Bernd Franzinger

Fritz I - ein Knirps wehrt sich


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mitsamt seiner jugendlichen Begleitung den Seminarraum verlassen hatte, beobachteten die späten Mütter mit Argusaugen die Leistungen der verbliebenen Teilnehmer dieser frühkindlichen Konkurrenz-Rally.

      Im Vergleich zu seinen Altersgenossen schnitt der kleine Fritz in allen Disziplinen weit unterdurchschnittlich ab. Die diversen Spiel-, Bewegungs- und Sinnesanregungen ignorierte er mit einer totalen Verweigerungshaltung.

      Um es auf den Punkt zu bringen: Er machte weder irgendwelche lächerlichen Spielchen mit, noch ließ er sich sonst irgendwie stimulieren, noch war er bereit, mit seinen Kollegen zu interagieren. Die anderen Jungspunde waren ihm nämlich schlichtweg egal. Und dieser Popelkram, mit dem man ihn angeblich intellektuell fördern wollte, rang ihm nur ein schiefes Lächeln ab.

      Nachdem alle Spätgebärenden ihren Babys wieder die Leibchen über den Leib gezogen hatten, zog die Chefin der PEKIP-Gruppe eine individuelle Zwischenbilanz. Dabei kam Beas Nachwuchs als einziger ganz schlecht weg, denn die selbsternannte Frühförderungs-Expertin diagnostizierte bei Friedrich Karl Eckstein einen extrem hohen Förderbedarf, besonders bezüglich seines rudimentären Sozialverhaltens – wie sie schonungslos formulierte.

      Diese schockierende Bestandsaufnahme zeichnete Bea tiefe Falten auf die Stirn, Kerstin dagegen malte sie ein schadenfrohes Grinsen auf die Lippen.

      Fritz beunruhigte dieses Statement allerdings nicht im Geringsten, denn er wusste ganz genau, was für ihn das Richtige war. Selbsttätigkeit hieß das Zauberwort! Er musste sich die für seine optimale intellektuelle Entwicklung wichtigen Informationen besorgen und sich zentrale Kompetenzen aneignen.

      Und er wusste auch schon, wo. Auf alle Fälle nicht bei solchen FKK-Lachnummern. Diese affigen Spielchen, dieses alberne Herumgegrapsche an seinem nackigen Astralkörper sollte Förderung sein – mitnichten!

      Doch bereits am darauffolgenden Morgen wurde der kleine Fritz zum nächsten Nudistentreffen geschleppt. Wieder handelte es sich dabei um einen dieser unsäglichen Baby-Tuning-Events.

      Diesmal fand er allerdings nicht in den überheizten Räumlichkeiten der Volkshochschule statt, sondern woanders. Und warum? Ganz einfach: Weil es in der VHS kein Wasser gab! Nein, Leitungswasser war dort natürlich reichlich vorhanden – aber eben kein Schwimmbecken!

      Und das benötigte man ja wohl zum Babyschwimmen, nicht wahr? Wobei der Begriff Baby-Schwimmen nichts anderes war als ein schlechter Wortwitz. Oder musste Fritz demnächst auch noch zum Baby-Skilaufen oder Baby-Surfen?

      Heute stand also Babyschwimmen ganz oben auf der Agenda der Säuglings- und Mütterbeschäftigungsindustrie. Kerstin hatte für ihren Justus einen individuellen Förderplan entwickelt, den Bea bereitwillig adaptierte und den es von nun an diszipliniert abzuarbeiten galt.

      Schließlich war Beatrice Ecksteins Sprössling gestern von der PEKIP-Expertin als förderbedürftig eingestuft worden. Und das konnte Bea selbstverständlich nicht auf sich sitzen lassen, zumal ihr das hämische Grinsen ihrer alten Schulkameradin nicht entgangen war.

      Schon wieder zerrte Bea ihrem eingeborenen Sohn die Kleider vom Leib. Aber dem Himmel sei Dank zur Abwechslung einmal nicht vor den Augen dieser penetranten Voyeure, sondern in einer Umkleidekabine.

      Dort war es schön eng und gemütlich. Fritz wäre so gerne dortgeblieben, aber er hatte keine Chance, denn er war Bea nach wie vor auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Auch diesmal durfte er noch nicht einmal die Windel anbehalten.

      Bitte, lieber Gott, pass auf, dass sie nicht ausrutscht und mich fallen lässt!, flehte Fritz eingedenk des glitschigen Untergrundes, auf dem sich Bea trotz ihrer Plattfüße nicht gerade sicher, geschweige denn graziös bewegte.

      Während eines albernen Begrüßungsgedöns, bei dem die späten Mütter ihre runzeligen Wangen aufeinanderdrückten, sondierte Fritz die Begleitpersonen seiner Schwimmmannschaft. Auch diesmal schienen sie wieder einem Seniorenheim entlaufen zu sein.

      Ich hätte sooooo gerne auch so eine frische, knackige Mama, seufzte Fritz in Gedanken, als er im Nichtschwimmerbecken zwei jugendliche Mütter dabei beobachtete, wie sie ausgelassen mit ihren Babys herumtollten.

      Ja, herumtollten, nicht herumschwammen! Irgendwie sind junge Leute fröhlicher und cooler als die alten – und sie nerven einen bestimmt auch nicht andauernd mit ihrem Förderwahn.

      Auf das Kommando der Chefin hin ließen sich die betagten Mütter in Zeitlupentempo auf die nassen Fliesen nieder und breiteten ihre Badelaken vor sich aus. Dann legten sie ihre Nachkömmlinge darauf ab, fassten sich an den faltigen Händen und sprachen im Chor die Förderhymne:

      »Ach, sie sind so klein und zart,

      Doch das Leben ist so hart.

      Schwestern, reicht mir eure Hände

      Lasst sie uns fördern ohne Ende.«

      Weshalb glauben bloß alle Erwachsenen, dass Babys am liebsten nackig sind?, protestierte der kleine Fritz in Gedanken. Sein Blick wurde magisch von den prallen Pobacken eines vor ihm liegenden Leidensgenossen angezogen.

      »Wir haben unsere Kleinen ausgezogen, weil sie auch im Mutterleib nackig waren«, sagte die neue Chefin, die offenbar Gedanken lesen konnte.

      Sie ähnelte der PEKIP-Tante von gestern sehr. Wahrscheinlich sind diese Mütter-Trainerinnen alle geklont, erklärte sich Friedrich Karl Eckstein dieses augenscheinliche Phänomen.

      »Warum überhaupt Babyschwimmen?«, fragte die Frau in flötender Tonlage.

      Das möchte ich auch gerne wissen, dachte Fritz.

      »Der Säugling soll das Element Wasser wiederentdecken. Es ist schließlich dasjenige Element, in dem er die ersten neun Monate seines Lebens verbracht hat«, dozierte die Schwimmlehrerin. »Das Wasser eröffnet ihm einen neuen Erfahrungsraum und fördert seine Kreativität. Sie können meine Argumentation nachvollziehen?«

      Allseitiges, braves Nicken.

      »Sehr gut«, lobte die Expertin gedehnt. Sie hob den Zeigefinger. »Zudem wirkt sich der enge Kontakt Ihres kleinen Lieblings zu den anderen Säuglingen ausgesprochen positiv auf die soziale Entwicklung Ihres Kindes aus.«

      Beas Augen leuchteten erwartungsvoll auf. Kein Wunder, denn die Chefin hatte ihren wunden Punkt getroffen: Friedrich Karl Ecksteins angeblich nur rudimentär ausgeprägtes Sozialverhalten.

      Aber das waren noch lange nicht alle Begründungen dafür, weshalb man wehrlose Babys zum Beckenschwimmen nötigte.

      »Zusätzlich stimuliert der Aufenthalt in diesem flüssigen Medium die geistige Entwicklung Ihres Kindes«, behauptete die Chefin, »denn es steigert die Fähigkeit zu Konzentration und Koordination. Darüber hinaus stärkt das völlige Ausgeliefertsein des Babys an den erwachsenen Schutzpatron das Vertrauensverhältnis zu seiner Bezugsperson. Und zu guter Letzt sorgt der intensive Körperkontakt für eine innige Beziehung zwischen Eltern und Baby.«

      Und wenn man die gar nicht haben will?, grollte Friedrich Karl Eckstein im Stillen.

      Bea nahm ihren Sohn auf den Arm und folgte der Mütterprozession ins Wasser. Fritz konnte den stechenden Chlorgeruch kaum ertragen und hielt den Atem an.

      Bäh, was für eine pinkelwarme, stinkende Brühe, schimpfte er in Gedanken, als Bea seine Füße ins Wasser eintauchte.

      Und dann ließ sie ihn los – einfach so!

      Wie ein Stein sackte er nach unten, immer tiefer, immer tiefer. Das Wasser rauschte in seinen Ohren und drückte sich in seine Nasenlöcher hinein. Reflexartig presste er mit Luft dagegen an. Das Blubbern klang wie ein Totengeläut.

      In panischer Angst riss er die Augen auf. Direkt vor ihm standen die Unterteile der Mütter wie schwabbelnde Totempfähle im Wasser herum. Aber sie bewegten sich nicht auf ihn zu, sondern verharrten wie festgewachsen an Ort und Stelle. Verzweifelt strampelte er und strampelte. Er schluckte Wasser, übelschmeckendes Chlorwasser.

      Sie will mich töten, sie will mich töten! Warum hilft mir denn niemand?, schrie er verzweifelt. Doch es waren stumme Schreie, Schreie,