Duh an ihrem Bett. Er tröstet und beruhigt sie, wenn sie schlecht träumt, beantwortet ihre Fragen und erzählt ihr Geschichten über Asil.

      Im Dorf ist es endlich soweit. Es wird verkündet, dass am Abend das Licht eingeschaltet werden kann. Alle sind voller Erwartung. Auch Lisa ist aufgeregt. Als der Vater endlich in der sommerlichen Dämmerung den Schalter umlegt, muss Lisa die Augen zukneifen, so hell wird es. Vorsichtig öffnet sie jedoch die Lider wieder, sucht nach der Lichtquelle und … entdeckt sie schnell unter der Zimmerdecke: Eine Glühbirne, die an einer Schnur baumelt. Und wie vermutet – angenehm ist die Helligkeit für Lisa nicht, aber die anderen jubeln vor Begeisterung.

      In dieser Nacht träumt Lisa etwas ungewöhnlich Lustiges: Sie hilft bei den Gartenarbeiten. Mama hat ihr das Gießen aufgetragen. Aber es sind nicht Blumen und Gemüse, die Wasser brauchen, sondern lauter kleine, bunte Glühbirnchen, die aus der Erde sprießen. Es macht riesigen Spaß, sie zu begießen, und die Birnchen wackeln dankend und summend mit ihren durchsichtigen Köpfchen. Lisa läuft mit der Kanne vergnügt von einem der seltsamen Gewächse zum anderen und lacht, lacht, lacht … und wacht sogar lachend auf.

      Der dunkle, geheimnisvolle Duh, der wie in all den letzten Nächten Wache bei seinem Schützling hält, beugt sich neugierig zu dem Kind hinunter. „Warum lachst du, kleine Lisa!“

      Sie erzählt von dem Traum, den Veränderungen in ihrem Leben und auch, dass sie jetzt nachts einfach den Schalter an der Wand betätigen kann und – siehe da – es wird Licht.

      Duh hört ihr aufmerksam zu, erklärt ihr dann, dass sie sich schnell an das Neue gewöhnen werde, dass Elektrizität eine tolle Sache und für das Dorf ein großer Fortschritt sei. Und dass bald auch andere Neuerungen kämen,