Leo Brescia

Finsterlicht


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Die wenigsten Menschen interessierten sich für den Menschen. Am Eröffnungstag kam die Prominenz und ließ sich selbst mehr betrachten als selbst ein Auge auf die Exponate zu werfen. Andere kamen nur, um ihren Drang nach Skurrilitäten zu befriedigen. Aber so war das eben. Karen hatte an diesem Tag nichts gegen die Banausenhaftigkeit der Menschen. Das verschaffte ihr nämlich eine verbilligte Eintrittskarte.

      Gemütlich schlenderte sie von Exponat zu Exponat und begutachtete verschiedene Sandmumien, Werkzeuge und die Kleidung der Menschen aus fernen Epochen. In einem kleinen Raum am Ende der Ausstellung fand sie ein ganz besonderes Stück.

      „Was für ein Gefühl muss das sein, am Anfang der Zeit zu stehen“, hauchte sie, als sie vor dem ältesten Ausstellungsobjekt stand und es mit dem Auge eines Kenners begutachtete. Es handelte sich um den Teil einer Schädeldecke, die von einem Vorfahren des Menschen stammte, der unvorstellbar viele Jahrtausende in der Vergangenheit gelebt hatte.

      Wie aus dem Nichts wurde sie plötzlich von starken Armen gepackt und zu Boden gerissen. Sie schrie auf, wusste nicht, was los war. Ungewissheit und die Angst um ihr Ungeborenes fluteten ihren Körper.

      Zwei Männer in schwarzer Kleidung fixierten ihre Arme am Boden. Sie hatten sich schwarze Skimasken ins Gesicht gezogen, bei denen nur Löcher für die Augen ausgeschnitten waren. Karen hatte furchtbare Angst.

      Ein dritter Mann kam in ihr Blickfeld, genauso gekleidet und vermummt wie seine beiden Begleiter. Er stellte gerade eine alte lederne Arttasche neben ihr auf den Boden. Sein hektisches Auftreten stand in bemerkenswertem Gegensatz zu seinen routinierten und ruhigen Handgriffen. Er öffnete die Tasche und zog ein Skalpell hervor. Karens Augen weiteten sich vor Schreck. Nachdem sie den ersten Schrecken überwunden hatte, strampelte sie mit den Beinen und versuchte alles, um sich loszureißen. Es gelang ihr nicht. Niemand sonst war zu sehen. Niemand kam, von ihren Schreien alarmiert, um ihr zur Hilfe zu eilen.

      Der Mann mit dem Skalpell kniete sich neben sie, außerhalb der Reichweite ihrer schlagenden Beine, die kein Opfer finden konnten. Karen war hilflos und konnte nichts tun. Die festen Griffe um ihre Arme sperrten ihr das Blut ab, langsam wurden ihre Finger taub. Sie wusste nicht, was mit ihr geschah.

      Der dritte Mann schob ihr Kleid hoch und fuhr einmal prüfend über ihren Bauch. Dann stieß er das Skalpell hinein.

      Pauly hatte heue früher Schluss gemacht und die Tankstelle einem seiner Angestellten überlassen. Er wollte den Rat seiner Frau beherzigen und nicht mehr so viel Zeit in der Arbeit verbringen. Pauly wollte für seine Familie da sein.

      Er war auf dem Weg zum Museum und wollte Karen dort überraschen. Pauly wusste aus den Gesprächen seiner Kunden, dass die Ausstellung nicht sehr gut besucht war. Trotzdem wollte er sie sich anschauen, seiner Frau zu Liebe. Die Freude in ihrem Gesicht war ihm versüßter Feierabend genug.

      Gäbe es keine Karens auf der Welt, dachte Pauly belustigt, würde es solche Ausstellungen gar nicht geben. Nicht nur, weil sie wegen Publikumsmangel zu unrentabel wären, sondern auch, weil dann keiner die eigenartig anmutenden Gegenstände zusammengetragen hätte. Was würde die Welt von sich selbst wissen, wenn es keinen gibt, der sie untersucht?

      Als er die Straße entlang schlenderte, gab es plötzlich einen dumpfen Knall und eine Erschütterung, die durch Mark und Bein ging. Irgendetwas war explodiert. Trotz der Beunruhigung, die er verspürte, setzte er seinen Weg fort. Kurze Zeit später schossen Polizeiwagen mit Blaulicht und Sirene mit unglaublicher Geschwindigkeit an ihm vorbei. Die Beunruhigung wuchs. Er beschleunigte seine Schritte, um schneller bei Karen zu sein.

      Als er am Museum anlangte, sah er, dass genau hier das Zentrum der Explosion gewesen war. Das Stockwerk über dem Eingangsbereich war nahezu komplett weggesprengt worden. Große Gebäudetrümmer lagen auf dem Gehsteig und auf der Straße. Dicker Rauch zog durch die Häuserschluchten, ließ Teile der Straße und die geparkten Autos ergrauen. Zahllose Schaulustige hatten sich am Fuß der Museumstreppe versammelt und starrten erschrocken und hilflos zu den rauchenden Ruinen empor.

      Die Polizei hatte den Bereich um die Treppe bereits mit gelbem Band abgesperrt. Pauly schluckte schwer, gab alles, um seine dunklen Vorahnungen noch einen Moment beiseite zu schieben und trat auf einen der Polizisten zu, um zu fragen, was denn geschehen sei.

      „Irgendwelche Verrückten haben da drinnen eine Schwangere überfallen und ihr das Kind aus dem Leib geschnitten“, war die Antwort des blassen Polizisten, der immer wieder den Kopf schüttelte. Pauly konnte im ersten Moment nichts sagen, starrte den Polizisten nur geschockt an. „Die gehören zu irgendeiner komischen Sekte, keine Ahnung. Wollten ein Ritual ausführen. Die ganze scheiß Welt wird langsam verrückt. Wir haben sie aber zum Glück geschnappt.“

      „Was ist mit der Frau?“, wollte Pauly wissen. Sein Mund war trocken, fühlte sich wie ausgedorrt an. Alle Farbe war aus seinem Gesicht gewichen. Ihm war schwindelig. Seine Beine drohten, nachzugeben.

      Der Polizist schüttelte den Kopf. „Wissen wir nicht. Diese Bastarde haben eine Bombe im obersten Stock gezündet, um die Einsatzkräfte abzulenken. Hat ihnen aber nichts genutzt. Angeblich gibt es noch eine Zweite, die ist aber nicht hoch gegangen. Bevor keine Spezialisten hier waren, darf keiner das Museum betreten. Wer weiß, wie es da drinnen aussieht.“

      Pauly wusste mit vernichtender Gewissheit, dass nicht irgendeine Frau im Gebäude gefangen war. Es handelte sich um Karen, seine Ehefrau, er spürte es. Als hätte jemand einen Schalter umgelegt, fiel der Schockzustand von Pauly ab und er fühlte sich von purer Energie durchflutet. Blitzschnell tauchte er unter dem Absperrband durch, entkam den reflexartig zupackenden Händen des Polizisten und lief die weißen Stufen hinauf. Er musste dort hinein, er konnte nicht anders. Die Angst um seine Frau trieb ihn an.

      Pauly rannte durch das beschädigte Tor, an der verwaisten Kartenverkaufsstelle vorbei und schrie immer wieder Karens Namen. Auch im Inneren des Museums hatten sich kleinere und größere Brocken von der Decke gelöst und waren mit unglaublicher Wucht in den Boden eingeschlagen. Beißender Qualm zog durch die Gänge, die Pauly entlang rannte. In jeden Raum warf er einen Blick, so lange, bis er Karen ganz am Ende der Ausstellung fand. Ein leises Stöhnen gab ihm den letzten Hinweis, ehe er noch einen Blick hineingeworfen hatte. Als er sie sah, blieb sein Herz beinahe stehen.

      Karen lag dort, zitterte, stöhnte, ihr Arme und Beine bewegten sich in purer Agonie aber schwach hin und her. Ihr Oberkörper und ihre Beine waren gebadet in Blut.

      „Karen!“, stieß er entsetzt hervor und ließ sich neben ihr nieder. Ihr Bauch war eine einzige Wunde; jemand hatte Paulys und Karens ungeborenes Kind herausgeschnitten.

      „Pauly“, flüsterte die leichenblasse Karen mit vor Angst und Schmerz erstickter Stimme. Ihre Augen waren weit aufgerissen, ihr Gesicht verzerrt.

      Im selben Moment gab es einen ohrenbetäubenden Knall, das Gebäude bebte und erzitterte wie unter einem mächtigen Hammerschlag. Eine unvorstellbare Druckwelle rollte über sie hinweg und versetzte die Knochen in Paulys Innerem in Schwingung.

      Ohne nachzudenken schob Pauly seine Arme unter Karens Oberkörper und ihre Beine. Die Angst und das Adrenalin verliehen ihm ungeahnte Kräfte, er hob seine Frau auf, als wäre sie leicht wie eine Feder. Noch immer floss das Blut in wahren Sturzbächen aus ihrem offenen Bauch. Wankend lief er mit seiner geliebten Last durch das zerstörte Museum, sprintete an der verwaisten Kartenverkaufsstelle vorbei und durch das Tor ins Freie.

      „Hilfe!“, schrie er verzweifelt. „Meine Frau braucht Hilfe!“

      Die dunkle Burg

      Die dunkle Burg thronte wie ein Nachtschatten mit drei Türmen auf dem hoch aufragenden Fels. Aus dem dichten Nadelwald ringsum erhob sie sich, war ein Zeugnis vergangener Zeiten und verblasster Größe. Die Sonne schien durch einen seltsamen Dunst hindurch und tauchte den gesamten Himmel in ein unheimliches Rot.

      Der Bus quälte sich die kurvenreiche Straße hoch, schrammte oft nur haarscharf an Abgründen vorbei und erreichte schließlich doch den Parkplatz vor dem Haupttor der Burg. Die Schülergruppe stieg aus und sammelte sich um ihre Lehrerin. Die Fahrt hatte lange gedauert, der Abend war nicht mehr