Leo Brescia

Finsterlicht


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Tanja hatte im Bus geschlafen und Martin grinste breit, als er ihre zerdrückte Frisur sah. Sie schlug ihn zur Vergeltung mit der Faust, woraufhin sie beide lachten.

      Die Lehrerin zählte ihre Schüler durch und war zufrieden, weil noch alle da waren. Sie hob die Arme und schlagartig senkte sich der Lärmpegel, der bei einer Gruppe Jugendlicher unweigerlich hoch war.

      „Kinder, wie ihr wisst, haben wir diese Reise schon lange geplant“, rief ihnen ihre Lehrerin ins Gedächtnis. „Zu unserem Glück findet diese Woche der alljährliche Jahrmarkt innerhalb dieser geschichtsträchtigen Mauern statt. Darum freut es mich außerordentlich, endlich hier zu sein. Die Führung durch die Burg beginnt in wenigen Minuten. Benehmt euch und bleibt zusammen.“

      Die Schüler murmelten ihre Zustimmung und warteten auf ihre Führerin. Als die junge Frau auftauchte, zählte die Lehrerin noch einmal zur Sicherheit durch, dann setzten sie sich in Bewegung und schlenderten durch den weitläufigen Burghof. An jeder Ecke hatten sich Souvenirstände festgesetzt, die alles Mögliche anboten. Kostümierte Männer und Frauen ließen eine alte Epoche wieder aufleben, Gaukler jonglierten und spielten mit Feuer. Es sah aus wie auf einem Mittelalterfest.

      Die Führerin zeigte ihnen wirklich jeden Winkel der Burg, erzählte etwas zur Geschichte und über die verschiedenen Besitzer. Martin und Tanja bekamen davon nicht allzu viel mit, sie beschäftigten sich lieber mit sich selbst. Am Ende der ausgedehnten Tour wurden sie in den höchsten der drei Türme geführt, dort warteten Erfrischungsgetränke auf die müden Schüler, die so lange so brav ausgehalten hatten. Zwei verglaste Bogenfenster zeigten einen Ausschnitt des roten Himmels. Niemand kümmerte sich um die seltsame Himmelsfarbe.

      Martin schnappte sich sofort einen der Becher, die auf dem Tisch standen, zögerte aber, ihn zum Mund zu führen. Misstrauisch beäugte er die grünliche Flüssigkeit darin.

      „Was hast du?“, fragte Tanja. Alle anderen ließen das Getränk genüsslich ihre Kehlen hinabrinnen, ohne es einer genauen Musterung zu unterziehen.

      Versuchsweise roch Martin an dem scharfen Getränk. Dann zuckte er mit den Schultern und nahm einen tiefen Schluck. „Sieht etwas komisch aus“, erklärte er seiner Freundin. „Kann man aber trinken.“

      Tanja probierte vorsichtshalber nur einen kleinen Schluck. Als sie zum selben Urteil wie Martin kam, trank sie den Rest hastig aus. Sie alle hatten wahnsinnigen Durst.

      Die junge Führerin war sichtlich erfreut, dass die Becher geleert wurden. „Was ihr da gerade getrunken habt, das war ein Zaubertrank“, sagte sie mit verschwörerischer Mine. Einige Schüler lachten verächtlich über den durchschaubaren Versuch der Erwachsenen, ihnen ein Märchen aufzutischen. Die glaubten wohl, sie waren noch Kinder!

      Das Lächeln der Führerin wuchs aber nur noch in die Breite. Die vermeintlich durchschaute Führerin hatte offenbar noch einen Trumpf im Ärmel. „Es wird sich zeigen, bei wem er seine Wirkung entfaltet. Nicht alles wirkt bei allen gleich, müsst ihr wissen. Die, die darauf reagieren, werden erweckt. Ihnen werden die Augen geöffnet für die wahre Welt.“

      Martin schüttelte den Kopf. Leise sagte er zu Tanja: „Die spinnt doch.“

      „Ich weiß nicht“, antwortete seine Freundin mit schwerer Zunge. Sie griff sich an den Kopf und schluckte schwer. Sie wirkte blass.

      Martin wollte ihr den Arm um die Schulter legen und fragen, was denn los sei. Da bemerkte er plötzlich selbst die bleierne Schwere, die sich unaufhaltsam und rasend schnell in seinem Körper ausbreitete. Er blinzelte, atmete tief ein, schüttelte den Kopf, um die schwarzen Sterne vor seinen Augen wegzuwischen. Es gelang nicht. Alles begann sich um ihn zu drehen, dann knallte er schwer auf den Boden. Er hatte nicht einmal bemerkt, dass seine Beine nachgegeben hatten. Irgendeiner seiner Kameraden machte noch die scherzhafte Bemerkung: „Die beiden gehören dann wohl nicht zu den Erweckten.“ Dann wurde alles um Martin schwarz.

      Martin schlug die Augen auf. Noch immer drehte sich alles, trotzdem erkannte er seine Umgebung wieder und erinnerte sich im selben Moment an das, was geschehen war. Ruckartig setzte er sich auf, ignorierte das Hämmern in seinem Schädel und sah sich um. Tanja lag direkt neben ihm. Sie waren alleine in dem Turmzimmer. Als er aus dem Fenster sah, bemerkte er zu seinem Schreck, dass der Tag schon weit fortgeschritten war; erstes Dunkel mischte sich in den roten Himmel.

      Schnell kroch er zu seiner Freundin hinüber. Auch sie kam gerade wieder zu sich.

      „Martin?“, fragte sie verschlafen, als sie ihn erkannte. „Was ist passiert?“

      „Keine Ahnung“, antwortete Martin wahrheitsgemäß.

      Tanja stand wackelig auf und stützte sich dabei auf Martin ab. Dann erhob auch er sich.

      „Du hast zu mir gesagt, dass die Führerin spinnt. Danach weiß ich nichts mehr.“ Tanja sah sich aufmerksam im Raum um. „Wo sind die anderen?“

      Martin zuckte hilflos die Schultern. „Es hat irgendwas mit diesem Zaubertrank zu tun. Ich wusste, etwas daran ist seltsam.“

      „Und trotzdem hast du ihn getrunken.“

      „Ja, ja“, machte Martin. „Ist jetzt egal. Wir sollten hier raus. Die anderen suchen.“ Er stellte absichtlich nicht die offensichtliche Frage, warum man sie hier so lange alleine gelassen hatte. Sein Herz klopfte schneller, er hatte Angst.

      Tanja deutete auf etwas am Boden. „Sieh mal. Was ist das? Das war vorhin noch nicht hier.“

      Martin folgte Tanjas ausgestrecktem Zeigefinger und sah zwei dreieckige Glasscheiben, die durch drei Metallstäbe miteinander verbunden waren. Es sah nicht aus wie etwas, das in eine Burg gehörte. Es sah nicht einmal nach etwas aus, das irgendwohin gehörte.

      Neugierig ging Martin hinüber und hob das seltsame Gebilde auf. „Muss wohl eine Art moderne Kunst sein“, vermutete er. Obwohl er selbst nicht daran glaubte.

      Er schwenkte das Glas und wollte es ins schwächer werdende Licht halten, das noch durch die Fenstern fiel. Dabei erschrak er so sehr, dass er aufschrie und das Glas fast hätte fallen lassen.

      „Was hast du?“, fragte Tanja alarmiert.

      Martin schluckte schwer und sah sich verschreckt im ganzen Raum um, als ob er gleich ein Unheil erwartete. Er traute seinen eigenen Augen nicht mehr.

      Tanja kam auf ihn zu und berührte ihn an der Schulter. Martin rang sichtlich nach Worten. „Ich… es… durch das Glas habe ich etwas gesehen, das nicht da ist“, stammelte er.

      Tanja runzelte die Stirn und nahm ihm das Ding aus der Hand. Sie schwenkte es ebenfalls durch den Raum und erschrak nur deshalb nicht bis ins Mark, weil Martins Worte sie vorgewarnt hatten. Durch das Glas sah sie das Burgzimmer, wie es vor Jahrhunderten ausgesehen haben musste! Edle Wandteppiche hingen an der Wand, uralte Möbel und allerhand Unbekanntes standen herum. Als sie das Glas mit zittrigen Händen zur Tür schwenkte, sprang diese plötzlich auf und ein schwer gerüsteter Ritter stürmte in den Raum. Er hob das wuchtige Schwert und ließ es auf Tanja herabsausen. Mit einem Schrei ließ sie das Glasgebilde fallen und hob die Hände im Reflex schützend vors Gesicht. Sie brauchte einen Moment, bis sie sich wieder unter Kontrolle hatte.

      Schwer atmend sah sie abwechselnd zur noch immer geschlossenen Tür und dann zu den Scherben auf dem Boden. Kein Ritter war gekommen, um sie zu töten.

      „Was hast du gesehen?“, fragte Martin vorsichtig.

      Tanja schüttelte nur den Kopf. „Raus hier“, hauchte sie. Das ließ sich Martin nicht zweimal sagen. Er nahm seine Freundin an der Hand und öffnete die Tür. Er spürte, wie sich Tanja innerlich spannte, aber durch sanften Händedruck gab er ihr zu verstehen, dass er für sie da war.

      Sie schlichen langsam den steinernen Gang entlang und warfen immer wieder einen neugierigen Blick aus den Fenstern, wenn sie an einem vorbeikamen. Irgendetwas ging im Burghof vor, aber sie konnten nicht genau erkennen, was es war. Eine große Menschenmenge hatte sich dort unten vor dem Tor versammelt. Dafür trafen Martin und Tanja auf keinen anderen Menschen im Inneren der verwaisten Burg.

      Als die beiden schließlich den