J.C. Caissen

Über weißblaue Wiesen


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      Es war einfach eine grausame Zeit, dieser Krieg. Maria war immer in großer Sorge um Ingvar gewesen. Aber er hatte auch diesmal wieder enormes Glück gehabt. Mit Beginn des Fortsetzungskrieges wurde er zu einer Einheit eingezogen, die daran arbeitete, für den Krieg konfiszierte Busse zu Ambulanzfahrzeugen umzubauen. Die wurden dann an der finnisch-russischen Front eingesetzt. Dieser Arbeit konnte Ingvar sogar in einer Volvo-Werkstatt an seinem Wohnort Vaasa nachgehen und sogar daheim bei der Familie wohnen, die er nun mittlerweile wieder in die Stadtwohnung nach Vaasa zurückgeholt hatte. Eigentlich ging es ihnen nicht mal schlecht. Ingvar würde schon auf sie aufpassen, und Hunger mußten sie auch nicht leiden. Von Marias Eltern, gut betuchten Bauern und auch Ingvars Mutter, zu der Zeit schon Witwe, die zusammen mit den Töchtern Hella und Erna auch einen Hof bewirtschafteten, wurde ihr Tisch immer reich gedeckt, wenngleich Ingvars Mutter auch nicht so vermögend war wie Marias Eltern. Wann immer Ingvar die Möglichkeit hatte, manchmal sogar schnell nochmal abends, fuhr er zusammen mit Maria und den Kindern aufs Land zum Elternhaus, wo erst einmal eine deftige Mahlzeit aufgetischt wurde. Und man ließ sie nie abfahren, ohne ihnen Milch, Kartoffeln, Kohlrüben, Rote Beete, Porree und Äpfel, Eier, manchmal auch ein Huhn oder sogar ein Stück Lammfleisch einzupacken. Oma Anna drückte auch den Kindern immer ein Paket Kuchen oder Plätzchen in die Tasche. Ja, es ging ihnen damals weitaus besser, als manch anderen in der Stadt.

      Und nur einige, wenige Male flogen russische Bomber über Vaasa, wohl mehr als eine Bedrohung oder Warnung gemeint. Die abgeworfenen Bomben waren fast schon bewußt schlecht plaziert. Sie gingen vorbei an allen strategischen Zielen und fielen in den Bottnischen Meerbusen. Einige versanken dort im Schlick des Strandes und lagen wohl noch heute dort. Aber weder Soldaten noch Zivilisten waren je in diesen Kriegsjahren in der Stadt Vaasa verwundet worden.

      Wie schnell hätte es aber auch anders kommen können? Wie leicht hätte sie plötzlich als Witwe allein mit den Kindern dastehen können, so wie viele andere Frauen im Krieg? Ja, sie wäre natürlich sofort wieder bei den Eltern untergekommen. Aber ihre Zukunft mit Ingvar, den sie über alles liebte, und den Kindern, hätte auch von einem auf den anderen Tage zerstört werden können. Vielen Familien war es so ergangen.

      Und als dann endlich der Krieg zu Ende war und sich das Leben so langsam wieder normalisiert hatte, ja, da wünschte sie sich noch einmal ein Kind mit Ingvar zu bekommen. Und da unten, der Kleine mit den strammen Beinchen in den Ski-Schnürschuhen, die fest auf den Skiern saßen, der sollte es einmal besser haben. Der sollte nicht diese schlimmen Ängste durchmachen müssen, wie seine Geschwister, Inga und Bernhard. Der sollte fröhlich, behütet und liebevoll aufwachsen, das hatte sich Maria ganz fest vorgenommen. Sie liebte alle ihre Kinder, aber der Kleine da, das war nun mal ihr Augenstern.

      Das Bügeleisen begann zu riechen und Maria wurde unsanft wieder an ihre Arbeit erinnert. Ach, auch, wenn sie immer viel Arbeit hatte, das Leben war wieder schön. Es ging ihnen gut.

      'Inga, nun geh schon runter, bitte'.

      2

      Andrés Schwester Inga ließ nun doch ihren Bleistift aufs Heft fallen und stand auf. Sie sprang die Treppe hinunter und steckte den Kopf durch die Haustür. „André! André! Du sollst reinkommen. Mensch, ist das eisig kalt. Du erkältest dich noch. Mama will, daß du jetzt endlich reinkommst. Du hast ja schon ganz blaue Lippen.“ „Ich kann jetzt noch nicht. Halt mich nicht auf, ich fahre auf Zeit. Noch eine Runde, dann komme ich.“ Inga schloss die Tür und ging wieder nach oben. “Er kommt gleich, nur noch eine Runde,“ berichtete sie der Mutter. „Stellt euch vor, bei den letzten Runden habe ich aufgeholt. Ich werde immer besser. Diesmal habe ich ganze zwei Minuten weniger für eine Runde gebraucht. Und Håkan war auch weit hinter mir.“ André schnürte seine Skischuhe auf und kickte sie in die Ecke, hängte den Anorak an die Garderobe, zog sich die Mütze vom Kopf und legte seiner Mutter den Wecker wieder auf den Küchentisch. Dann warf er sich schwer auf die Küchenbank. Es war sehr wichtig für André, die Zeiten zu messen. Und es war natürlich auch wichtig für ihn, sich immer zu verbessern. Am Sonntag hatte der Vater mit ihm wieder vor dem Radio gefiebert. Veikko Hakulinen kämpfte bei den Olympischen Spielen, im 15 km Skilanglauf für Finnland. Er war Andrés ganz großes Vorbild. André teilte die Begeisterung für den Sport mit dem Vater, mehr als die Mutter oder Inga und Bernhard es taten.

      Inga mit ihren mittlerweile siebzehn Jahren hatte ganz andere Interessen. Sie tuschelte ständig mit ihren Freundinnen und besuchte die Cafés in der Stadt, doch abends nahm sie sich auch oft Zeit für ihren kleinen Bruder André. Sie las ihm dann Geschichten vor, denen er immer gern mit verträumten Augen zuhörte. Bernhard war leider nur noch selten daheim. Er hatte bereits sein Abitur gemacht und wohnte während der Woche in der Kaserne in Vaasa und leistete dort seinen Wehrdienst ab. Die Grundausbildung in der Granatwerferkompanie absolvierte er nur widerwillig. Gottseidank konnte ihm sein Cousin sogleich eine Stabsstelle vermitteln. Und schön, daß sein Gesuch, in seiner Heimatstadt Vaasa dienen zu dürfen, Gehör gefunden hatte. So konnte er zumindest an den Wochenenden daheim sein.

      André liebte die Stunden vor dem Radio, die wenigen, die der Vater mit ihm zusammen verbringen konnte. Gemeinsam begeisterten sie sich für Skilanglauf, Skispringen, Eishockey und Eisschnelllauf. Da ereiferten sie sich gemeinsam mit dem Radiosprecher und feuerten ihren Favoriten an. „Mensch, so schnell wie Juhani Järvinen möchte ich auch mal laufen können.“ André lachte seinen Vater begeistert und mit strahlenden Augen an. „Na, dann mußt du dir zu Weihnachten wohl erst einmal ein Paar Schnelllauf-Schlittschuhe wünschen“.

      Vater Ingvar konnte der Familie nur wenig seiner Zeit opfern. Nach dem Krieg baute er seine erste eigene Firma auf. Das Leben als Bauer in Pörtom, zusammen mit der Mutter und seinen beiden Schwestern, hatte sich nicht so gestaltet, wie er sich das vorgestellt hatte. Kurzerhand verließ er mit Maria das soeben erbaute Haus in Pörtom wieder und benutzte dieses nur noch als Sommerstelle. Sie suchten sich in Vaasa eine Wohnung, und Ingvar baute auf seine Ausbildung zum Automechaniker. Er erwarb ein erstes Fahrzeug und eröffnete eine Buslinie zwischen Vaasa und Pörtom. Die eine Hälfte seines Busses war für Reisende reserviert. Die hintere, ebenfalls überdachte Hälfte war überwiegend Warentransporten vorbehalten. Ganz praktisch war, daß auch dieser Teil für Passagiere genutzt werden konnte, wenn noch genügend Platz vorhanden war. Seitlich am Bus gab es damals noch einen großen rauchenden Gasgenerator. Es wurde Holz verfeuert und das entstehende Gas als Treibstoff zum Motor geleitet. Ganz schön aufregend damals. Eine Ofenladung reichte gerade mal für eine Tour Vaasa - Pörtom, dann mußte Vater Ingvar wieder nachfeuern.

      Später fuhr er Warenlieferungen mit einem Lastwagen. Eine wichtige Linie war Vaasa – Helsinki. Dabei transportierte er Drucksachen einer Druckerei in Vaasa nach Helsinki, auf dem Rückweg bestand die Last meistens aus Früchten und anderen Lebensmitteln.

      Die Geschäfte liefen gut, und an Aufträgen mangelte es nicht. Mutter Maria unterstützte ihren Mann. Allein schaffte er es nicht, sich auch noch um die Buchführung und die Rechnungen zu kümmern. Maria war keine gelernte Buchhalterin, aber mit ein bisschen gutem Willen und Bernhards anfänglicher Unterstützung bekam sie das einigermaßen in den Griff. Wenn Ingvar dann abends von seiner langen Tour heimkam, lagen die Kinder oft schon in ihren Betten und schliefen.

      Morgens freute sich André jedesmal, wenn der Vater abends wieder mal eine ganze Stiege Apfelsinen und Äpfel mitbringen konnte. Von Pörtom bekamen sie auch immer Äpfel, aber diese Äpfel hier waren etwas ganz besonderes. Dicke, rote, blanke Äpfel, wie es sie auf dem Land selten gab.

      Für heute war Inga fertig mit ihren Hausaufgaben und klappte mit Schwung das Heft zu. „Ich bin das so leid mit diesen blöden Rechenaufgaben. Gottseidank dauert es ja nicht mehr lange, dann kann ich endlich meinen Traum erfüllen und die Ausbildung zur Kindergärtnerin machen.“ André wurde plötzlich traurig. „Ich finde das richtig gemein, daß du mich einfach im Stich läßt. Dann ist hier zu Hause ja gar nichts mehr los. An mich denkst du überhaupt nicht.“ Er wußte bereits, daß seine Schwester