Alan Lee Hemmswood

Gnadenwolf


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allerdings seiner aufsteigenden Angst nicht abträglich war.

      „Die Tote konnte bisher nicht einmal identifiziert werden, hatte keinen Ausweis bei sich. Und wird anscheinend auch nicht vermisst, wir haben’s mit den bekannten Vermisstenmeldungen abgeglichen. Nicht selten bei Junkies. Die anderen Halbtoten im Park haben ausgesagt, dass sie “Ratte“ genannt wurde. Hatte wohl immer so einen verlausten Nager dabei. Und sie lebte auf der Straße. Wer soll sie also auch schon vermissen?“.

      Erst jetzt fiel Liebig auf, dass er die ganze Zeit den Mund geöffnet hatte.

      „Wirklich alles in Ordnung?“.

      „Jaja doch. Mach dir mal keine Sorgen. Oder sollte ich sagen, Hoffnung? Auf ein alleiniges Büro vielleicht?“.

      „Das wäre schon was Feines“, lachte Olson.

      „Da musst du dich aber nicht etwas gedulden. Wie geht’s eigentlich dem Chef?“.

      „Ach, knurrig wie eh und je. Aber in letzter Zeit war hier nicht viel los, das hat ihn ein bisschen sanftmütig gestimmt. Wollen wir mal hoffen, dass es auch dabei bleibt … und diese wirre Bluttat das Werk eines kleinen Psychos ist, dem nur einmal kurzzeitig die Sicherungen durchgebrannt sind“.

      „Das hoffe ich auch“.

      „Na dann kann ja nichts mehr schiefgehen. Du, ich muss jetzt weiter machen. Während du zu Hause krankspielst, muss ich hier deine ganze Arbeit übernehmen, also sieh zu, dass du hier bald wieder auftauchst!“.

      „Eher als dir lieb ist!“.

      Liebig verließ das Büro und ging den umgekehrten Weg zurück in die Kälte. Er brauchte jetzt erst einmal Zeit zum Nachdenken. Zeit für sich. Wenn Nils nur wüsste, welch gewaltiger Sturm in mir tobt.

      Nachdem er zwanzig Minuten gegangen war, kam er in den Park, in dem in der Nacht die Leiche der jungen Frau gefunden wurde. Vor ihm tat sich eine riesige, weiße Fläche auf, deren elliptische Form an den Seiten von kahlen Bäumen gesäumt wurde. Der junge Polizist, der am Eingang postiert war, ließ Liebig nervös passieren. Liebig sah es schon von hier. In einiger Entfernung wogte das polizeiliche Flatterband sanft in der Luft. Dahinter arbeiteten immer noch die Männer von der Spurensicherung. Er presste die Luft aus seinen Lungen und ging durch den plattgetretenen Schnee hinüber. An der Stelle angelangt, stellte er sich vor die Absperrung, vergrub seine Hände in den Jackentaschen und sah in den Schnee vor der Parkbank herab. Die Blutspritzer waren immer noch zu sehen. Er spielte in Gedanken durch, was hier gestern Nacht abgelaufen war, stellte sich vor, wie der Mann mit der Maske hinter einem der Bäume aus dem Schatten hervortritt, sich von hinten heranschleicht, seinem Opfer die Kehle durchschneidet, seine Finger in der Blutlache tränkt und in aller Ruhe die Zeilen schreibt. Immer und immer wieder spielte er den Vorgang in seinem Kopf durch, manchmal sah er sich selbst in seinen Gedanken auf der Bank sitzen.

      Liebig beobachtete die Spurensicherung noch eine Zeitlang bei ihrer Arbeit, bis die Dämmerung einsetzte. Er ging den Weg aus plattgetretenem Schnee wieder zurück und machte sich auf den Heimweg. Als er den Park verließ, hörte er die mahnenden Worte der Kirchenglocken.

      Kapitel 4

       Tempus fugit-

      Er weiß nicht, dass ich ihn beobachte. Das wissen sie nie. Die Menschen vermögen selten das Offensichtliche zu erkennen. Ich muss diesen Ignoranten zu Gute halten, dass ich viele Gesichter habe. Der Mensch lässt sich zu gerne von Ablenkung und Verkleidung in die Irre führen.

       Wenn ich sie verfolge, verleiht es mir das erregende Gefühl von Macht. Aber … ich sehe mich nicht als Voyeur. Ich bin viel mehr als das. Ich bin der Engel, der auf sie niederfährt. Ich nehme mich ihrer an. Ein Schelm, der mich für einen bösen Menschen hält.

       Ich kann den Dampf seines Kaffees sehen. Ich kann den Geruch seines Kaffees riechen, das Knittern seiner Zeitung hören. Ich stelle mir sogar vor seine Gedanken lesen zu können. Er sieht nicht mehr aus wie an dem Tage, an dem er sich an mich wandte. Aber das stört mich nicht. Ich bin eine bescheidene Persönlichkeit. Seine Uhr tickt. Seine Zeit läuft ab. Es ist nunmehr fast ein Jahr her, seitdem sein Gesuch mich ereilte. Besser gesagt: Seitdem ich ihn dazu brachte ein Gesuch an mich zu richten. Aber auch sonst lehne ich selten ein Gesuch ab. Ich bin ein guter Mensch. Ein guter Mensch, der anderen hilft. Ich erfülle pflichtbewusst meinen Dienst an der missratenen, von Derbheit durchzogenen Menschheit. Und verlange dafür allzu wenig. Doch er ist mehr als jeder andere zuvor, er ist so viel mehr …

       Er richtet sich auf, dreht sich um und blickt mir direkt in die Augen. Dies sind die Momente, die mir Erfüllung schenken. Die Möglichkeit bei meinem Treiben entdeckt zu werden, gibt mir ein unerreichbares Hochgefühl. Aber ich weiß, er wird mich nicht erkennen. Auf seinem Gesicht zeichnen sich die markanten Wangenknochen ab. Er hat viel Gewicht verloren. Seine Augen scheinen trüb. Doch eines passt nicht ins Bild: Seine aufrechte Körperhaltung. Menschen, die von mir erlöst werden wollen, haben für gewöhnlich ein eingefallenes Rückgrat. Nicht so dieser. Er verlässt das Café und ich folge ihm noch ein paar Schritte durch die beißende Kälte. Ich gehe nur ein paar Meter hinter ihm. Ich weiß, wo er wohnt, wie oft er seine Wohnung verlässt, wohin er geht. Ich kenne ihn. Aber für nun verliert er seinen Schatten. Ich habe anderes zu tun, bin ein geschäftiger Mann. Aber er wird nicht lange auf meine Gesellschaft verzichten müssen.

       Tick tack, Objekt meiner tiefsten Begierde. Die Zeit fliegt. Und deine ist bald zu Ende.

      Kapitel 5

      Das schrille Läuten des Weckers riss Liebig aus dem Schlaf. Er hatte heute Nacht wieder von ihm geträumt, von seinen starren, ausdruckslosen Augen. Von seinem mit einer grotesk anmutenden Maske verdeckten Kopf. Sein Körper war von einer schwarzen Kutte umhüllt, die an den Armen großzügig ausgeschnitten war. Die Kapuze verdeckte seinen Hinterkopf. Ein Rabe. Mit der schnabelartigen Maske und der weiten Kutte sah er aus wie ein übergroßer Vogel mit mächtigen Schwingen, den es nach Aas dürstet.

      Sein perfides Vorhaben hielt er in Schrift fest. Er hatte an alles gedacht, es schien routiniert. Ein Ledersäcken, das zuvor noch mit einer Kordel umschlossen war, legte er der Länge nach aus. Zum Vorschein kamen ein antiquiert anmutendes Pergament, eine weiße Feder und ein Behälter mit pechschwarzer Tinte. Er öffnete das Behältnis, senkte den Federkiel in die Tinte, hob die Feder mit großer Geste über das Pergament und zeichnete geschwungene Lettern auf das trockene, nach Feuchtigkeit lechzende Pergament. Es schien seine persönliche Liturgie zu sein, ein Zelebrieren, ein festlicher Akt. Das einzige, was noch gefehlt hätte, wäre gewesen, dass ich mit meinem eigenen Blut unterschreiben muss.

      Mittlerweile hatte er sich aus seinem Bett aufgerafft und stand bei einem heißen Kräuertee in seiner kleinen Küche. Aus dem Radio schallte “Highway to hell“ von ACDC. „Hey Satan, pay‘ my dues“. Liebig zog selbstironisch die Augenbrauen hoch. Tja, meine Schulden werde ich schon bald beim Teufel höchstpersönlich begleichen müssen. So oder so.

      Sein Blick blieb auf einem Bild hängen, das eingerahmt die Fensterbank zierte. Eine glücklich aussehende Frau schaute ihm verträumt in die Augen, neben sich ihr Ebenbild stehend, nur dreißig Jahre jünger. Damals hatte ich sogar noch Haare auf dem Kopf. Lang ist's her. Doch bevor seine Gedanken in die Vergangenheit gezogen wurden, ließ ihn die schrille Stimme der Radiomoderatorin aufhorchen.

      „Erneut ein makabrer Fund: Auf einer Toilette am örtlichen Flughafen wurde heute Nacht eine männliche Leiche gefunden“ tönte sie. Mit wenigen, kryptischen Worten schilderte der Wachmann, der die Leiche am frühen Morgen entdeckte hatte, noch seinen grausigen Fund. Die sich überschlagende Stimme berichtete, die zuständigen Polizeibeamten hätten ihn angewiesen, aus ermittlungstaktischen Gründen keine Details zu nennen.

      Kalter Schweiß legte sich auf Liebigs Stirn, obwohl die Raumtemperatur keinen Grad höher wurde. Lange Zeit nichts Auffälliges und dann zwei Morde in wenigen Stunden ... und obendrein